LENOS
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LP 205
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Ella Maillart
Verbotene Reise
Von Peking nach Kaschmir
Aus dem Französischen
von Hans Reisiger
Mit einem Vorwort
von Nicolas Bouvier
Lenos Verlag
Titel der französischen Originalausgabe:
Oasis interdites. De Pékin au Cachemire
Die französische Originalausgabe erschien 1937,
die deutsche Erstausgabe 1938.
LP 205
Dritte, durchgesehene Auflage 2019
Copyright © der deutschen Übersetzung
2003 by Lenos Verlag, Basel
Copyright © der Fotos: Fonds photographique Ella Maillart,
Musée de l’Elysée, Lausanne
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: Schnee und Hagel im Tal des Boron Kol.
Fonds photographique Ella Maillart, Musée de l’Elysée, Lausanne
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 805 3
Die Autorin
Ella Maillart (1903–1997) wuchs in Genf auf und war in vielerlei Hinsicht eine
Wegbereiterin. Die hervorragende Sportlerin vertrat 1924 die Schweiz an den
Olympischen Spielen in Paris im Einhandsegeln. Von 1930 bis ins hohe Alter
unternahm sie zahlreiche Reisen, u.a. in die Sowjetunion, nach Afghanistan,
China, Tibet, Indien und Nepal. Sie schrieb, fotografierte und hielt Vorträge
über ihre Expeditionen. Mit ihren Werken Verbotene Reise und Turkestan Solo er
-
langte sie internationale Anerkennung als Asienkennerin, Reiseschriftstellerin
und Fotografin.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt r Kultur mit einem Strukturbeitrag
r die Jahre 20162020 unterstützt.
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Ella Maillart und Zentralchina
Von Nicolas Bouvier
Wie hätten wir uns jemals anmassen können, ein literarisches
Werk zu schreiben; wir haben lediglich versucht, mit schlichten
Worten von unseren langen und beschwerlichen Wanderungen in
Innerasien zu berichten.
Pater R. E. Huc
Pater Huc, der ein Jahrhundert vor Ella Maillart, und oft
die gleichen Pisten entlang, die besten Jahre seines Lebens
den Zentralprovinzen Chinas gewidmet hat, stellt hier sein
Licht unter den Scheffel: Er war viel zu klug, um nicht zu
wissen, dass die Meisterwerke der Reiseliteratur genau so ge
-
schrieben werden. Verbotene Reise gehört für mich zu diesen
Meisterwerken. Die packende Frische der Wahrnehmung,
eine äusserst präzise Sprache, ja eine Reisephilosophie, die
der Autorin erlaubt, ihr Abenteuer zu erleben, ohne es ge
-
zielt zu steuern, ersetzen die »Anmassung, ein literarisches
Werk« schreiben zu wollen, und bestätigen meine Ansicht,
dass es oft von grösserem Nutzen ist, die cher schreiben
-
der Reisender zu lesen als die reisender Schriftsteller. Die
wahre »Kenntnis des Ostens« findet sich nicht immer dort,
wo man sie zu finden glaubt, und wenn es darum geht, ein
Stück weit durch Asien zu reisen, ziehe ich bei weitem die
Gesellschaft Ella Maillarts der Paul Claudels vor.
Vor allem, wenn es um die Reise geht, die uns hier ge-
boten wird!
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Im Februar 1935 verlässt die Autorin Peking in Rich-
tung Zentralchina, zusammen mit ihrem Reisegefährten
Peter Fleming, Korrespondent der Times, mit dem sie kurz
zuvor Mandschukuo bereist hat. Fleming ist ein ausge-
zeichneter Schütze und ein geistreicher Mann, er spricht
etwas Chinesisch und beherrscht die schwierige Kunst, mit
unerbittlichen Provinzbeamten umzugehen. Ella Maillart
kennt das Karawanenleben, denn sie hat es bereits im so-
wjetischen Turkestan erprobt, sie spricht ziemlich gut
Russisch und versteht es, auf einem Gesträuchfeuer was
r ein Feder- oder Haarwild auch immer zuzubereiten.
Beide sind starke Charaktere, gewohnt, sich allein durch-
zuschlagen, beide lehnen sich dann und wann gegen die
Abhängigkeit voneinander auf, doch zu zweit lässt sich ihr
gemeinsames Vorhaben eher erfolgreich verwirklichen.
Es handelt sich darum, China von Osten nach Westen
zu durchqueren, bis zu den »verbotenen« Oasen Sin kiangs,
seit tausend Jahren Wiege einer alten Kultur iranischen
Ursprungs, und von da aus auf den Saumtierpässen des
Pamir und des Karakorum nach Kaschmir auf der an-
deren Seite des nordwestlichen Himalaja zu gelangen.
Verbotenerweise, denn in Chinesisch-Turkestan, dessen
Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist, herrschen Un-
ruhen. Drei oder vier Parteien bekämpfen sich, von der
UdSSR, England und sogar von Japan unterstützt. Die
chinesische Kuomintang wiederum bekämpft sowohl die
einen als auch die anderen, doch etliche ihrer Generäle,
die sich zu »Warlords« ernannt haben, operieren auf eigene
Rechnung und erpressen ihre Bürger. Kurzlebige Repu-
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bliken drucken ihre eigene Währung auf Maulbeerrinde.
Die Lage ändert sich von Tag zu Tag, Falschmeldungen
zirkulieren, und die Karawanenverbindungen sind wegen
der herrschenden Unsicherheit unterbrochen. Die Croisre
jaune, die Citroën-Expedition, die zwei Jahre zuvor in die-
ses Wespennest geraten ist, war drei Monate in Urumtschi
gefangen, der Hauptstadt der Provinz, heisst es in Peking,
wo man sonst aber sehr schlecht informiert ist. Die Lage
ist äusserst verworren, aber China will keine ausländischen
Augenzeugen in diesen entlegenen westlichen Territorien,
wo es nichts mehr zu befehlen hat. mtliche Reisenden
aus dem Osten werden in Urumtschi zurückgehalten.
Weiter kommt man nur mit List.
Die Autorin und ihr Reisegefährte ersuchen daher um
eine Bewilligung für die Region des Kuku Nor in Zentral-
china unter dem Vorwand, Trappen und Graugänse jagen
zu wollen. Von dort aus tauchen sie unter und reisen in
Richtung Westen, durchqueren die Steppen des Tsaidam-
beckens, den südlichen Ausläufer der Wüste Takla Makan
und gelangen längs des Tarim nach Kaschgar. Auf dieser
Route, die zwischen der rdlichen und südlichen Neben-
piste der alten Seidenstrasse hindurchführt und sie am
Fusse des Pamir erreicht, umgehen sie die Militärkontrol-
len und die Befugnisbereiche der grossen Warlords. Die
extreme Kargheit der Hochplateaus, die Härte des Kli-
mas, die Schwierigkeit, Kamele zu finden, die Räuberban-
den der Tanguten, die sich dort verstecken: diese Route ist
so gefährlich und beschwerlich, dass die Regierung nicht
auf den Gedanken gekommen ist, sie zu schliessen. Sieben
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Monate nachdem sie Peking verlassen haben, erreichen die
zwei Reisenden Indien (damals noch britisch), treffen wie-
der auf die unterwegs von unten gesehenen Himalajagip-
fel, auf das Glas in der Hand, auf die Zinkbadewanne, auf
rotgeäderte Majore und sehnen sich nach dem »grenzenlo-
sen Unbekannten, dem sie den cken gekehrt« und das
sie so lange und so intensiv erlebt haben.
Ob Historiker, Philologe, Mystiker oder Pferdedieb die
lange Durchquerung von der chinesischen Küste zum mo-
gulischen Indien ist zweifellos die schönste Reise, die man
auf diesem Planeten machen kann. Nehmt die Weltkarte,
und findet Schöneres! Vom chinesischen Gewimmel geht
man zu Einsamkeit und Stille über, von den Küstenebenen
zu so hohen Gipfeln, dass man den Pferden Blut an den
Nüstern ablassen muss, damit sie atmen können. Selbst in
den Steppen des Tsaidambeckens, wo der Mensch seltener
ist als die Antilope, ist dieses »grenzenlose Unbekannte«
nie monoton. Selbst auf einer Piste, die ausgestorben zu
sein scheint, sind vor langer, langer Zeit zu viele Menschen
vorbeigezogen und zu viele Dinge geschehen, als dass der
geübte Blick nicht eine Spur entdeckt oder eine dieser
kaum wahrnehmbaren Veränderungen – für die Ella Mail-
lart ein ganz besonderes Gespür hat , die den Übergang
vom Buddhismus zum monotheistischen Islam ankünden.
Eines Abends sehen die Reisenden von einer hohen Düne
aus im Westen ein paar mit Yakschwänzen geschmückte
Stangen, die im Wind knattern. Es ist ein muslimisches
Grab. »Wir stehen am Rande eines neuen Abschnittes
von Asien, mit neuen Sitten und neuen Rassen. Die Lei-
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chen werden hier nicht mehr den Raubvögeln überlassen,
das Mehl wird nicht in den Tee gemischt, sondern zum
Backen verwendet, und die Gebete steigen zum unsicht-
baren Allah auf, statt dass man sie vor nernen Buddhas
murmelt.« Monate später, beim nächtlichen Fest, das der
Gouverneur von Kaschgar ausrichtet, findet man sich in-
mitten einer timuridischen Miniatur. Und wenn es wirk-
lich nichts anderes mehr gibt als die Berge, die Gerippe
zurückgelassener Tiere und den Sand, erlangt der Tag um
Tag zurückgelegte Weg, die grosse Drift der Reise, seinen
eigentlichen Sinn und sondert für denjenigen, der sich ihm
überlässt, ein ganz besonderes Glücksgefühl ab.
Ich habe lange im wohltuenden Schatten dieser Lektüre
verharrt. Ich glaube, das grösste Verdienst dieses wunder-
baren Buches besteht darin, dass es überdies ein glückli-
ches Buch ist. In das Exemplar, das sie mir geschenkt hat,
hat die Autorin geschrieben: »Eine Reise, in der nichts
passiert, doch dieses Nichts wird mich mein ganzes Leben
lang erfüllen.« Auch uns erfüllt es.
Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni
Dem Andenken meines Vaters
Sikkim
Britisch-Indien
Mandschukuo
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PEKING
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Issik Pakte
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Khotan
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Khargalik
Jarkand
Jangi Hissar
Kaschgar
Tasch-
kurgan
1
2
3
Srinagar
1 Hunza
2 Nagar
3 Gilgit
A Afghanistan
Sinkiang
T akla Makan
Dsungarei
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Kuen
L
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Karakor
u
m
Pamir
Mongolei
Sowjetunion
Tibet
Nepal
Bhutan
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gar
Tschinghai
Kansu
Schensi
Honan
China
A
Unsere Route
Erster Teil
15
Peking
Januar 1935: Peking, ein Tag mit starkem Westwind, der
eine undurchsichtige gelbe Sandwand vor sich hertreibt.
Ich bin unterwegs, um Nachrichten zu sammeln, die zuerst
nicht besonders ermutigend lauten.
Im chinesischen Geologischen Institut kann der Pater
Teilhard de Chardin, der mit der Citroën-Expedition im
Jahre 1931 Asien durchquert hat, meine Befürchtungen
nur bestätigen.
Szetschuan, verstet durch den Bürgerkrieg, ist unzu-
gänglich und Chinesisch-Turkestan mehr »tabu« denn je.
Es ist unmöglich, ein Einreisevisum zu bekommen, und
würde ich mich auf der Route der Karawanen einschmug-
geln, so rde ich unweigerlich zur Küste abgeschoben
werden wie so viele andere.
Übrigens können die wenigen Euroer, die sich in
Urumtschi, der Hauptstadt der Provinz, befinden, trotz
aller Bemühungen ihrer Gesandtschaften nicht heraus;
die dortige Regierung macht sich ein boshaftes Vergnü-
gen daraus, die paar Deutschen oder Schweden, die we-
gen irgendwelcher Geschäfte dorthin gereist sind, hinter
Schloss und Riegel zu halten. Die Citroën-Expedition
selber konnte von Glück sagen, dass sie, dank prächtiger
Geschenke an den Gouverneur Tschin Shu-jen, nur drei
Monate dort festgehalten worden war.
Was Sir Aurel Stein, diesen Fürsten der Archäologie in
Zentralasien, betrifft, so war er gezwungen worden, Tur-
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kestan im Jahre 1931 zu verlassen, und er durfte nicht
dorthin zurückkehren. Sogar der berühmte Sven Hedin,
der gewandte Schwede, hatte mit den Leitern der Provinz
ein Hühnchen zu rupfen gehabt. Er war im Auftrag der
chinesischen Regierung, die Autostrassen bauen wollte,
hingefahren und hatte dank diesem Vorwand seine For-
schungen in Zentralasien fortsetzen nnen. Schliesslich
ist auch noch der Italiener Orlandini, der bereits ein Jahr
in China verbracht hat, soeben über die Grenze Sinkiangs
(chinesische Bezeichnung für Turkestan) gejagt worden;
er hat mit dem Fahrrad ein ideales Verkehrsmittel in
Zentralasien grosse Strecken zurückgelegt und erzählt
eine kuriose Geschichte, wonach man ihn in der Inneren
Mongolei, weil man ihn für einen Spion hielt, zu vergiften
versuchte.
Ein junger Deutscher, ein Strassenbaumeister, ist eben-
falls kürzlich in Peking angekommen. Mit Gewaltmär-
schen und auf Umwegen, nach mehreren missglückten
Versuchen, ist er aus Urumtschi entronnen, verweigert
aber jede Auskunft, solange es seinen zwei Landsleuten
nicht gegckt ist, aus diesem Gefängnis auszubrechen.
Und seit ziemlich langer Zeit ist man ohne Nachrichten
von dem jungen Hanneken, der wahrscheinlich während
seiner Expedition im Süden von Hami in Sinkiang getötet
worden ist.
Warum umgab eine solche »chinesische Mauer« diese
Provinz? Ich erfuhr, dass es sich wieder einmal um eine
Prestigefrage handelte. Die Staatslenker von Nanking hal-
ten daran fest, dass Sinkiang (der Name bedeutet »neue
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Grenze«) ihrer Regierung untersteht, und legen keinen
Wert darauf, dass jemand an Ort und Stelle die Nichtig-
keit ihrer Macht am eigenen Leibe erfährt. Da sie ande-
rerseits die Verantwortung für die in jenen fernen Regio-
nen jederzeit glichen Entführungen oder Ermordungen
scheuen, verbieten sie lieber den Ausländern ganz das
Reisen in den inneren Provinzen. Und dem Gouverneur
von Sinkiang seinerseits liegt auch nichts daran, sich in die
Methoden hineinschauen zu lassen, nach denen er eine chi-
nesische Provinz regiert, ohne sich um die Verordnungen
der Hauptstadt zu mmern Es liegt nicht so sehr an
den eigentlichen Reiseschwierigkeiten, sondern vielmehr
an der Politik der Männer, dass diese Gebiete so unzu-
gänglich sind.
Endergebnis: Niemand weiss, was seit vier Jahren in
Sinkiang vorgeht, dieser riesigen Provinz, die an Tibet,
an Indien, an Afghanistan, an die UdSSR grenzt und wo
die Interessen dieser Länder in geheimem und ständigem
Kampf miteinander liegen.
Immer mehr drängte sich mir der Wunsch nach einer
Expedition in dieses Gebiet auf, und allmählich wurde
mir auch klar, nach welchen Grundsätzen sie zu verwirk-
lichen sei.
Man musste vor allem die bekannten Wege meiden,
wo man ganz bestimmt abgewiesen werden würde. Man
muss te unversehens nach Sinkiang vorstossen, an einer
Stelle, wo es noch keine Verordnungen r Ausländer gab,
musste dann glichst schnell Kaschgar im Norden des
Pamir erreichen und sich dort unter den Schutz des engli-
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schen Konsuls stellen, damit man nicht, wie alle Auslän-
der, als Spion behandelt und verhaftet wurde.
Konnten die grossen, ausgedehnten Wüsten des Tsai-
dam im Norden Tibets mir nicht einen Zugang auf Um-
wegen bieten?
Neuigkeiten aus dem Tsaidam
Da machte ich die Bekanntschaft eines jungen Geologen,
der ebenfalls am Institut arbeitete. Im Auftrag Sven Hedins
hatte Erik Norin das Tarimbecken und den Norden Tibets
mehrere Jahre lang bereist.
Er war in den südlichen Oasen Sinkiangs gewesen, als
fanatische Muslime sich erhoben, auf ihrem Zug den Hei-
ligen Krieg und den Fremdenhass predigten und jeder-
mann zwangen, sich zum Islam zu bekehren. Norin, der
notgedrungen fliehen musste, natürlich unter Vermeidung
der bekannten Wege, gelangte in 3000 Meter he auf
das riesige Tsaidamplateau. Einen Monat später erreichte
er die Stadt Sining in der Nähe des Kuku Nor, eines gros-
sen Salzsees ohne Abfluss, und damit auch die Strasse nach
China. Im Tsaidam, erzählte er, findet man jeden Abend
Wasserstellen. Für ein paar Franken kann man dort auch
Kamele mieten. Seinen Führer bezahlt man mit etlichen
Ellen Stoff oder mit Teeziegeln.
Reichlich gerechnet brauchte ich sechs Monate bis nach
Kaschgar. Der Neuschnee versperrt die Himalajapässe
erst im Oktober. Jetzt haben wir Januar. In einem Monat,
sagte ich mir sofort, muss ich schon unterwegs sein, wenn
ich nicht in der Kaschgarei überwintern will.
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Ich hatte aber erst acht Stunden Chinesischunterricht
genommen und musste befürchten, dass mir meine Un-
kenntnis der Sprache unterwegs hinderlich sein würde. Da
erzählte Erik Norin mir von einem russischen Ehepaar,
das um dieselbe Zeit wie er aus dem Tsaidam habe flie-
hen müssen. Die Smigunows, die gern zu den Mongolen,
unter denen sie gelebt hatten, zurückkehren wollten, wür-
den mir als Führer und als Dolmetscher für Chinesisch,
Mongolisch, Tibetanisch und Turkestanisch dienen Er
wollte ihnen sofort schreiben, dass sie sich mit mir in Ver-
bindung setzen sollten.
Das Schicksal, so schien es, hatte für alles vorgesorgt.
Peking, und was mich bisher interessiert hatte, rückte nun
mit einemmal in den Hintergrund meiner Gedanken. Die
einstige Hauptstadt, diese unvergleichliche Stadt, mochte
vor dem behutsam tastenden Vorrücken der Japaner zit-
tern oder es herbeisehnen – meine Freunde mochten Wun-
derdinge der Kunst, Reliquien der grossen Dynastien der
Vergangenheit entdecken, die Botschaften mochten nach
Nanking umziehen –, das ging mich nichts mehr an: alles
in mir war jetzt eingestellt auf Zentralasien.
Geheimnis um Turkestan
Obwohl Peking durch eine dreimonatige Karawanenreise
von Urumtschi getrennt ist, liefen hier doch bis vor kurzem
noch alle Berichte über Turkestan ein. Jetzt aber ist alles
verändert, die Strassen sind gesperrt, und ich bekomme nur
noch unzuverlässige und widerspruchsvolle Nachrichten zu
ren. Wer kämpft dort gegen wen? Wer ist Sieger? Wer
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schürt die Unruhen? Sind es die Chinesen oder die Sowjets,
die ihr Protektorat über diese unermesslichen Gebiete, die
China nicht zu regieren vermag, auszudehnen trachten? Sind
es die fanatischen Turkis, vielleicht in Englands Sold, oder
die Dunganen
*
, die sich unter der Führung des jungen und
gefürchteten Ma Tschung-jing empört haben? Und wohin
ist dieser verschwunden, nachdem er die Gegend verstet
hat? Und soll man wirklich glauben, dass seine Leute von
einem japanischen panislamitischen Geheimbund unter
-
stützt werden? Auf alle diese Fragen – keine Antwort. Nur
eins ist gewiss: Der Gouverneur, der die Citroën-Expedition
empfangen hat, ist gestürzt und sitzt im Gefängnis … Und
die Hauptstadt selbst wäre um ein Haar den Rebellen in die
Hände gefallen.
An der kleinen Bar des tel du Nord, wo ich über
meine Pläne nachgrübelte, lernte ich einen Schweden na-
mens Tannberg kennen, der ganz in Leder gekleidet war,
eine Pelzmütze trug und Chinesisch und Deutsch sprach.
Seine Kameraden und er verschlangen literweise Bier vor
dem Aufbruch ins Innere, wo dieses Getränk nicht zu ha-
ben ist. Von Sian ab, der Endstation der Eisenbahn, ge-
dachte Tannberg mit fünf Lastautos weiterzufahren. Stolz,
ein moderner Jason, rühmte er sich, der einzige zu sein,
dem es gelingen werde, nach voraussichtlich wochenlanger
Suche zwar nicht das Goldene Vlies, aber dafür eine wert-
volle Ladung von Därmen
**
heimzubringen, die von einer
* Chinesische Muslime.
** Grosse Mengen derart exportierter Schafsdärme dienten der Wurst
-
fabrikation.
21
amerikanischen Gesellschaft aufgekauft und dann durch
den Krieg irgendwo aufgehalten worden waren.
Tannberg sprach von den Oasen Kansus, als ob sie in-
nerhalb der Bannmeile Pekings lägen.
»Schade, dass ich grundsätzlich nie Frauen mitnehme«,
sagte er beim Abschied. »Aber Sie werden andere Wagen
finden, die Sie bis Lantschau bringen werden. Und wenn Sie
keine grauen Haare bekommen wollen, fahren Sie von Sian
ab mit Popzow und weisen chinesische Chauffeure ab
Ah, und vor allem darf Nanking nichts von Ihrem Vorha-
ben wissen, sonst wirft man Ihnen Knüppel in den Weg.«
Mein Plan klärte sich also. Ich würde mich nach Sian
begeben, wie Tannberg, und dann in den Tsaidam. Dort
würde ich, mit Hilfe der Smigunows, eine glichkeit
ausfindig machen, nach Kaschgar zu gelangen.
Ich teilte das, was ich erfahren hatte, Peter Fleming
mit, einem jungen Schriftsteller, den die Times sich für ein
Bombenhonorar gesichert hatte, um die Zustände in Man-
dschukuo zu erkunden. Fleming war ein grosser Reisen-
der; er hatte schon Brasilien unter den ungewöhnlichsten
Umständen durchquert und vor zwei Jahren Südchina auf
den Spuren der Kommunisten durchpirscht.
Er hatte ursprünglich von Peking durch die Mongo-
lei und über Urumtschi nach Europa zurückkehren wol-
len, zum Teil angeregt durch das vortreffliche Buch von
Owen Lattimore
*
, dem letzten Ausländer, dem es im Jahre
1927 geglückt war, von China bis nach Indien zu gelan-
gen. Nach einem Besuch in Shanghai und Tokio in Pe-
* The Desert Road to Turkestan.
22
king angekommen, hatte Fleming jedoch bald eingesehen,
dass sein Reiseplan unausführbar war. Als er mich jetzt
vom Tsaidam und von den Smigunows reden hörte, sagte
er kaltblütig:
»Ja, auf diesem Weg reise ich nach Europa
zurück. Wenn Sie wollen, können Sie ja mitkommen …«
»Entschuldigen Sie«, antwortete ich, »das ist meine
Route, und ich werde Sie mitnehmen, wenn ich das für
vorteilhaft halte.«
Die Streitfrage ist bis heute noch nicht entschieden.
Vor sechs Monaten, als ich in London Informationen
über China einzog, hatte ich Peter Fleming kennengelernt.
Er hatte mir geraten, mich mit ein paar hundert Visiten-
karten und Briefpapier mit pompösem Vordruck zu ver-
sehen, was sehr nützlich sei, wenn man an die Behörden
eines kleinen Dorfes schreiben müsse.
Dann hatten wir uns in Charbin wieder getroffen. Fle-
ming, von Wladiwostok kommend, war dort in äusserst
schlechter Laune gelandet, weil es ihm nicht gelungen
war, den sibirischen Tiger, den ihm der »Intourist« ver-
sprochen hatte, zu erlegen. Man hatte ihn sechs Tage lang
in Dörfern umhergeführt, wo niemand ihm zu diesem
Zeitvertreib verhelfen konnte.
In Mandschukuo, wo wir beide unserem Berichterstat-
tergewerbe nachgingen, hatten die gleichen Fragen un-
ser Interesse erregt, und da die Japaner uns die gleichen
Einhrungsschreiben mitgegeben hatten, hatten wir uns
zusammengetan, um unter anderm zu erkunden, was ei-
gentlich mit den Mongolen von Barga geschehen war. Ich
hatte dabei Peters glänzende Intelligenz schätzen gelernt,
23
seine Fähigkeit, alles zu essen und überall zu schlafen, so-
wie die Sicherheit, mit der er den Kern einer Situation, das
Wesentliche einer Debatte erfasste. Noch mehr hatte ich
seinen Abscheu gegen jegliche Entstellung der Tatsachen
und die angeborene Sachlichkeit, mit der er sie darstellte,
bewundern gelernt. Ich wusste auch, dass Fleming weder
unter meinem Falschsingen noch unter meiner primitiven
Kochkunst leiden würde. Ich wusste schliesslich, dass ich
nicht unverträglich sein rde hinsichtlich der drei einzi-
gen Fragen, die ihn aus der Ruhe bringen konnten: seine
Pfeife, die Jagd und seine Ansichten übers Theater.
Aber rden wir uns auf die Dauer verstehen? Ich er-
innerte mich, wie sehr ich mich, nachdem ich mit ihm
die Mandschurei bereist, gefreut hatte bei dem Gedan-
ken, nun wieder allein auf Weltentdeckung auszuziehen.
Und Peter klärte mich darüber auf, dass seine affektierte
Stimme, sein liger Oxforder Akzent seinen letzten
Reise gehrten fast wahnsinnig gemacht hätten. Ich wie-
derum warnte ihn vor meiner Brummigkeit, die schon bei
so mancher Segelfahrt meinen Kameraden auf die Nerven
gegangen war …
Man musste diese Zweifel der Zukunft anheimstellen.
Ein ernsteres Bedenken ergab sich aus unseren Plänen.
Peter wollte glichst schnell reisen, weil verschiedene
Verpflichtungen ihn nach England zurückriefen, und ich
wollte nach meiner Gewohnheit trödeln, als wenn ich die
Ewigkeit vor mir hätte.
Auch darüber mussten die kommenden Ereignisse ent-
scheiden.
24
Die Abreise wurde also festgesetzt.
Wir wollten die Reisekosten der Smigunows und allen-
falls auch die Unannehmlichkeiten der Gefangenschaft tei-
len. Meine Kenntnis des Russischen, die fortgeschrittener
war als die Peters, konnte von Nutzen sein beim Umgang
mit Führern, die keine europäische Sprache beherrschten.
Dafür war es, falls wir Kaschgar erreichten, um dann über
den Himalaja nach Indien vorzudringen, von grösstem
Vorteil für mich, mit einem Engländer zu reisen.
Schliesslich – und das war ausschlaggebend für mich –
war Peter nach allem, was ich von seinem Leben wusste,
unter einem guten Stern geboren.
Vorbereitungen
Unverzüglich kamen die Smigs (wie wir sie bald nann
-
ten) von Tientsin herbei. Nina, sehr rundlich, mit grossen
grauen Augen, war charmant. Als Tochter eines russischen
Arztes aus Urumtschi, ein echtes Kind der Steppe, hatte
sie immer in Zentralasien gelebt; sie konnte Brot backen,
die Pferde versorgen, ja sogar ein Zelt bauen, denn sie hatte
viele Monate bei den Kirgisen verbracht, deren Sprache sie
fliessend sprach.
Er, Stefan, ein ehemaliger Kosak, hatte nach dem Rück-
zug Annankows Zuflucht in Turkestan gesucht. Er hatte
mehr als fünf Jahre im Tsaidam gelebt und Hunderte von
Kilometern zurückgelegt, um Wolle und Pelze, die er ex-
portierte, zu sammeln. Er freute sich darauf, dieses Leben,
das er so liebte, wieder aufzunehmen. Um mich zu über-
zeugen, dass er der beste aller Führer sei, kramte er alles

Ella Maillart
Verbotene Reise

Von Peking nach Kaschmir

Aus dem Französischen von Hans Reisiger
Mit einem Vorwort von Nicolas Bouvier und mit Fotos von der Autorin


LP 205
Paperback (mit 18 Schwarzweissfotos)
ISBN 978-3-85787-805-3
Seiten 416
Erschienen 23. Februar 2021
€ 16.50 / Fr. 22.00

Im Herbst 1934 reist die Genfer Autorin Ella Maillart im Auftrag der französischen Zeitung Le Petit Parisien als Berichterstatterin nach China. In Peking trifft sie den Kollegen Peter Fleming von der Times. Gemeinsam fassen sie den tollkühnen Plan, von Peking durch die für Ausländer streng abgeriegelte Provinz Sinkiang – Chinesisch-Turkestan – nach Srinagar im indischen Kaschmir zu reisen.
Dies ist ein in jeder Beziehung gewagtes Unterfangen: Gefahr droht nicht nur von der rauen Wüsten-, Sumpf- und Berglandschaft, sondern auch von aufständischen Rebellen, die in jedem Fremden einen Spion vermuten. Auf Pferden, Kamelen und zu Fuss legen die beiden ungleichen Reisegefährten fast 6000 abenteuerliche, beschwerliche Kilometer zurück – durch die Salzwüsten des Kuku Nor, die Sumpfplateaus des Tsaidam, die Sandwüste Takla Makan, die Gebirgsketten des Pamir und des Karakorum – und erreichen nach sieben Monaten erschöpft, aber glücklich ihr Ziel.

Ella Maillarts spannender Reisebericht hält die Strapazen und Schönheiten dieser »verbotenen Reise« fest und erzählt ausführlich über die Begegnungen mit vergangenen Kulturen, die in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts oft noch die gleichen Züge trugen wie zweitausend Jahre zuvor.

Film zum Buch: Les voyages extraordinaires d’Ella Maillart

Pressestimmen

Das Buch liest sich wie ein Roadmovie – wenn es auch in der Wüste weder Strasse, Autos noch gar ein Kino gibt.
— Die Zeit