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Lenos Verlag
Nicolas Bouvier
Lob der Reiselust
Aus dem Französischen
von Giò Waeckerlin Induni
Titel der französischen Originalausgabe:
L’Echappée belle
Copyright © 1996 by Les Editions Metropolis, Genève
Sonderausgabe 2013
Copyright © der deutschen Übersetzung
2007 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 440 6
Der Autor
Nicolas Bouvier (1929–1998) wuchs in Genf auf und machte
schon als 16jähriger erste Reisen nach Frankreich und Italien.
Nach dem Studium der Geistes- und Rechtswissenschaften in
Genf fuhr er 1953 mit Thierry Vernet im Auto über Jugoslawien,
die Türkei und Iran nach Afghanistan. 1955 Weiterreise nach
Japan. In den sechziger Jahren unternahm Bouvier mehrere aus-
gedehnte Reisen, u.a. nach Japan, China und Korea. Der Schrift-
steller, Fotograf und Journalist publizierte mehrere Bücher, dar-
unter Die Erfahrung der Welt und Skorpionsch.
Inhalt
Lob der Schweizer Wanderlust 9
Das Warten – die Erwartung 43
Das Reisen, das Schreiben, der Andere 57
Träumereien eines Bildersuchers 71
Rund um Gobineau 83
Rund um die Histoire du Soldat 97
Abschied von Louis Gaulis 107
Thesaurus pauperum 113
Ella Maillart 125
Vahé Godel 145
Brief an Kenneth White 151
Der orientalische Geschichtenerzähler:
Albert Cohen 159
Henri Michaux: Herbst-Totenbuch 167
Biographische Notizen 179
Bibliographie 185
Weshalb dünke sich der Bettler
Heute nicht ein Fürst zu sein?
Sein Gezelt heisst Wolkenschatten
Und sein Prunksaal – Saatenrain.
Hafis
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Lob der Schweizer Wanderlust
Mit diesem Buch möchte ich eine Schweiz würdigen,
über die man zuwenig spricht: einer unsteten Schweiz,
einer wanderlustigen Schweiz Lob zollen, von der all-
zuselten die Rede ist, einer seit zweitausend Jahren der
Versuchung und der Leidenschaft des »Kommens und
Gehens« erlegenen Schweiz. Ein Schweigen, ein Verges-
sen, das mich ärgert. Eine Unrast, die mich fasziniert.
Anlässlich einer kurzen, fruchtbaren Erfahrung als
visiting professor an der University of Southern Cali-
fornia stellte ich fest, dass die Schweiz in den Augen
meiner Studenten das Musterbeispiel eines beständi-
gen, sesshaften, vernünftigen, fleissigen Landes ist,
das dem Sparen huldigt, sich hingebungsvoll dem
Dienstleistungssektor widmet oder der Pflege des be-
hmten Militärgewehrs, das jeder Bürger samt vier-
zig Patronen bei sich zu Hause aufbewahren muss.
Lauter Klischees, die glattweg aus Flauberts rter-
buch der Gemeinplätze stammen könnten.
Ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen,
ihre Quellen nachzuprüfen, behaupten Orson Welles
und Graham Greene im Film Der dritte Mann, die
Kuckucksuhr sei der einzige Beitrag meines kleinen
Landes zur westlichen Kultur. Ein schlimmer Irrtum!
Die Kuckucksuhr ist mlich aus dem Schwarzwald
(aus Süddeutschland also) zu uns gelangt. Schade:
Der nervende Ruf dieses melancholischen, aus seinem
Nistkasten hüpfenden Vogels, der dir anzeigt, dass
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eine Stunde unwiderruflich vergangen ist, wurde von
einem neurotischen, postromantischen Deutschen
ausgeftelt; eine Erfindung, vor der jeder echte Sur-
realist ehrfürchtig in die Knie müsste.
Sesshaft? Dass ich nicht lache! In Wirklichkeit
sind die Schweizer das wanderlustigste Volk Europas.
Jeder sechste Schweizer hat beschlossen, sein Leben
im Ausland zu fristen. In dieser Hinsicht schlagen
wir sogar die Iren.
Vernünftig? Das muss her untersucht werden!
Hinter der Ordnung, unter dem Lack des helvetischen
»Wie es sich gebührt« [dt. im Orig.] spüre ich dicke
Schichten Irrationelles vorbeitreiben, ein dumpfes Gä-
ren, das in rrenmatts ersten »Kriminalromanen«,
in Fritz Zorns Mars so deutlich zum Ausdruck kommt,
eine latente Gewalt, die dieses Land für mich so beson-
ders und spannend macht. Die Schweiz ist eher bergma-
nisch denn bergsonisch und oft näher bei Prag als bei
Paris. Es würde mich nicht wundern, wenn man Alain
Tanners Salamandre für einen polnischen Film halten
rde oder wenn Maurice Chappaz’ L’Office des Morts
tatsächlich in Böhmen geschrieben worden wäre.
In meiner alten Ausgabe der Encyclopaedia Britan-
nica findet man eine ebenso erstaunliche wie zutref-
fende Definition der Schweiz: Kleines Land in Zentral-
europa, im Westen Europas gelegen.
In den Schulbüchern wird die Literatur der franzö-
sischen Schweiz immer als Ausdruck der Verwurze-
lung dargestellt, der Introspektion, der persönlichen
Aufzeichnung und eines mit dem Brandeisen der
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calvinistischen Strenge gezeichneten, Schuldgefühle
weckenden Moralismus. Es stimmt: Diese Literatur
gibt es tatsächlich. Charles Ferdinand Ramuz, Jac-
ques Chessex, Yves Velan, Gustave Roud und auf der
anderen Seite der Sprachgrenze Jeremias Gotthelf,
Meinrad Inglin oder Friedrich rrenmatt in seinen
ersten Werken, die sich alle nicht bemüht haben, diese
Grenze zu überschreiten. Sie hatten es nicht nötig. Das
Allumfassende lässt sich in eine begrenzte Geographie
einschreiben: Hat nicht auch Ismail Kadare immer
nur von seinem winzigen Albanien erzählt und den-
noch, in seiner Sprache, die griechische Tragödie neu
gestaltet? Selma Lagerlöf hat ihre Heimat Schweden
nie verlassen; Maupassant entfernte sich nur widerstre-
bend von der Normandie oder den Pariser Bordellen.
Aber aber es gibt ein Aber. Parallel dazu gibt es
eine ganz besondere, oft wunderbare Heimatliteratur,
eine nomadische Konstante in unserer Geschichte: das
Fernweh, das Exil, die Suche, die Unrast, eine Form des
Nicht-stillhalten-Könnens, was unsere Mentalität tief
geprägt hat und also auch unsere Literatur. Es gibt seit
über zweitausend Jahren eine unruhige Schweiz, eine
wandernde, oft durch die Armut auf die Landstrassen
getriebene Schweiz, von der man viel zuwenig spricht.
Schweigen: weil die gestaltenden Elemente einer
introspektiven sesshaften Literatur sich leicht durch
unsere politische und wirtschaftliche Geschichte er-
klären lassen. Sie sind augenfällig.
Worauf diese Schweizer Wanderlust beruht, die
ich nicht etwa erfinde, sondern in Erinnerung rufe, ist
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jedoch geheimnisvoller. Natürlich gibt es dar un-
bestreitbare wirtschaftliche Gründe, die innere Moti-
vation jedoch ist rätselhafter und liesse sich vielleicht
durch die Jungsche Psychoanalyse erklären, durch
den Archetypus von »der anderen Seite des Berges«,
wie es Ramuz meisterlich in seinem Roman La Sépa-
ration des Races bezeichnet, was aber viel schwieriger
zu erklären ist.
Die fixierenden zentripetalen Elemente unserer geisti-
gen und moralischen Geschichte, die schliesslich die
heutige Schweiz in einer winzigen Alpen- und Seen-
geographie ausmachen werden ich übernehme hier
Alfred Berchtolds These aus La Suisse romande au cap
du XX
e
siècle –, sind, nacheinander, die calvinistische
oder zwinglianische Reformation, die pädagogische
Tradition von Rousseau über Pestalozzi, Tœpffer,
Claparède, Piaget usw. Dann die präromantische Na-
turbetrachtung (Haller und Rousseau), schliesslich
die romantische Eloge der bukolischen Alpen, eines
gar nicht so fernen Arkadiens, das wir schnell einmal
gelernt haben, teuer, zu teuer, zu verkaufen. Anfänge
des Schweizer Tourismus. In einer Reisebeschreibung
amüsiert sich James Fenimore Cooper schelmisch
über die Geldgier unserer Hirten.
Was die französische Schweiz angeht, so lässt sich
vor der Reformation kaum von intellektuellem Leben
sprechen. Doch kaum hatte man sich – zwischen 1530
und 1540 – für die »neue Religion« entschieden, wird
die Begriffsdebatte und die religiöse Polemik zu Genfs
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Lebensinhalt. Das calvinistische Genf ist ein Zünd-
fass, eine Brandbombe, und das ganze katholische Eu-
ropa nscht sich sehnlichst, es zu zerstören und dem
Erdboden gleichzumachen. Diese Kampfliteratur
ist eindeutig weder der galanten Frivolität noch den
Liebesstanzen förderlich. Also: literarische Leere, wie
Voltaire zweieinhalb Jahrhunderte später feststellt:
Nur König Davids alte Psalmen
mögen der Genfer Herz erfreuen
im Glauben, Gott freue sich an schlechten Versen.
Es stimmt: Die Romands sind nicht frivol. Sie le-
sen jedoch viel: Hobbes, Montaigne, Montesquieu,
aber weder Brantôme noch Laclos, noch Restif de la
Bretonne. Diese Lektüren sind verpönt; zudem hat
man dafür keine Zeit, weil man inzwischen beginnt
sich enorm zu bereichern.
Man wird auf Rousseau warten müssen, der seine
Werke mit Citoyen de Genève zeichnet und der den Gen-
fern sträflich unbeachtet bleibt sie haben La Nouvelle
Héloïse übersehen und Émile verboten, bis die franzö-
sische Schweiz eine eigene Literatur haben wird, auch
wenn sie aufgrund ihrer Verblendung keine haben
wollte. Madame de Staël und Benjamin Constant wer-
den diese Literatur brillant weiterführen, jedoch ohne
sich je ausserhalb des introspektiven und moralischen
Kontextes zu bewegen, den man Rousseaus Confes-
sions verdankt. Vergessen wir eine gewisse Neigung zu
selbstgefälligen Schuldgefühlen und zur Selbstgeis-
selung nicht, die in unserer Literatur nur allzuoft an-
zutreffen ist und die Henri-Frédéric Amiel in seinem

Nicolas Bouvier
Lob der Reiselust

Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-382-9
Seiten 190
Erschienen 20. April 2007
€ 28.00 / Fr. 32.00

Nicolas Bouvier erschliesst uns die Lebensgeschichten der Schweizer »Weltenpilger«, zu deren Familie er sich selbst zählt. Er schildert das Schicksal namenloser Auswanderer, das Leben von Persönlichkeiten, die wie er an Claustrophobia alpina litten – Thomas Platter, Paracelsus, Jean-Jacques Rousseau zum Beispiel. Er zeichnet mit der Begeisterung und dem Scharfblick des unermüdlichen »Bildersammlers« das Porträt berühmter von Fernweh Getriebener, die über die Meere reisten, von orientalischen Märchenerzählern oder von Schriftstellergefährten. Wenige Jahre vor seinem Tod schildert Nicolas Bouvier seine Begegnungen von unterwegs, erinnert sich an Autoren, die ihn geprägt haben, und lässt uns teilhaben an seiner »Erfahrung der Welt«.


Pressestimmen

Bücher sind wie Wein. Manche müssen jung genossen werden, weil sie nicht das Zeug zum Altern haben. Anderen gibt man eine gute Prognose, um Jahre später feststellen zu müssen, dass die Zeit sie doch verdorben hat. Am erstaunlichsten aber sind jene Bücher, die bei ihrem Erscheinen verhalten wirken und ihre ganze Bedeutung erst Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später entfalten. Eine von diesen seltenen Überraschungen ist zweifellos das Werk von Nicolas Bouvier.
— Die Weltwoche
Bouvier wandert leichtfüssig durch die Zeiten und Kontinente, macht Türen ins Unbekannte auf, ohne sich mit erhobenem Zeigefinger aufzustellen und auf Highlights zu zeigen. Seine Essays sind keine klassischen Reisetexte, sondern wohltuend unprätentiöse, hintersinnige Exkursionen in den inneren Kosmos der Reiseschriftsteller.
— Die Presse

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