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Lenos Verlag
Dante Andrea Franzetti
Zurück nach Rom
Erste Auflage 2012
Copyright © 2012 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Bernard Lafond
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 426 0
Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert von der Robert Bosch Stif-
tung in Stuttgart, bei der sich der Autor freundlich bedankt.
Inhalt
I. Gotham City 7
II. Das Netz 15
III. Die tag- und die nachthelle Seite des Pigneto 41
IV. Hinter vatikanischen Mauern 53
V. Stets Ihr treu dankbarer Sohn 79
VI. La dolce vita 99
VII. Io ci credo 127
VIII. Das vortreffliche Talent des Dottor Flaiano 139
IX. Störung der Totenruhe 153
X. Letzte Grüsse aus Rom 171
Personenregister 185
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I. Gotham City
Es sind die Lähmungen und Turbulenzen, die schweiss-
triefende Langsamkeit (die Warterei auf das Tram 19 zum
Giar dino dei Gerani, wenn man zum Pigneto muss; und
wenn eine 19 an die Piazza Buenos Aires heranrasselt, end-
lich, teilt sie dir mit: corsa limitata, gekürzte Fahrt; sie fährt
nur bis Porta Maggiore), und dann die Autos mit Blaulicht,
die Krankenwagen, die Bluttransporte, die Limousinen der
Politiker, die tutend auf der Busspur an allen Rotlichtern
vorbeirasen; das Heulen, das losgeht, kaum berührt ein
Passant ein Auto; die falschen Alarme an Toren und Ge-
schäftseingängen, dieser kreischende Singsang in der höchs-
ten Tonlage, der selbst die Hunde erschreckt; das schep-
pernde Surren der Motorroller; das Krachen und Dröhnen
der Müllabfuhr in der Nacht; das Fernsehprogramm, die
gebrüllten Nachrichten, bereits morgens um acht.
Und dann, manchmal, die verdächtige Stille in einem
Hinterhof; oder gerade hier, in der Via Montecuccoli, einer
Sackgasse im Pigneto (so ruhig wie mein Zimmer in -
rich, Personalhaus der Psychiatrischen Universitätsklinik,
im Grünen, am Rande der Stadt).
Wenn dich diese Stille in Rom überfällt es kann auch
in einer Kirche sein, in einem Park, doch genügend weit
weg von der Strasse –, nickst du ein.
Du solltest hier wach sein.
Du bist nicht wach. Du bist nie wach genug.
Bald erschreckt dich das nächste Tuten, Schrillen, Piep-
sen, Knallen und treibt deinen Puls in die Höhe.
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Und dann: Wenn du irgendwo anstehst und sich der Puls
beruhigt, beginnst du wieder beinahe einzuschlafen. Und
wenn du eine 19 findest, die tatsächlich bis zum Pigneto
fährt, und darin einen Sitzplatz entdeckst, nickst du erneut
ein.
Dieses Wechselbad von Geschwindigkeit und Entschleu-
nigung, Alarm und torpore, drückender Schwüle und tor-
kelndem Gehen auf dem aufgeweichten Asphalt, Kampf
um den Stehplatz in der Strassenbahn, Gehetze irgendwo-
hin, um pünktlich zu sein (kein Taxi da), und du setzt dich
verschwitzt und ermattet auf die Spanische Treppe, fächelst
dir Wind zu mit der Zeitung, für die deine Augen längst
zu de sind, und schliesslich erscheinen die anderen mit
eineinhalb Stunden Verspätung: »Der Verkehr!«
Man gewöhnt sich die Pünktlichkeit ab in Rom. Heute
gibt es den Mobilfunk, man wird über jede Kreuzung in-
formiert, die der Kollege bereits hinter sich gelassen hat.
Räche dich nie an den Unpünktlichen! Sie warten gelas-
sen und empfangen dich nie mit einem deutschen Gesicht.
Das war 1979, zu einer Zeit, als es keine Mobiltelefone
gab, es sollten sich vier Gruppen aus verschiedenen Vierteln
der Stadt an der Piazza Venezia »ungefähr um acht Uhr«
treffen. Als die Letzten um halb zwölf ankamen, waren die
Ersten bereits wieder gegangen. Man sass noch eine Weile
vor der »Schreibmaschine« herum, und schliesslich löste
sich die Gruppe auf. Zum Abendessen war es nicht gekom-
men, doch das fiel nur mir auf, dem einzigen Nordstaatler.
Es hatten sich alle gut unterhalten.
Heute gibt es die Business-Lunches, zu denen man pünkt-
lich erscheinen muss; Fussballspiele beginnen auf die Mi-
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nute, Theatervorstellungen und Kinofilme auch, nur in die
Messe kann man sich noch zur Halbzeit hineinschleichen.
Ohne ihr Zutun hat sich die Stadt für die mer noch-
mals beschleunigt, die Gangart, das Piepsen und Trillern
der Handys, die pfeilschnellen Motorroller auf dem Weg
zur Arbeit oder zum Ruderclub und die flimmernden
Werbe botschaften an jeder Ecke, die in die Augen schies-
sen und in die Ohren krachen. Musik und Lärm in voller
Lautstärke.
Sie gehen schneller als früher, vor allem wenn sie aus
einem Zug oder dem Bus steigen. Ihr Radius ist grösser,
lange Beine sind gefragt und wachsen nach, doch auch die
Hindernisse haben zugenommen: Verkehr, Baustellen, Laub
und Äste auf den Strassen, Löcher im Asphalt.
*
Zum ersten Mal bin ich in einer Pension, in der ich durch-
schlafen kann: etwas weiter draussen, wo einst die Periphe-
rie war, die sich das Zentrum, das sich nach aussen frisst,
nach und nach einverleibt.
Gotham City.
Doch ist es anders in Städten vergleichbarer Grösse?
Es sind die vielen Langwierigkeiten und die Turbulen-
zen, diese kalten und warmen Duschen, dieses Hab-Acht!
und Ruhen!, die Wechselbäder und das Wechselgeschrei,
die die Römer zermürben.
Und aufladen.
Sie fressen (wundere ich mich) all die negative Energie
in sich hinein, verdauen sie und pfeifen sie in einer ruhigen
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Stunde aus sich heraus. Arien oder Schlager, Volkslieder
oder Jazzmotive, Kinder- und Wiegenlieder, Roma capoccia,
man rt hier, wenn auch immer seltener, noch jemanden
auf dem Gehsteig singen.
Wenn sie zur Bar schlendern; wenn sie mit den grossen
Scheibenwischern die Fenster ihrer Geschäfte putzen; wenn
sie Plättchen legen oder Wände anmalen; wenn sie auf einer
Parkbank sitzen oder auf einer Leiter stehen; wenn sie mit
Einkaufstüten aus dem Supermarkt kommen oder in der
Werkstatt einen Ölwechsel vornehmen; auch Priester, wenn
sie nach der Messe aus der Kirche treten und sie ein heller,
windiger Frühlingstag erwartet: Sie singen, pfeifen, trällern
vor sich hin.
In den Aussenquartieren eher.
Etwas leiser als der übrige Lärm der Stadt, aber insistent
und widerspenstig, rt man diese Melodien vor allem an
Sonntagen, wenn gleichzeitig aus einer Million Fernseher
der Fussball in die Strassen brüllt.
*
Als ich dieses Buch zu schreiben begann – aber habe ich es
nicht schon immer geschrieben? seit ich mit nfzehn Jahren
zum ersten Mal hier war, Filetto Stroganoff bei Panta leone
an der Via Merulana, und danach noch Dutzende Male, ab-
gesehen von der Zeit, als ich hier durchgehend gelebt und
gearbeitet habe und mir deshalb zur Stadt nichts einfallen
wollte? –, als ich mit den Notizen begann, lebten meine
zwei Kinder, Luca und Nico, schon seit drei Jahren hier,
und ich war wohl zum siebenten Mal r längere Zeit zu Be-
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such. Einen Herbstmonat habe ich der Bar Ayres gewidmet,
an der Piazza Buenos Aires in einem besseren Viertel –,
bis ich einen Gesang auf diese Bar schrieb, den ich hier ir-
gendwo einfügen will. Heute, ein Jahr später, ist dort nichts
mehr, wie ich es im Jahr 2008 angetroffen habe: Marcello,
der Kellner, ist verschwunden; nur der Kalabrese, der Nazi,
hat im Lokal nebenan, einem Luxusrestaurant, als Kassier
überlebt, ausgerechnet er, der den Zigeunern die Haut ab-
ziehen will. Obwohl er zur selben Mannschaft wie meine
Kinder hält, zu Milan, haben auch sie den Kalabresen nie
gemocht, ganz instinktiv. Er hat eine Herrscherstimme, er
spricht nicht, er gellt, er schreit, manchmal brüllt er. Alles
ist eine Frage von Leben und Tod: ein falsches Zuspiel auf
dem Rasen; ein Typ, der geht, ohne zu bezahlen; zu leicht
bekleidete Frauen, Nutten natürlich; stinkende Bettler, de-
nen er nachkreischt, obwohl sie bezahlt haben: »Wenn du
dich mal duschst, tust du uns einen Gefallen.«
Der Kalabrese macht meinen Kindern Angst, obwohl
Luca schon nfzehn ist, und sie haben Grund, Angst zu
haben: Jeder Mensch, der bei Sinnen ist, erschreckt vor die-
sem drohenden Sergeanten, von dem man annehmen muss,
dass er es bei Gelegenheit ernst meint.
In Rom kriechen die Faschisten hervor.
*
Vier Moleskine-Notizcher liegen gestapelt vor mir, und
ich weiss natürlich nicht, wo ich beginnen soll. Dabei geht es
darin nur um drei Quartiere: Salario-Trieste im Norden (wo
meine Kinder leben), also die Gegend bei der Piazza Bue-

Dante Andrea Franzetti
Zurück nach Rom


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-426-0
Seiten 199
Erschienen September 2012
€ 25.00 / Fr. 29.00

Rom. Die Ewige Stadt. Einst Zentrum eines Weltreiches, heute noch immer nicht in der Moderne angekommen, eine Stadt zwischen Stillstand und Turbulenz. Das frühere Lebensgefühl – Fellinis Dolce vita, Pasolinis tragische Filme, in denen Rom nach etwas roch und schmeckte –, wohin ist es verschwunden?

Dante Andrea Franzetti, der einmal in der italienischen Kapitale gelebt hatte und dessen Söhne hier zur Schule gehen, spürt den Widersprüchlichkeiten und Veränderungen nach, die das Rom von heute prägen. Die Stadt ist schneller geworden, das römische Lächeln verbissen, Gelassenheit ist Pünktlichkeit gewichen. Faschisten, Papisten, Renegaten sind hier zu Hause, sonntags brüllt der Fussball aus einer Million Fernseher. Den Armen eines Kraken gleich, frisst sich die Stadt in die Landschaft hinein. Ehemals periphere Viertel, in denen die Halbwelt verkehrte, gelten plötzlich als jung und hip: Gentrifizierung auch hier. Per Strassenbahn und Bus erschliesst sich der Autor manch denkwürdigen Ort: so den Cimitero acattolico, wo August von Goethe begraben liegt, oder die Katakomben an der Via Appia.

Franzetti zeichnet das Bild eines so farblosen wie bunten, gleichermassen abstossenden wie anziehenden Rom – Stadtliteratur der besonderen Art, melancholisch, verträumt, oft aber auch temporeich und von grosser Komik, etwa wenn der Autor mit dem längst verstorbenen Lyriker Vincenzo Cardarelli im Caffè Strega an der Via Veneto über Anita Ekberg plaudert.

Für das Buch wurde Dante Andrea Franzetti 2013 mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet.

Pressestimmen

Eine bunte und laute Weltstadt zwischen gestern und übermorgen, verträumt und hektisch zugleich, ein wenig verrückt und keineswegs ungefährlich: Das Rom, das uns Dante Andrea Franzetti in seinem jüngsten Prosaband nahebringt, kannte man bisher so noch nicht.
— Klaus Hübner, literaturkritik.de