LENOS
×
Lenos Verlag
FLORIANNE KOECHLIN
VON BÖDEN DIE KLINGEN
UND PFLANZEN DIE TANZEN
Neue Streifzüge durch wissenschaftliches Unterholz
Erste Auflage 2021
Copyright © 2021 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Thomas Dinner, Basel
Umschlagbild: Florianne Koechlin
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 010 3
www.lenos.ch
Mein ganz spezieller Dank geht an Samanta Siegfried. Die
Journalistin hat mich während der ganzen Zeit eng be-
gleitet, alle Texte redigiert und zwei Kapitel geschrieben:
»Wie Engadinerschafe die Biodiversität zurückbringen«
(Kapitel VII) und »Die weltweit grösste Umstellung auf
Biolandwirtschaft – made in India« (Kapitel XII).
VON BÖDEN DIE KLINGEN
UND PFLANZEN DIE TANZEN
7
INHALT
Worum es hier geht 11
DIE PFLANZEN
KAPITEL I
Die Apfelblüte und die Biene 13
Wie Blütenpflanzen mit ihren Bestäubern kommunizieren – und sie
manchmal auch manipulieren.
KAPITEL II
Lernen, wann die Biene kommt 23
Die Berliner Forscher Tilo Henning und Moritz Mittelbach haben ein
Blumennesselgewächs so trainiert, dass sie merken, wann die Biene
kommt.
KAPITEL III
Das Blumenwunder – ein Stummfilm
aus dem Jahr 1926 rührte die Menschen zu Tränen 31
Wie die Berliner Kunsthistorikerin Ines Lindner einem Film von 1926
auf die Spur kam, der das damalige Pflanzenbild auf den Kopf stellte.
KAPITEL IV
Sprache der Stille –
eine philosophische Annäherung an die Pflanze 43
Wir müssen lernen, bei Pflanzen auf das Dazwischen zu achten. Das sagt
der Philosoph Michael Marder von der Universität des Baskenlandes und
erzählt, wie wir uns der mysteriösen Welt der Pflanzen annähern können.
KAPITEL V
Können Pflanzen unsere Emotionen erkennen? 53
Peter Gloor, Forscher am Massachusetts Institute of Technology, weist mit
künstlicher Intelligenz nach, dass Pflanzen die Emotionen eines Menschen
an seinem Gang erkennen können.
8
DIE TIERE
KAPITEL VI
Von der Kuh lernen,
was sie für ein gutes Leben braucht 65
Anet Spengler Neff und Florian Leiber vom FiBL in Frick wollen durch
»beobachtende Forschung« herausfinden, was es braucht, damit Kühe sich
wohl fühlen und die Kuhhaltung trotzdem wirtschaftlich interessant
bleibt.
KAPITEL VII
Wie Engadinerschafe
die Biodiversität zurückbringen 83
Erika Hiltbunner von der Universität Basel untersucht im Urserental,
wie Engadinerschafe die Berghänge von den alles überwuchernden
Grünerlen befreien können.
DER BODEN
KAPITEL VIII
Das Geräusch eines Regenwurms beim Kriechen 97
Marcus Maeder, Klangkünstler und Umweltwissenschaftler an der ETH
Zürich, macht erstmals die Fress-, Kriech- und Ruflaute der unendlich
vielen Tiere unter dem Boden hörbar. Was sagen diese Geräusche über die
Bodengesundheit aus?
KAPITEL IX
Kuhfladenpolitik –
oder wie Pilze unsere Weltsicht herausfordern 107
Die australische Pilzexpertin Alison Pouliot erklärt, warum ein
Kuhfladen ein einzigartiges Mikroökosystem ist. Und inwiefern die
dynamischen Netzsysteme unterirdischer Pilzgeflechte ein Sinnbild dafür
sind, was Leben ausmacht.
9
DIE MITTE
KAPITEL X
Wir essen Informationen –
von Reis und von Kühen 123
Wenn wir Reis essen oder Milch trinken, gelangen davon winzige
Erbgutteilchen via Blutstrom in unsere Organe und kommunizieren dort
womöglich mit unseren Genen. Alles ist noch viel vernetzter, als wir je
ahnten – mit Folgen, auch für die Landwirtschaft.
DIE LANDWIRTSCHAFT
KAPITEL XI
»In meinen Vorlesungen vermeide ich
das Wort ›Gen‹« 133
Was ist ein Gen? Für Ignacio Chapela von der Universität von
Kalifornien sind Gene keine isolierten Bausteine, die man beliebig
versetzen oder manipulieren kann; das ganze Zellgeschehen sei viel
komplexer. Die veraltete Vorstellung von Genen mache auch die
Agrogentechnik so erfolglos.
KAPITEL XII
Die weltweit grösste Umstellung
auf Biolandwirtschaft – made in India 149
Andhra Pradesh mit seinen sechs Millionen Bäuerinnen und Bauern will
bis 2027 ganz auf Pestizide und Kunstdünger verzichten. Dabei setzt der
Staat auf Mischkulturen, engagierte Dorfgemeinschaften – und
einheimische Kühe. Ein Besuch vor Ort.
KAPITEL XIII
Allergisch gegen Monokulturen 175
Hans Herren erhielt für seine bahnbrechende Forschung zur Bekämpfung
von Hunger und Armut den Welternährungspreis und den Alternativen
Nobelpreis. Was hat sich in den letzten sechzehn Jahren verändert?
KAPITEL XIV
Leergefegte Landwirtschaft 187
Die Digitalisierung der Landwirtschaft soll alles ökologischer und
effizienter machen und Menschen durch Computer ersetzen. Ist das die
Lösung? Ein Gespräch mit Benny Haerlin von der Zukunftsstiftung
Landwirtschaft.
KAPITEL XV
Der Spatz und wir 199
Der Spatz, sagt der Basler Ornithologe Markus Ritter, begleitet die
Menschen seit 10 000 Jahren – ein enges und treues Zusammenleben, in
dem sich der Spatz als äusserst anpassungsfähig erwiesen habe.
Anmerkungen, weitere Beispiele, Ergänzungen 215
Bücher zum Thema 257
Referenzen 263
Bildnachweis 275
Dank 275
11
WORUM ES HIER GEHT
In Indien spielt sich gerade Unglaubliches ab: Andhra
Pradesh, ein Staat grösser als die Schweiz, Österreich
und Belgien zusammen, will bis 2027 ganz auf Pestizide
verzichten. Dabei setzt er auf Vielfalt, fruchtbare Böden,
einheimische Kühe und engagierte Dorfgemeinschaften.
Eine Revolution von unten und von oben. Unvergesslich
sind mir die vielen selbstbewussten und stolzen Bäue-
rinnen und Bauern, die sich dank Natürlicher Landwirt-
schaft aus der Armutsfalle befreien konnten und denen
ich auf meiner Reise im Februar 2020 begegnete.
Später fand ich Forscherinnen und Forscher, die auf-
zeigten, dass Nesselgewächse lernen, wann die Biene
kommt, und solche, die herausfanden, dass Nachtkerzen
das Summen von Bienen hören, ja, wirklich: hören. Und
es erstaunt mich immer von neuem, wie unendlich dif-
ferenziert Blüten mit ihren Bestäubern kommunizieren,
wie Pflanzen sich vernetzen, wie sie kooperieren und sich
konkurrenzieren. Wie auch Tiere und Pflanzen, ja alle
Lebewesen intime Partnerschaften bilden. Im bergigen
Urserental fanden wir Engadinerschafe, die wieder arten-
reiche Alpweiden erschufen, und am Forschungsinstitut
FiBL in Frick Kühe, die wissen, welche Kräuter ihnen
guttun. Immer und immer wieder stand die Artenvielfalt
im Zentrum, auch unter dem Boden.
Das konnte ich hören, im Gestrüpp meines kleinen
Gartens, unter meinen Füssen, tausendmal verstärkt: Es
waren Fress-, Kau-, Beiss-, Knack-, Kriech- und Spring-
geräusche unendlich vieler kleiner Bodentiere. Auch Rufe
12
und Antworten aus verschiedenen Richtungen, so schien
es mir jedenfalls. Es war ein fast unheimliches, ganz und
gar fremdes Orchester, was sich da unter dem Gestrüpp
abspielte. Unter den Tomaten nebenan hingegen war es
ziemlich still. Erste Versuche zeigen: Je mehr Vielfalt,
desto reichhaltiger tönt es im Boden. Können Boden-
geräusche ein Indiz dafür sein, wie gesund ein Boden ist?
Hans Herren, der für seine bahnbrechende Forschung
zur Bekämpfung von Hunger und Armut den Welt-
ernährungspreis und den Alternativen Nobelpreis erhielt,
sagte zu mir: »Heute wissen wir, wie es geht. Eine Natür-
liche Landwirtschaft (oder Agrarökologie), die auf Viel-
falt, gesunde Böden und auf soziale Netze setzt, kann die
Welt ernähren.« Ohne synthetische Pestizide, Dünger,
ohne Agrogentechnik und ohne neue Abhängigkeiten.
Nicht nur in Indien, auch in Afrika und auch bei uns in
Europa. Denn weiter wie bisher ist keine Option.
13
DIE PFLANZEN
I. DIE APFELBLÜTE
UND DIE BIENE
Wie Blütenpflanzen mit ihren Bestäubern
kommunizieren – und sie manchmal auch
manipulieren
Ein blühender Apfelbaum welch ein Erlebnis. Die weis-
sen und rosa Blüten schweben im blauen Himmel. Ein
herrlicher Geruch nach Frühling, Sonne und Kindheit.
Aus dem Baum tönt ein lautes Summen, er vibriert von
Bienen, die eifrig Nektar und Pollen sammeln. Auch
Hummeln und Wildbienen sind unterwegs.
Wir alle haben in der Schule gelernt: Bienen fliegen von
Apfelblüte zu Apfelblüte und holen sich mit ihrem Saug-
rüssel süssen Nektar aus den Kelchen. Dabei bleiben Pollen
der Staubblätter an ihren Beinen hängen. Mit diesen fliegen
sie weiter zur nächsten Blüte und bestäuben sie: Männlicher
Pollen gelangt zur weiblichen Narbe und befruchtet die
dort versteckte Eizelle die Fortpflanzung ist gesichert.
1, 2
Die Beziehung zwischen Biene und Apfelblüte ist ein
klassisches Beispiel einer Koevolution: Von dem Tausch-
handel profitieren beide Seiten, und beide bringen etwas
ein. Es ist ein Zusammenspiel, ein gegenseitiges Geben
und Nehmen: Nahrung für die Biene gegen Pollen-
Transportdienste für den Apfelbaum. Blüten und ihre Be-
stäuber sind dabei direkt aufeinander angewiesen.
14
Doch für diesen Tauschhandel gehen Pflanzen grosse
Risiken ein. Die Produktion von Duftstoffen und Nek-
tar ist eine sehr teure Angelegenheit, die sie viel Energie
und Ressourcen kostet. Überdies sind Insekten oft unzu-
verlässig; manchmal kommen sie, manchmal fliegen sie
weiter. Eine Pflanze muss ihre Bestäuber aber an sich bin-
den, um zuverlässig befruchtet zu werden, sonst ist ihre
Fortpflanzung gefährdet. Wie also locken Apfelblüten die
Bienen von weit her zu sich? Und woher wissen Bienen,
welche Blüten viel Nektar versprechen und welche schon
besucht wurden und daher fast leer sind? Dafür haben
Pflanzen viele, teils erstaunliche Strategien entwickelt.
Blütenfarbe und -form spielen eine Rolle
3
und natür-
lich der unvergleichliche fruchtige Duft einer Apfelblüte.
Unser Apfelbaum wirbt mit einem Duftbouquet, das aus
mehr als siebzig Duftkomponenten besteht; es ist eine
15
unverkennbare Duftbotschaft an seine Bestäuber. Sie ver-
breitet sich über grosse Distanzen und vermittelt ihnen
Informationen über seinen Standort, aber auch über seine
Identität. Denn eine Blüte kann ihre Duftbouquets dy-
namisch verändern und ihre Parfums sowohl in der Zu-
sammensetzung wie auch in der Dosis variieren. So lockt
ein in Australien vorkommender Palmfarn (Macrozamia
lucida) seinen Bestäuber, ein kleines Insekt (Cycadothrips
chadwicki) aus der Ordnung der Fransenflügler, mit einer
speziellen Duftstoffnote zu sich. Sind die Blüten erst be-
stäubt, produziert die Pflanze einen etwas anderen Duft-
stoff, mit dem sie die Fransenflügler wieder vertreibt. Sie
sollen weiterziehen und mit ihren aufgelesenen Pollen
weibliche Zapfen befruchten.
4
Das kennt man auch von
anderen Pflanzen.
5
Manche Gewächse variieren ihre Blü-
tenparfums im Tagesrhythmus oder ändern sie nach einer
Bestäubung oder als Antwort auf einen Fressfeind. Junge
Blütenpflanzen riechen oft anders als ältere. Der Blüten-
duft verrät auch, wie eine Pflanze lebt: Pionierpflanzen in
einer vielfältigen pflanzlichen Nachbarschaft riechen an-
ders als die gleichen Pflanzen in homogener Umgebung.
6
Blüte und Pollentransporteure müssen einander ver-
stehen, sich erkennbar machen und gegenseitig erkennen,
ihr Verhalten koordinieren. Und das in einer Umgebung,
die bereits voller Gerüche ist, inmitten einer riesigen
Duftwolke also, vergleichbar mit einer lauten Cocktail-
party. In diesem »Duftlärm« müssen sich die Blüten
ihren Bestäubern von weitem zu erkennen geben und
sie zuverlässig und gezielt zu sich heranlocken.
7
Keine
leichte Aufgabe.
16
Natürlich sind nicht alle Besucher willkommen. Räu-
ber können den Blüten Nektar oder Pollen stehlen, ohne
sie zu bestäuben. So hatte schon Charles Darwin (1809–
1882) festgestellt, dass Hummeln gern den Nektar von
Löwenmäulchen oder Salbei fressen und dabei keinen
Pollendienst übernehmen ein regelrechter Diebstahl.
Andere Insekten beissen Löcher in den Blütengrund, um
Nektar zu stehlen; sie beschädigen die Blüten oder ver-
stopfen die Narben mit fremden Pollen. Wenn zu viel
Pollen oder Nektar gefressen wird, bleibt nichts mehr
übrig für nachfolgende Besucher, die den Akt des Pollen-
transports übernehmen müssten. Für die Blütenpflanze
gilt, Diebe und Betrüger so gut wie möglich abzuweh-
ren, denn das kostet sie viel Energie. Auch die zahlrei-
chen Mikroben in der Blüte und im Nektar müssen am
Wachstum gehindert werden.
Pflanzen müssen also gleichzeitig viele verschiedene An-
forderungen erfüllen: Sie müssen Pollentransporteure an-
locken, sich gegen Schädlinge wehren oder Mikroben in
Schach halten und auf Stress durch
UV-Licht, Ozon oder
Dürre adäquat reagieren.
8
Eine Hilfe sind dabei die Blütendüfte selbst. Diese
sind hyperdivers und multifunktional, sie erfüllen ver-
schiedene Funktionen gleichzeitig. Ein Blütenduft ist ein
hochkomplexes Gemisch von manchmal mehr als hundert
unterschiedlichen flüchtigen Molekülen. Der Duft einer
Phloxblüte zum Beispiel enthält flüchtige Moleküle, die
Bienen anziehen (z. B. Benzaldehyde, Phenylacetaldehyde
oder Linalool); solche, die Hummeln oder Fransenflügler
anlocken (z. B. Eugenol); solche, die Ameisen (z. B. Eu-
17
genol, Methyleugenol), Nachtfalter (Ocimene) oder auch
Fliegen (Linalool) vertreiben, oder solche, die das Wachs-
tum von Bakterien verhindern (z. B. Phenylacetonitril).
Alles in einem einzigen Duftbouquet.
9
Und unser Apfelbaum kommuniziert nicht nur mit
Blütendüften, um sich mit seinen Bestäubern zu einigen
oder Nektarräuber zu vertreiben. Auch die Blätter produ-
zieren Duftmoleküle, zum Beispiel um Nützlinge anzu-
locken. Wird der Baum von gefrässigen Raupen des Klei-
nen Frostspanners (Operophthera brumata L.) heimgesucht,
lockt er mit einem Duftstoffcocktail Kohlmeisen an.
Diese riechen das
SOS-Signal des befallenen Apfelbaums
und finden so gezielt zu einer reichhaltigen Raupenbeute.
Wenn der Apfelbaum hingegen von Obstbaumspinn-
milben (Panonychus ulmi
KOCH) angegriffen wird, sendet
er ein etwas anderes Duftstoffgemisch aus, mit dem er
Raubmilben (Amblyseius andersoni
CHANT) natürliche
Feinde der Spinnmilben – anzieht. Diese fressen die Spin-
nen. Doch wie merkt unser Apfelbaum, wer gerade an
ihm frisst? Am Speichel des Frassfeindes, der durch die
Bisslöcher ins Blattinnere tröpfelt. Der Baum kann den
Speichel identifizieren und produziert Duftstoffe, die den
geeigneten Bodyguard herbeilocken.
10
Um wirklich zu kommunizieren, senden Pflanzen, so
auch unser Apfelbaum, nicht nur Duftstoffe aus, sondern
können diese auch wahrnehmen, also »riechen« und dar-
auf reagieren. Wie aber riecht ein Apfelbaum? Er hat ja
keine Nase. Das wäre auch sinnlos und viel zu gefährlich,
denn würde jemand den Ast mit der Nase abbrechen,
wäre der Baum verloren. Er riecht als Ganzes; Geruchs-
18
sinneszellen (sog. Rezeptoren) sind über Blatt, Blüte und
Stängel verteilt. Diese nehmen die Düfte wahr und leiten
sie weiter. Sie werden anschliessend verarbeitet, und es
wird eine Antwort darauf generiert.
Doch vieles wissen wir noch nicht.
11
Wie eine Pflanze
mit Bestäubern, Tieren, Mikroben und anderen Pflan-
zen kommuniziert, wie sie gleichzeitig auf verschiedene
Stressfaktoren antwortet und Bedrohungen abzuwehren
versucht, wie sie die vielen Herausforderungen integriert
und priorisiert, ist noch immer sehr wenig erforscht. Ein
Grund dafür ist, dass sich Studien bisher vor allem auf
einen einzigen Duftstoff und einen einzigen Bestäuber
beschränkt haben und die Erforschung multipler, gleich-
zeitiger Interaktionen in den Kinderschuhen steckt.
12
Neben den Blütendüften spielt auch der Nektar eine
wichtige Rolle, um das Verhalten der Bestäuber zu be-
einflussen. Manche Pflanzen können die Menge an produ-
ziertem Nektar kontrollieren und gezielt verändern.
Ein frappantes Beispiel hierfür hat ein Team um Ma-
rine Veits von der Universität Tel Aviv 2019
13
veröf-
fentlicht: Nachtkerzen (Oenothera drummondii), die tags-
über von Bienen und nachts von Falkenmotten bestäubt
werden, hören das Summen ihrer Bestäuber und erhöhen
innerhalb weniger Minuten den Zuckergehalt ihres Nek-
tars. Die Forscher und Wissenschaftlerinnen nahmen
Summgeräusche von Bienen und Falkenmotten auf Ton-
band auf und spielten Aufnahmen mit gleichen und mit
anderen Frequenzen 650 Nachtkerzenpflanzen vor. Das
Ergebnis: Die Nachtkerzen steigerten die Zuckerkonzen-
19
tration im Nektar innerhalb von nur drei Minuten(!) um
20 Prozent. Auf die Summgeräusche anderer Insekten
(mit anderen Frequenzen) reagierten die Nachtkerzenblü-
ten hingegen nicht. Nachtkerzen hören also das Summ-
geräusch von Bienen und Falkenmotten, interpretieren es
richtig und produzieren sehr schnell mehr Belohnung für
ihre Pollentransporteure.
14
Eine Pflanze kann nicht nur die Menge ihres Nektars,
sondern auch dessen Chemie variieren. Nektar ist mehr
als bloss eine zuckrige Belohnung für die Pollentrans-
porteure. Neben Zuckerverbindungen und Aminosäuren
enthält Nektar meist verschiedenste andere chemische
Inhaltsstoffe,
15
mit denen Pflanzen das Verhalten ihrer
Bestäuber manipulieren.
16
Von Bienen und Insekten kennt man das schon lange:
Sie können sich an vergangene Erfahrungen erinnern und
daraus lernen. Das hatte Karl von Frisch (1886–1982),
der Entdecker des Bienentanzes, bereits 1919 gezeigt. Er
trainierte Bienen darauf, einen bestimmten Geruch, der
Zuckerwasser versprach, erkennen zu lernen. Die Bie-
nen erinnerten sich auch später daran, sie flogen sofort
auf diesen Geruch zu. Bienen begreifen, dass bestimmte
Düfte Futter verheissen, andere nicht. Sie sind lernfähig,
und sie treffen Entscheidungen. Dank ihrer Lernfähigkeit
können sie schnell und flexibel auf Veränderungen in der
Umwelt reagieren.
Und Pflanzen? Können auch sie lernen, also ihr Ver-
halten als Resultat früherer Erfahrungen ändern? Kön-
nen Pflanzen sogar trainiert werden? Das ist Thema des
nächsten Kapitels.
20
Pflanzen manipulieren Hummeln – mit Nikotin im Nektar
Tabak- und manche Zitruspflanzen mischen ihrem Nektar etwas
Nikotin bei. Warum? Um das herauszufinden, benutzten David
Baracchi von der Universität Toulouse und sein Team im Labor
künstliche Blumen, deren Nektar etwas Nikotin, und solche,
deren Nektar kein Nikotin enthielt. Das Ergebnis war deutlich:
Die Hummeln bevorzugten die Blüten mit nikotinhaltigem Nektar,
auch wenn diese weniger von der süssen Verlockung enthielten.
Sie wurden abhängig, ja süchtig und blieben den Blüten treu
ein grosser Vorteil für diese Pflanzen. Dank des Nikotins lernten
die Hummeln auch signifikant schneller, die nikotinhaltigen Blüten
an ihrer Farbe zu erkennen.
17
Hummeln manipulieren Pflanzen – mit einem Trick
Wenn eine Hummelkönigin aus dem Winterschlaf kommt, braucht
sie Pollen und Nektar, um eine neue Kolonie zu gründen. Wacht
sie zu früh auf, könnte es nicht genügend blühende Blumen ge-
ben. Die Hummeln behelfen sich in dieser Situation mit einem
Trick. Ein Team um Consuelo De Moraes von der ETH Zürich
entdeckte mehr zufällig, dass Hummeln manchmal kleine Löcher
in Tomatenblätter knabbern, ohne diese zu essen. Doch der Ef-
fekt war verblüffend: Die angenagten Tomaten blühten einen Mo-
nat vor ihrem eigentlichen Termin. Schwarzen Senf konnten die
Hummeln zwei Wochen früher zum Blühen bringen, wenn sie
Löchlein in dessen Blätter bissen. Das Team wollte sichergehen,
dass es sich hier nicht um einen Zufall handelte, und verglich
hungrige mit wohlgenährten Hummeln: Die hungrigen Hummeln
bissen etwa viermal mehr Löcher in die Blätter als solche, die
satt waren. Warum und wie dieser Trick funktioniert, weiss man
noch nicht. Das Team schnitt selber ähnlich kleine Löcher in die
Blätter: Auch diese Pflanzen blühten früher, jedoch weniger früh,
als wenn Hummeln daran geknabbert hätten. Das lässt vermuten,
dass die Hummeln chemische Wirkstoffe aus ihrem Speichel in
die Blätter einspritzen, wenn sie sie anbeissen und die Pflanze
auf diese Weise dazu anregen, früher zu blühen.
18