LENOS
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LP 234
www.lenos.ch
Ella Maillart
Ti-Puss
Drei Jahre in Indien mit meiner Katze
Aus dem Englischen
von Ursula von Wiese
Mit 18 Fotos
Lenos Verlag
Die Autorin
Ella Maillart (1903–1997) wuchs in Genf auf und war in vielerlei Hinsicht
eine Wegbereiterin. Die hervorragende Sportlerin vertrat 1924 die Schweiz an
den Olympischen Spielen in Paris im Einhandsegeln. Von 1930 bis ins hohe
Alter unternahm sie zahlreiche Reisen, u. a. in die Sowjetunion, nach Afghani-
stan, China, Tibet, Indien und Nepal.
Sie schrieb, fotograerte und hielt Vorträge über ihre Expeditionen. Mit ihren
Werken Verbotene Reise und Turkestan Solo erlangte sie internationale Anerken-
nung als Asienkennerin, Reiseschriftstellerin und Fotogran.
Titel der englischen Originalausgabe:
’Ti-Puss
Copyright © Anneliese Hollmann, 1951
Published by arrangement with Agence littéraire Astier-Pécher
All rights reserved
Die deutsche Erstausgabe erschien 1954 im Albert Müller Verlag,
Rüschlikon/Zürich.
Für die vorliegende Ausgabe wurde die Übersetzung durchgesehen und
vervollständigt.
Der Verlag erklärt sich nach den üblichen Regularien zur Abgeltung der
Rechte an der deutschen Übersetzung bereit, falls diese nachgewiesen werden
können.
LP 234
Erste Auflage 2023
Copyright © 2023 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 834 3
MIX
Papier
FSC
®
C083411
®
Inhalt
1 Tiruvannamalai 9
2 Erster Spaziergang 20
3 Erste Reise 32
4 Kodaikanal 51
5 »Blackburn« 62
6 Courtallam 68
7 Raipur – der erste Verlust 78
8 Benares 91
9 Zwischenspiel in Vellore 102
10 Die Pfauenhütte 107
11 Trivandrum 124
12 Kodai Road Junction – der zweite Verlust 147
13 »Illum« 158
14 Beisammen 169
15 Kap Comorin 186
16 Der Grosse Teich 203
17 »Homewood« 215
18 »Skebawn« 228
19 Gen Norden 247
20 Kalimpong 256
21 Tibet – der dritte Verlust 267
Für Lewis ompson,
der mich ermutigte, diese Geschichte aufzuschreiben,
weil Ti-Puss es verstand, die Fülle des gegenwärtigen
Augenblicks zu leben.
In memoriam
»Man kennt nur die Dinge, die man zähmt«, sagte der
Fuchs. »Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgend etwas
kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäf-
ten. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die
Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so
zähme mich!«
*
»Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht
deine Rose so wichtig. Die Menschen haben diese Weisheit
vergessen«, sagte der Fuchs. »Aber du darfst sie nicht verges-
sen. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir
vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwort-
lich …«
Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz
(Deutsch von Grete und Josef Leitgeb)
9
1
Tiruvannamalai
Sie hiess mit vollem Namen Mrs. Minou Wildhusband,
geborene Ti-Puss Push-i-kin.
Elegante Damen fanden sie zu mager und hässlich.
Intelligente Menschen bemerkten nachdenklich, ihre
feurigen Augen seien bezaubernd.
Tierliebhaber riefen sogleich: »Was für ein wundervol-
les Geschöpf!«
Eine Freundin von mir ging so weit, zu einem ge-
meinsamen Bekannten zu sagen: »Ellas Katze? Das ist gar
keine Katze, sie ist ja erzogen wie ein Hund!«
Wenn die Höflichkeit mich zwang, über sie zu spre-
chen, murmelte ich nur bescheiden, der Charakter sei
ausschlaggebend. Nie versuchte ich jemand zu überzeu-
gen, dass Ti-Puss das Urbild des Katzenwesens sei Lei-
denschaft, Geschmeidigkeit und Schönheit in allen Stim-
mungen.
Sie badete im Ganges und reiste durch ganz Indien.
Sie kam zum Maharischi, dem grossen Seher und Wei-
sen von Tiruvannamalai: Er streichelte ihren Kopf, als
sie neugierig das Lager beschnupperte, auf dem er den
ganzen Tag nackt sass. Sie war auch beim Meister von
Trivandrum zu Besuch, der mit ihr Ball spielte. Welch
seltenes Schicksal für eine Katze!
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Aber ich will mit dem Anfang beginnen: In einem
Schrank säugte eine getigerte Katzenmutter drei Junge.
Zwei waren teilweise weiss; das dritte Kätzchen, das leb-
hafteste, hatte Pantherabzeichen in einem dünnen grauen
Fell. Es erinnerte mich an unsere Katze daheim bei Genf,
ein reizendes Tier, das uns immer am Bahnhof abholte,
wenn wir nach Hause kamen, und an stürmischen Nach-
mittagen auf dem glatten Kies am Seeufer kauerte, um
ammenschnell die kleinen Sardinen zu erhaschen, die
leichtsinnig aus dem klaren Wasser aufschossen. Wenn
wir sie im Ruderboot mitnahmen und das Ufer allzuweit
entschwand, wurde ihr ein wenig unbehaglich zumute,
und sie sprang über Bord; dann paddelte das kleine Ge-
schöpf mit allen vieren über die Bucht, Schnurrhaare,
Nase und Ohren aus dem Wasser streckend, den Schwanz
aufgerichtet wie ein Periskop, so setzte das mutige Tier
seinen Willen durch.
Aber in der trockenen Hitze Südindiens, wo ich ein
Kätzchen auswählte, war ich weit fort von der Kühle die-
ses blauen Sees.
Sujata brachte uns zusammen, Sujata, die stille Fran-
zösin, die mit einem Inder verheiratet war.
Ich fühlte mich einsam und hätte deshalb gern ein Tier
um mich gehabt. Ich war nach Tiruvannamalai gekom-
men, um in der Nähe eines Lehrers zu sein, der das We-
sen der Hinduweisheit verkörperte; ein Kurs für Anfänger
wäre am besten für mich gewesen, statt dessen schlug ich
mich mit dem Vedanta, dem »Ende des Vedas«, herum
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und lauschte sogleich den höchsten metaphysischen Leh-
ren. Ausserdem hatte ich gerade unter viel Plackerei ein
weiteres Buch über meine Reisen in Innerasien beendet;
und mein Gemüt verlangte als Belohnung ein lebendiges
Spielzeug, das ich liebkosen könnte, wenn ich die Wirk-
lichkeit aus meinen Sorgen und vorgefassten Ansichten
verbannen wollte. Ich wollte wieder lächeln!
Mein Wunsch muss tatsächlich stark gewesen sein:
Binnen einer Woche wurde er erfüllt! So erkläre ich es
mir, dass Sujata ihre Meditation unterbrach und mich
leise fragte: »Möchtest du ein Kätzchen haben?«
Schnell antwortete ich: »Ja.«
Unter vielen Hindus sassen wir mit untergeschlage-
nen Beinen auf dem Fliesenboden und blickten stumm
auf den Weisen, die Frauen an der Wand beim Eingang,
die Männer in der Mitte des langen Raumes. Ich sollte
wieder eine Katze haben! Ich musste für das kleine Ding
eine Schachtel beschaen, auch eine Sandpfanne. O weh!
Mein Versuch, über ein bestimmtes ema nachzusin-
nen, war gescheitert. Ein kleines Tier trat in mein Leben
ein!
Damals ahnte ich nicht, welch starkes Gefühl uns
verbinden sollte, was für Sorgen wir einander bereiten
würden und was für tiefe Gedanken dieses Tier in mir
auslösen sollte.
Narayan, Sujatas dunkelhäutiger Koch, klopfte an meine
Türe, die aus zwei Brettern mit einem Vorhängeschloss
bestand und zu der man in dem kleinen indischen Hause
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über zwölf Stufen gelangte. »Die Mutterkatze hat keine
Milch mehr bei diesem heissen Wetter, deshalb bringe ich
Ihnen das Kätzchen, obwohl es noch kaum laufen kann.«
»Gut, halte es fest, bis ich mit Sand zurückkomme!«
Als das dunkelgeeckte grauseidene Würstchen behut-
sam auf den Fliesenboden gesetzt wurde, versuchte es um-
herzulaufen. Es vermochte sein Gleichgewicht nicht zu
halten, da die zitternden Beine es nicht trugen; nicht etwa
aus Angst, sondern weil es noch so klein war, seine Reise
zu mir war ja kurz und leicht gewesen! Narayan hatte nur
die breite Strasse an der westlichen Mauer des wuchtigen
Tempels benutzt, der sich am Fusse des Arunachala erhebt,
des pyramidenförmigen heiligen Berges, der aus Felsge-
stein und zerzaustem Gebüsch besteht. (Sujata wohnte in
der Strasse der Brahmanen an der Nordseite des Tempels,
ich selbst in der bescheideneren Strasse der Tanzmädchen
an der Südseite desselben grossen Tempels.)
Das Kätzchen zitterte: Dies waren wohl seine ersten
Entdeckungsschritte auf indischem Boden. Es war ein
hässliches Geschöpf: Die Ohren, über denen ein Büschel
dunkler Haare stand, waren viel zu gross, das Fell zu arm-
selig, und die schlae rosa Hauttasche, die das Bäuchlein
vorstellte, schleifte beinahe über die roten Fliesen.
Narayan war gegangen. Ich eilte hinunter und erklärte
meiner Wirtin, die nur Tamil sprach, mit Gesten, warum
ein Mann mein Zimmer betreten hatte. Ich wollte ihr
Anstandsgefühl nicht verletzen, zumal meine westliche
Lebensweise in ihren Augen ohnehin reichlich anstössig
war.
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Wieder in meinem Zimmer, stellte ich eine Untertasse
voll Milch vor das Kätzchen, das alsogleich den Fuss hin-
einsetzte; dann steckte es die Nase in die weisse Flüssig-
keit und nieste; es erneuerte den Angri, jedesmal die
Entfernung besser berechnend. Das Schwänzchen war
steil aufgerichtet, während das kleine Tier in ungeschick-
ten Schlucken trank.
Geistesabwesend beobachtete ich diesen Vorgang, der
bei allen Kätzchen gleich ist. Ob das Tier wohl meinen
Mangel an Begeisterung spürte? Es unternahm schnell
drei Dinge, wodurch es sich mein Herz eroberte.
Es schnüelte an der sauberen Sandpfanne, betrat die
Arena, hockte sich nieder und verrichtete bedächtig sein
Geschäftchen. Darüber freute ich mich besonders, denn
ich hatte keine Dienerin, die mir im Falle schlechten
Betragens den Boden gesäubert hätte; ich war meine
eigene Putzfrau, da mir mein kastenloser Stand diese
Geldersparnis erlaubte. Ich besass einen Handbesen aus
grobem Heu und sammelte den zusammengekehrten
Staub zwischen zwei Postkarten die Schweizer An-
sichtskarten sind steif und eignen sich für diesen Zweck
am besten.
Das zweite Unternehmen: Sein Lager bestand aus ei-
ner Schachtel, die mit einem alten Seidenhemd gepol-
stert war; das Kätzchen kletterte über den nachgebenden
Rand, el hinein, setzte sich auf, blickte sich verständnis-
voll um – und sprang plötzlich heraus! Entzückt über die
Entdeckung, dass es die Kletterei über die schwankende
Wand vermeiden konnte, wiederholte es die Heldentat,
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bezwang das Hindernis nochmals durch einen Sprung
und kehrte so in sein Nest zurück.
Doch wieder kam es heraus, diesmal, um mich, diese
stille Erscheinung, zu ergründen. Ich sass in dem Liege-
stuhl, den Sujata mir gegeben hatte, als sie erfuhr, dass
ich mir ein solches Möbelstück aus dem weitentfernten
Madras kommen lassen wollte. Sonst verfügte ich nur
über zwei Seifenkisten, die als Tische dienten. Nach
fruchtlosen Versuchen, an meinem Kattunhosenbein em-
porzuklettern, entschied das Kätzchen, dass das Hinter-
bein des Liegestuhls mehr Erfolg verhiess. Ein paarmal
misslang das dritte Unternehmen, dann gelangte es hoch
genug, um sich am Sto des Sitzes anzukrallen, und es
landete in meinem Schoss. Ein tiefes Schnurren war sein
Triumphgesang.
Rani, die dreijährige Enkelin meiner stillen Wirtin,
hatte ein kränkliches Kätzchen besessen, das durch allzu-
viel liebevolles Drücken zugrunde gegangen war. Dieses
Kätzchen hatte die Gewohnheit gehabt, sich zu mir zu
üchten, und drei lange Besuche waren notwendig ge-
wesen, um es den gleichen Weg zu mir nden zu lassen,
obwohl es mehr als doppelt so alt gewesen war wie meine
neue Gefährtin. Auf französisch sprach ich nun zum er-
stenmal zärtlich zu meinem Kätzchen: »Brave petit pussy!«
Das war der Ursprung seines Namens »Ti-Puss«. Und
von da an war Ti-Puss eine Sie für mich.
Ihre breiten Ohren bewegten sich unablässig, wie auf
Drehscheiben montiert; wenn die Spitzen sich zu mei-
nem Gesicht richteten, schien es, als könnte sie nichts
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sehen, ohne die Ohren zu benutzen. Sie wollte meine
redenden Lippen berühren, streckte ihr allzu kurzes
Pfötchen aus und erwiderte mein Lächeln, den in ihren
Augen lauernden Übermut halb verschleiernd. Welch
rascher Fortschritt, dachte ich erfreut; wir lächeln uns
schon an … Aber nein, das Kätzchen schlief ein!
Ich verbrachte meine Tage im Aschram des Weisen (etwa
anderthalb Kilometer ausserhalb der Stadt) und ass in
seiner Nähe in einem grossen Speisesaal zu Mittag. Dort
badete ich auch täglich. Wenn ich abends heimkehrte,
freute ich mich immer über den Willkomm der unge-
duldigen Ti-Puss, die hinter der Türe miaute und dann
schnurrte, sowie ich sie berührte.
Wie spielten wir zusammen, welch hohe Sprünge voll-
führte sie und was für kühne Purzelbäume erfand sie,
wenn sie einer Schnur nachjagte, die über den Boden
zuckte oder an der Rückenlehne des Stuhles baumelte!
Welche Versteckspiele, bei denen wir einander erschreck-
ten und das Kätzchen den kurzen aumigen Schwanz ge-
rade aufgerichtet wie einen Weihnachtsbaum hielt! Was
für heldenhafte Sprünge nach einem tanzenden Ping-
pongball! Aber ich konnte die Hände nicht lange von ihr
lassen. Es tat gut, den geschmeidigen Rücken zu fühlen,
die weisse Kehle zu küssen, wo das warme Schnurren vi-
brierte, und den sauberen, milchgenährten Körper dieses
kleinen Lebewesens zu riechen.
Sie beklagte sich, sobald wir getrennt waren. Wenn sie
auf meiner Schulter sass, schnupperte sie oft an meinem
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kurzen Haar, suchte etwas und war enttäuscht, nachdem
sie einen Versuch gemacht hatte, hinter meinem Ohr zu
saugen. Während ich mir auf der Terrasse, wo ich auf die
Strasse spucken konnte, die Zähne putzte, kauerte sie auf
meinem Fuss und knabberte an den Zehen, die die San-
dale frei liess.
Beim Schlafengehen spielte sich Tag für Tag folgen-
des ab: Ich brachte meine Sachen auf die kleine Terrasse
hinaus, wo es kühler war als in dem unter dem Dach lie-
genden Zimmer, das die Hitze des Tages aufspeicherte.
Dann bettete ich mich auf meinen Schlafsack, nachdem
ich eine Decke in erreichbare Nähe gelegt hatte, um mich
vor der Zugluft zu schützen, die in der falschen Dämme-
rung entsteht, vor der Zugluft der bleifarbenen Stunde,
in der Scharen von Krähen angstvoll krächzend vor dem
kommenden Tage iehen. Diese weiche Decke bestand
aus brauner Vikunjawolle, einer weichen Wolle, die Ti-
Puss in wildes Entzücken versetzte. Sie bepfotete sie und
knetete sie mit rhythmischer Tatkraft, wobei sie beseligt
die Augen schloss und sabberte. Diese Decke war das Ge-
schenk eines mitleidigen Zuhörers, der mich bei einem
vor langer Zeit in London gehaltenen Vortrag frieren ge-
sehen hatte; jeden Tag wollte ich sie retten, aber jeden
Tag fehlte mir der Mut, meine mutterlose Puss einer sol-
chen Freude zu berauben.
Schliesslich el sie erschöpft neben mir nieder, ihr
Schnurren erstarb allmählich, während ich dem unab-
lässigen Rauschen des nahen Pipalbaumes lauschte, der
mich ein wenig an unsere grosse Pappel daheim erin-
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nerte. Aber das ferne Schlagen der Tamtams gemahnte
daran, dass dies ein tropisches Land war, wo Beschwö-
rungen die Götter am Leben erhalten.
Die Bettler wimmerten schon ihr »Lalà batschàri!«
auf ihrem Abendgang, als ich eines Tages später als ge-
wöhnlich zurückkehrte. Ich nahm den Krug mit der von
meinem Kätzchen ungeduldig erwarteten Milch von der
Treppe und önete das Türschloss so schnell wie mög-
lich. Ich hörte nicht das übliche »Mi-mi!«, das mir sonst
immer sagte, wie sehnsüchtig ich begehrt wurde. Das
kleine Geschöpf war nicht in seiner Schachtel, auch nicht
hinter den Büchern Ich zündete meine Petroleum-
lampe an, suchte überall und schaute sogar in meinem
Reisesack nach.
Die dunkle Terrasse war ebenfalls leer das Kätzchen
konnte nämlich unter den Rolläden durchschlüpfen. »Ti-
Puss? Meine Ti-Puss, wo bist du? Komm zu mir! Bist du
hinuntergefallen?« Ich erhielt keine Antwort.
Hatte ein umherstreifender Ae sie entführt, vielleicht
der Frechdachs, der mit meiner Seife entronnen war?
Hatte meine Wirtin auf der Terrasse Hirse getrocknet,
und war Ti-Puss bei dieser Gelegenheit entwischt?
Die gute Frau wusste von nichts. Die kleine Rani, die
neben ihrer Mutter auf einem zusammengelegten Sari
schlief, stand sehr besorgt auf. Sie trug einen langen,
weiten Rock, aber ihr Oberkörper war nackt. Ihre Haut,
die nie schweissfeucht war, schimmerte purpurn in ihren
braunen Schattierungen. Sie kam mit mir, um Ti-Puss zu
suchen.
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Von Natur pessimistisch, war ich auf das Schlimm-
ste gefasst. Wir gingen sofort zu der kleinen Gasse hin-
ter unserem Hause, in der Honung, dass ein Loch der
geduldigen grauen Pelzkugel Schutz gewähren würde.
Nichts war zu sehen ausser der viereckigen Spalte in der
Mauer, durch die der Strassenkehrer die Latrinen rei-
nigte. Ich nahm Rani bei der Hand, als wir an einem
grunzenden Schwein vorbeimussten; wir kehrten zu der
sehr breiten westseitigen Strasse am Fuss meiner Terrasse
zurück – unser Haus hatte drei Seiten, da es das letzte in
der Strasse war. Und dort, o Freude, versteckte sich das
Kätzchen, fast unsichtbar, an der Türe unseres kleinen
Stalles.
Ti-Puss wurde erst ruhig, als sie sich auf der weichen
Vikunjadecke befand. Sie war vermutlich von der Regen-
rinne gefallen, als sie den Kopf geschüttelt hatte: Sogar
auf dem Fussboden verlor sie immer das Gleichgewicht,
wenn sie diese Bewegung machte. Nach dem Tauchen
schüttelt sich ein Schwimmer auf die gleiche Weise, um
das Wasser aus den Ohren zu bekommen. Vielleicht
stimmte etwas mit ihren Ohren nicht?
Ich freute mich, das kleine Herz wieder neben mir
klopfen zu fühlen; aber während der Suche war mir in
meiner Angst, ein streunender Hund hätte ihr den Garaus
gemacht, der Gedanke durch den Kopf gezuckt: »Früher
oder später muss ich Puss verlieren. Die Lehre sagt: ›Man
wird dort getroen, wo man am stärksten gebunden ist.
Beschränkte oder blinde Liebe verhindert unser Wachsen
ins Grenzenlose.‹«
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Dieses ungewöhnliche Kätzchen erweckte von neuem
meine Zärtlichkeit, und während ich mit ihm spielte
oder es tröstete, vernahm ich belustigt die vollen, war-
men Töne, die meine Stimme ganz veränderten. Aus frü-
heren Erfahrungen wusste ich, was das bedeutete: Bald
würde ich wegen der kleinen Charmeurin alle Vernunft
verlieren und ihr damit lästig werden. Konnte ich denn
nicht einmal klüger sein?
Voraussichtlich würden wir jahrelang zusammenleben.
War es nicht vielleicht möglich, diesmal ausgeglichener
zu sein, wenn ich mich bemühte, sie zu verstehen, sie zu
achten und sie auf die richtige Weise zu lieben, indem ich
sie sie selbst bleiben liess? Wäre das zuviel verlangt nur
um eines Tieres willen? Ganz und gar nicht, der Versuch
lohnte sich, wenn wir als Ergebnis allmählich eine voll-
kommene Beziehung erreichten! Ach, eine traurige Zeit
sollte kommen, in der ich diesen weisen Vorsatz vergass.
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2
Erster Spaziergang
Fünf Wochen war sie alt. Ihr Körper hatte sich gestreckt,
sie konnte sich schon in neuen Stellungen zusammen-
rollen und sich die Schenkel lecken. Doch es gab noch
etwas Lustigeres, das uralte Spiel des Schwanzjagens! Je-
des andere Spielzeug hatte seinen Reiz verloren, seit sie
die verlockende aumige Quaste entdeckt hatte, die so
schwer mit den zarten, elastischen Ballen ihrer Pfötchen
zu beherrschen war. Was den Spieltrieb betrit, so ist die
Katze ja daraus gemacht!
Täglich veränderte sich das Kätzchen. Das Gesicht,
nun nicht mehr viereckig, wurde dreieckig, bestimmt
von den zwei Spitzen der Ohren und der zugespitzten
Schnauze; die runden Augen mit dem äusserst erstaun-
ten Ausdruck eines Clowns wurden gross und oval und
verengten sich in dunklen Winkeln; auch die Krallen
wuchsen zu scharfen Dornen, die sich manchmal schwer
abschütteln liessen.
Ihr erster Sprung durch die Luft war falsch berechnet:
Sie landete ungeschickt vor der Schachtel und schaute
mich an, ohne den Kopf zu heben, die halbe Pupille
wurde vom oberen Lid verborgen. Es war ein trauriger
Blick gekränkter Unschuld ich lachte laut! Sie kehrte
mir den Rücken und sass tiefverletzt da Ich musste
sie auf den Arm nehmen und sie liebkosen, bis sie, mir
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verzeihend, schnurrte und sich den hellen Bauch strei-
cheln liess, der sich bezaubernd anfühlte so rosa, zart,
babyhaft, warm von Leben und so dünn bedeckt mit
glänzendem Flaum, dass er eher wie ein Blütenblatt als
ein Tierfell war.
Als ich sie eines Morgens verlassen wollte, klang ihr
Miauen so rührend, dass ich beschloss, sie auf dem Arm
mitzunehmen. An diesem Tage war der Weg, den ich so
gut kannte, ganz anders; ich betrachtete ihn durch Ti-
Puss staunende Augen, und mit ihrer Hilfe sollte ich
allmählich die Wohltat eines anderen Weltbildes erle-
ben. Da war das rätselhafte schwarze Gewölbe des ste-
ten, jedoch sich bewegenden Schirmes, der mich vor der
sengenden Sonne schützte das Rumpeln der Ochsen-
karren, die zu Markte fuhren das Geschrei der Stras-
senjungen, die sich täglich einen Sport daraus machten,
mir »Ellakaka! Ellakaka!« zuzurufen. Der Schirm verbarg
meine Verlegenheit, während ich mich fragte, woher sie
wohl meinen Namen wussten. Die Furcht war stärker als
die Neugier, und Ti-Puss verkroch sich in meine Bluse.
Bisweilen wies ein Vorübergehender wie beneidete ich
sie um ihren nackten Oberkörper, dessen Schweiss vom
sanften Wind weggefächelt wurde die Kinder zur Ruhe,
aber erfolglos. (Später erfuhr ich, dass ihr Singsang »Vel-
lakaran« hiess, was auf Tamil »weisser Mensch« bedeutet.)
Hinter der letzten strohgedeckten Hütte beäugte Ti-
Puss die gerippeartigen Hunde, die in der öden Gegend
nach Abfällen suchten. Ein Geräusch erschreckte sie, und
sie konnte nicht sehen, dass es meine Sandalen waren,
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die gegen die nackten Fersen schlugen, wenn ich sie vom
Staub der Strasse hob.
Wieder mutig geworden, schnüelte das Kätzchen zu
der Zisterne hinüber, wo Ochsen gewaschen wurden.
Aber es wurde von neuem unruhig, als wir in die Land-
strasse einbogen, die raunende Tamarinden säumten.
Schwitzende Kulis trugen Lasten auf dem Kopf, ihr Gang
war ein federnder Trab; Bäuerinnen, die in Rot gehüllt
waren, plapperten wie tolle Papageien, während sie im
Schatten einer alten Mandapa ausruhten, einer dreisei-
tigen, aus festem Stein erbauten Halle, worin die Sänfte
der Tempelgottheit abgestellt werden kann, wenn Prozes-
sionen rings um den Berg ziehen.
Dann vernahmen wir rhythmisches Platschen: Auf
den dunklen Stufen eines steinernen Beckens klopften
Männer die nassen weissen Tücher aus, in denen sie ge-
badet hatten. Einer von ihnen richtete sich auf, und die
braune Haut auf den beiden parallelen Muskeln seines
dünnen Rückens schimmerte samten, indes er sein langes
Haar zu einem festen Nackenknoten schlang.
Wie gewöhnlich begleiteten mich einige Bettler mit
ihrem gedehnten Singsang; aber sie blieben stehen, als sie
mich ganz mit etwas beschäftigt sahen, das einem grauen
Eichhörnchen glich. Ich sprach mit dem Tier: »Meine Ti-
Puss! Hab keine Angst, du bist ja bei mir! Sie können
dich nicht fortnehmen!«
Die ganze Zeit waren wir am Fusse des Berges gegan-
gen, der rechts von uns lag; und als wir uns nun dem
Aschram näherten, überholte uns ein Staubwirbel, der so
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heftig vorbeifuhr, dass ich den Kopf des Kätzchens mit
der Hand schirmte. Ich rannte zu der Hütte des Gärt-
ners Kuppuswami und rettete mich hinein. Sein engli-
scher Herr hatte die beiden Schwestern meiner Ti-Puss
übernommen, und ich bat Kuppu, mein Kätzchen in den
Stunden zu hüten, die ich bei dem Weisen auf der andern
Strassenseite verbringen würde. Als ich Ti-Puss verliess,
war sie ins Spiel mit einer Erdnuss versunken.
Diesem ersten Ausug folgten viele andere als Übung
für unsere zukünftige Reise. Ich hatte beschlossen, sie in
den zwei Monaten, die ich in den Palani-Bergen verleben
wollte, nicht bei Fremden zu lassen. In der vorigen heis-
sen Jahreszeit hatte ich mich elend durch Tiruvannamalai
geschleppt, nicht vorhandene Kühlung gesucht und mich
wie ein Hund auf geieste Durchgänge gelegt: Ich hatte
keine Lust, das noch einmal zu erleben.
Ihre Angst, eine bekannte Umgebung zu verlassen,
verminderte sich von Mal zu Mal; doch die Heimkehr
bedeutete für sie immer eine freudige Überraschung. Wie
drückte sie die Wonne aus, wieder zu Hause zu sein! Zu-
allererst beschnüelte sie, allem Hunger zum Trotz, ihr
Spielzeug, erfand einen neuen Sprung nach der baumeln-
den Schnur und kam zu mir auf den Schoss, um hier
ihre Vorderpfoten, halb Samt, halb Nadeln, zu dehnen;
dann stimmte sie ihre Lieblingsmelodie an, klopfte die
Akkorde und blieb dabei vollkommen im Takt. Aber die
einzige »Musik« war mein Schmerzensgeschrei! Schnell
setzte ich ihr Milchreis vor.
Drei Jahre in Indien mit meiner Katze

Aus dem Englischen von Ursula von Wiese


LP 234
Paperback (vervollständigte Neuausgabe mit 18 Fotos)
ISBN 978-3-85787-834-3
Seiten 279
Erschienen 16. Januar 2023
€ 19.20 / Fr. 22.00

Eine Hauskatze, die der Schriftstellerin zur Reisebegleiterin wird – und zum Seelenspiegel.
— Der Tagesspiegel

Die Genfer Abenteurerin Ella Maillart verbrachte in den 1940er Jahren eine längere Zeit auf dem indischen Subkontinent, um Menschen, deren Kultur und Spiritualität zu entdecken – und auch sich selbst. Vom Kap Comorin, dem südlichsten Zipfel, durch den grünen Urwald bis in die Schneestürme des tibetischen Hochlands führte sie ihre Wanderschaft. Stets an ihrer Seite: Ti-Puss, ein halbwildes, ungestümes und sehr selbständiges Kätzchen, das in ihrer Pflege heranwächst und der Autorin zur Freundin und Gefährtin wird. Diese Wahlverwandtschaft zwischen Mensch und Tier lässt Ella Maillart Einsichten über das Wesen der Liebe, über Besitzansprüche und Verlustängste gewinnen, aber auch tiefe Erfüllung und Glück erfahren.

Reisebericht und Tagebuch einer besonderen Beziehung: Ella Maillarts persönlichstes Buch.

Pressestimmen

Ella Maillart reflektiert im vorliegenden Buch ihr Verhältnis zu ihrer Katze, die ihr mehr Gefährtin als Haustier ist. … Wer sich beim Lesen bewusstmacht, dass die Welt vor achtzig Jahren eine andere war, wird die Aufzeichnungen mit Gewinn, zuweilen mit einem Schmunzeln lesen und erkennen, wie fundamental sich Leben und Anschauungen geändert haben – oder vielleicht doch nicht so sehr.
— Maja Petzold, Seniorweb