LENOS
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LENOS POCKET 120
www.lenos.ch
Muhammad Mustagab
Irrnisse und Wirrnisse
des Knaben Numân
Blutbrennen
Zwei Novellen aus Ägypten
Aus dem Arabischen
von Hartmut Fähndrich und Edward Badeen
Lenos Verlag
Arabische Literatur im Lenos Verlag
Herausgegeben von Hartmut Fähndrich
Titel der arabischen Originalausgabe:
Min at-târîh
-
as-sirrî li-Nu‘mân ‘Abd al-H
.
âfiz
.
/ H
.
arq ad-dam
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde unterstützt durch litprom Ge-
sellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
in Zusammenarbeit mit der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.
LENOS POCKET 120
Erste Auflage 2009
Copyright © der deutschen Übersetzung
2009 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagbild: Effat
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 720 9
Irrnisse und Wirrnisse
des Knaben Numân
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Von Geburt und Genealogie
Niemand auf diesem weiten Erdenrund kann genau das Jahr
bestimmen, in dem Numân das Licht der Welt erblickte. Si-
cher ist: Der Deutsche Reichstag war Vorbereitung für die
Abservierung der Oppositionellen des Dritten Reichs durch
Adolf – bereits abgebrannt; auch Lenin war sicher schon tot
und hatte das sozialistische Russland seinem halsstarrigen
Nachfolger überantwortet. Weniger wahrscheinlich ist es,
dass Chamberlain sich bereits Grossbritanniens angenom-
men hatte; ebenso wenig ist anzunehmen, dass mein On-
kel Mihimmad (er hiess wirklich so, ja, nicht Muhammad)
bereits aus dem Gefängnis entlassen war, in das er wegen
des hartnäckigen Anbaus von Opiummohn inmitten der
Baumwolle geraten war ein Vorfall, der parallel zur Ge-
schichte mit der Uhr meines Grossvaters Hagg Mustagâb
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lief. Damit ist der ungefähre Zeitpunkt von Numâns Ge-
burt eingekreist, wir nnen also dieses Thema abschliessen
und all denjenigen Ansichten auf die Finger klopfen, die
versucht haben, unserem Mann am Zeug zu flicken.
Fest verbürgt ist, dass Numân am Mittag eines Hunds-
tags geboren wurde, zu einer Zeit, da der Ertrag des Nilmai-
ses zu reifen beginnt. Seine Mutter, Frau Umm Numân,
besass das Monopol r den Verkauf von Pökelfisch an den
Ufern des Jûssufkanals, der sich von nördlich der mme
von Dairût al-Scharîf bis zu den Buchten der Güter von
Abu Gabal dahinwindet. Dort, fern der dichtbewohnten
Flecken, in ihrer transportablen Hütte, deren Verschiebun-
gen den plötzlichen Überflutungswellen gehorchen, gebar
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sie ihn. Es ist nicht auszuschliessen, dass ihr bei der Geburt
jemand zur Hand ging, doch tut dies nichts zur Sache. Fest
steht jedenfalls, dass Numân zur Zeit, da britische Panzer
den Abdîn-Palast belagerten und Mustafa Nahhâs Pascha
mit der Regierungsbildung beauftragt wurde
*
, schon in der
Lage war, einen halben Palmstamm zu erklimmen oder in
den Seitenarmen des Jûssufkanals herumzupaddeln. Dies
wiederum passt haargenau zu einer weiteren Hypothese,
die in Scheich Abdalasîs Chalîls Version einmal die Runde
machte und der zu glauben wir persönlich geneigt sind. Da-
nach sei Numân eine gewisse Zeit nach dem Aufruhr
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ge-
boren. Doch ist es schwierig festzulegen, um welchen »Auf-
ruhr« es sich handelte: War es derjenige von Urâbi Pascha
im Jahre 1881 oder die Revolution von 1919, oder war es
gar der Aufruhr der Ghus – jener letzten, versprengten Os-
manensoldateska, die sich im Jahre 1934 mit den übrigen
Dörfern der Region schlug –, der mit dem Auszug mehrerer
Familien aus ihren Dörfern endete, die sich in die Bäuche
der Berge und auf die Schwingen der Täler begaben?
Dies alles veranlasst uns, andere, schwache Überlieferun-
gen auszuscheiden. Zum Beispiel jene Reminiszenzen seiner
einzigen Tante väterlicherseits, die später der Schwindsucht
zum Opfer fiel, sie habe, als sie die Nachricht von Numâns
Geburt vernahm, Tee trinkend im Hause eines Wach-
manns gesessen. Tee nämlich blieb nach seinem Auftreten
* Anfang Februar 1942 zwangen die Briten den ägyptischen König un-
ter Androhung von Waffengewalt, den Wafdführer Mustafa Nahs mit
der Regierungsbildung zu beauftragen.
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im Lande für längere Zeit, ja bis nach der Entlassung mei-
nes Onkels Mihimmad aus dem Gefängnis, ein Privileg der
gehobenen Schicht.
Zu den schwachen Überlieferungen gehört auch, Numân
Abdalhâfis sei während der Feier der Nacht von Scheich Ra-
bii Mursi Bilâl geboren. Bei der Überprüfung von Namen
und Nächten der im Dorf ebenso wie in der Region all-
gemein anerkannten Scheiche und bei der Diskussion mit
deren Jüngern und Fürbetern haben wir nämlich keinerlei
Bestätigung für die Existenz eines Scheichs dieses Namens
finden können.
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Es ist also, aufgrund der präzisesten Annahmen, so gut
wie gewiss, dass Numân die Welt am Ufer des Jûssufkanals
während der achtmalzwölfmonatigen Zeitspanne erblickte,
die mit dem Jahr 1930 einsetzt.
Abu Numân, Numâns Vater also, war Abdalhâfis
Chamîs, der einem Clan der Hadâjida entstammte, die
sich südlich von Dairût al-Scharîf niedergelassen haben. Er
gerte nicht zu den Vermögenden: weder durch Grund
und Boden noch durch Immobilien, noch durch Handel.
Dennoch besass er einzigartige Eigenschaften, die ihn zu
einer der berühmtesten Persönlichkeiten im ausgehenden
19. und beginnenden (erstes Drittel) 20. Jahrhundert mach-
ten. Er war ein Sportsmann, der seine läuferische Begabung
bei der Verfolgung der Esel der besseren Leute trainierte,
wenn diese sich vom Dorf nach Dairût-Station begaben, bei
klirrender Kälte ebenso wie bei sengender Hitze. Er war
schweigsam und ein wenig menschenscheu, so dass seine
sportlichen Neigungen ins Gerede kamen. Er hatte mlich
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begonnen, sich die Ernte einiger Bewohner anzueignen, des
Nachts und in kleinen Mengen, weshalb die so Geschädig-
ten sich gezwungen sahen, Mittel und Wege zu suchen, ihn
in flagranti zu ertappen. Doch Abdalhâfis Chamîs, ruhig,
wie er war, bot ihnen keinerlei Handhabe, ihre diesbezüg-
lichen Absichten in die Tat umzusetzen. Bald einmal ver-
schwand er für eine Weile und kehrte dann, mit ruhigem
Stolz ein Kamel führend, ins Dorf zurück. Abu Numân war
unabssig und unermüdlich an seinem Kamel beschäftigt,
abgesehen von wenigen Unterbrechungen etwa wenn die
Nacht von Scheich Abu Harûn gekommen war. Einen Tag
wie diesen erwartete er sehnlichst. Dann liess er sein Kamel
vor seinem Domizil niederknien und hastete mit weitauf-
gerissenem Mund und erwartungsvoll heiteren Zügen zum
Zelt der Tänzerinnen, um dort Zimttee zu schlürfen. Und
wenn eine von ihnen zum zwanzigsten oder fünfzigsten Mal
vor ihm vorüberschwebte, gerieten Abu Numâns Glieder in
Erregung. Er warf seine Filzkappe auf den Boden und tanzte
zitternd um sie herum, im hinreissend tosend geklatschten
Takt. Einmal ermüdet, liess er sich erschöpft auf die erst-
beste Bank fallen und zückte aus seiner Leinen gallabija eine
Münze, die er pompös der Tänzerin zuwarf. Danach ver-
weilte er wortlos bis zu den ersten Anzeichen des Morgens.
Eines Jahres nun geschah es, dass eine Tänzerin namens
Badrîja ihm keine Gelegenheit liess, nach Verrichtung sei-
ner Routine nachhause zurückzukehren. Sie richtete das
Wort an ihn, und so verstrickten sich die beiden in eine
deftige Beziehung, an der Abdalhâfis weiterkaute, bis be-
sagte Dame im folgenden Jahr wiederkam. Da ging er hin,
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verkaufte sein einziges Kamel und umkreiste fortan Badrîja
in Weilern, Dörfern und Städten, bis sich die Nachrichten
über ihn verloren.
In der Folge machten Vermutungen wir werden de-
ren Wahrheitsgehalt gleich entkräften die Runde, Abu
Numân habe den Tod durch rderhand gefunden, und
zwar im Muharrakkloster während christlicher Feierlichkei-
ten. Einige nner aus dem Dorf wollen seine Leiche mit
eigenen Augen gesehen haben. Nach Aussage anderer sei
der Mann im Rahmen der Revolution von 1919 bei dem
berühmten Angriff der Dorfbewohner auf den englischen
Zug ums Leben gekommen.
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Böswillige Zungen verbrei-
teten hingegen, er habe jene Tänzerin geehelicht und sei
dadurch in ihre Entourage geraten. Ein Reaktionär erzählte
gar, Abdalhâfis Chamîs sei in sich gegangen und habe sich
als Novize einem Wunderwirker irgendwo in den Bergen
angeschlossen.
Doch all dies üble Gerede wird durch die Tatsache ent-
kräftet, dass Abu Numân eines Feiertags zurückkehrte
zurück ins Dorf, zurück in die Gasse und zurück zur Gat-
tin, wortlos wie üblich, beladen mit Erfahrungen und dem
richtigen Bewusstsein, aber ohne Kamel. Eine Weile blieb
er verschlossen, dann ging er wieder seinen Lieblingsbe-
schäftigungen nach taub für Ratschläge, unzugänglich
r Ermahnungen, gleichgültig gegenüber Drohungen, bis
er den Bewohnern der Gasse unerträglich wurde, nicht nur
wegen seines Verhaltens auf den Feldern, sondern weil sich
zusätzlich noch das Verschwinden von Geflügel und klei-
nem Hausgetier aus der Gasse häufte.

Muhammad Mustagab
Irrnisse und Wirrnisse des Knaben Numân

Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich und Edward Badeen


E-Book
ISBN 978-3-85787-929-6
Seiten ca. 154
Erschienen 26. Juni 2015
€ 8.49

In seiner wunderbaren Satire erzählt uns Muhammad Mustagab von den Abenteuern Numâns, eines candidesken Toren aus dem Niltal. Schon in früher Kindheit für allerhand Missetaten berüchtigt und laut seiner Mutter wohl von einem bösen Dschinn befallen, nimmt ihn eine reiche Witwe zu sich und bringt ihm die Annehmlichkeiten des Stadtlebens nahe. Doch schon bald ist Numân zurück in seinem Dorf und wird Gehilfe eines Totengräbers. In einer weiteren Episode erlebt er die Turbulenzen um seine – verspätete – Beschneidung.

Muhammad Mustagab ist einer der Autoren der modernen arabischen Literatur, die sich am intensivsten mit der Mentalität des ägyptischen Dorfes und dessen Bewohnern befassen, und zugleich einer der spitzzüngigsten Schriftsteller seiner Zeit. Mit treffendem Humor nimmt er das Landleben aufs Korn, das sich zwischen Traditionen und Ritualen, Glauben und Aberglauben sowie den absurdesten Gerüchten und Streitereien abspielt. Dabei ist auch sein Spott über religiöse Traditionen unüberhörbar.

Pressestimmen

Die Übersetzer Hartmut Fähndrich und Edward Badeen haben sich mit spürbarem Genuss auf zwei Novellen gestürzt, die den Facettenreichtum des erst relativ spät zur Literatur gekommenen Autors ausweisen. In den Irrnissen und Wirrnissen des Knaben Numân mischt sich die recht handfeste dörfliche Vita Numâns, der schon im Kindesalter seinem nichtsnutzigen und längst entschwundenen Papa im Klauen und Verüben boshafter Streiche nicht nachsteht, mit einem pseudohistoriographischen Duktus, der sich bald in Fussnoten verliert, bald nach Art der Hadith – der Überlieferung von Taten und Worten des Propheten Mohammed – auf glaubwürdige und weniger glaubwürdige Quellen verweist; auch die eine und andere metafiktionale Reflexion ist in den zwischen Getragenheit und sprühendem Schalk irrlichternden Text eingeschossen.
— Neue Zürcher Zeitung