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Lenos Verlag
Gabrielle Alioth
Die Überlebenden
Roman
Die Autorin und der Verlag danken dem Fachausschuss Literatur
BS/BL für die grosszügige Förderung dieses Romanprojektes.
Erste Auflage 2021
Copyright © 2021 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: David Havel / Shutterstock
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 015 8
Die Überlebenden
August Stutz & Notburga Wipf
(1880–1968) (1878–1957)
Alfred Mina Nelly Willi Hildi
(1904–1988) (1906–1993) (1909–1994) (1915–1920) (1917–2002)
& Oskar Röderer & Erhard Messner & Karl Freiner
(1901–1973) (1905–1979) (1917–1998)
Gertrud Max (Maxli) Christine
(*1930) (*1938) (*1945)
& Rosie
Lisbeth Max jr. Astrid
(*1932) (*1970) (*1948)
& René
& Jane
Barbara (Bärbeli) Amber Vera
(*1935) (*1981) (*1955)
Ginger & Jens Engle
r
(*1983) (*1947)
Cissy
(*1986)
Wir, die Überlebenden, sehen alles von oben herunter,
sehen alles zugleich und wissen dennoch nicht,
wie es war.
W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn
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An dem Morgen, an dem wir Mutter beerdigten, schien
die Sonne. In den Wochen zuvor war ihr das Sprechen
wieder leichtergefallen, als habe der allmähliche Zerfall
ihres Gedächtnisses auch die Schranken, die sie sich selbst
vor Jahrzehnten gesetzt hatte, beseitigt. Es überraschte
mich nicht, zu hören, warum mein Grossvater tatsächlich
im Gefängnis gewesen war. Neben meinen beiden älteren
Schwestern ging ich in der grellen Januarsonne die von
Eiben gesäumte Allee zum Ausgang des Basler Friedhofs
hinunter; und eine Heiterkeit erfasste mich.
Es ist Nacht, und du stehst am Fenster. Obwohl man es
dir verboten hat, bist du aus dem Bett geschlüp wegen
der Flugzeuge. Man hört sie, bevor man sie sieht. Du bist
sechs Jahre alt, und es sind amerikanische Bomber, die
über Basel nach Deutschland iegen. Dort am Fenster in
jener Nacht gegen Ende des Krieges hast du beschlossen,
Flieger zu werden. So hast du es mir erzählt, Max.
Mein Grossvater sass stets in einem Korbstuhl in der Kü-
che seiner Dachwohnung, wenn wir ihn in Feuerthalen
besuchten. Meist ging meine Mutter zuerst allein zu ihm
hinauf, wir warteten im Wohnzimmer meiner Tante. Ich
sass auf der Eckbank, das weisse Tischtuch wie ein zu-
gefrorener Teich vor mir. Es gab Apfelsa und Kuchen,
Linzertorte mit einem dicken Rand, den man aufessen
musste. Meine Tante unterhielt sich mit meinem Vater,
manchmal waren wohl auch meine beiden Schwestern
dabei. Wenn meine Mutter die Treppe wieder herunter-
kam, sprach sie zuerst mit Mina, meiner Tante. Mein Va-
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ter fragte mich etwas. Bis ich geantwortet hatte, waren die
beiden Frauen sich einig. Manchmal setzte meine Mutter
sich zu uns an den Tisch, und nachdem sie auch ein Stück
Linzertorte gegessen hatte, fuhren wir nach Basel zurück.
Manchmal hiess sie uns aufstehen, strich uns die Haare,
die Blusen zurecht, und wir folgten ihr die Stufen in die
Dachwohnung hinauf.
Die Küche roch nach Dingen, die ich nicht gerne ass.
Der Korbstuhl stand neben dem Fenster. Er ächzte, wenn
Grossvater sich bewegte. Seine wässrigen Augen ruhten
auf mir, argwöhnisch, so kam es mir vor. Während er
mit meiner Mutter redete, betrachtete ich seinen eckigen
Schädel mit den weissen Haarbüscheln an den Schläfen,
die gekrümmte Nase, deren Spitze über seine schmalen
Lippen ragte. Seine Stimme war heiser. Ich glaube nicht,
dass er je ein Wort an mich richtete, und nach einiger Zeit
ging ich mit meiner Mutter wieder zu Tante Mina hinun-
ter, erleichtert und zugleich enttäuscht.
Ein Sonntagnachmittag im Hochsommer 1968, Zitro-
nenfalter schweben durch den Garten. Mein Vater sitzt
unter dem rot-weiss gestreiften Sonnenstoren und arbei-
tet. Meine Schwestern dösen in den Liegestühlen, meine
Mutter ist am Aufräumen in der Küche, oder vielleicht
hat sie sich hingelegt. Als es klingelt, werde ich an die
Haustür geschickt. Ich bin dreizehn Jahre alt, und vor mir
steht Elvis Presley. War es so, oder habe ich es mir spä-
ter so vorgestellt? Du trägst ein kariertes Hemd, Blue-
jeans, und du hast dein Haar in einer Tolle aus der Stirn
gekämmt wie Elvis Presley. So sitzt du auf dem Foto von
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jenem Sonntagnachmittag im Liegestuhl in unserem Gar-
ten in Riehen. Ich konnte nicht glauben, dass du mein
Cousin bist.
Ich weiss nicht mehr, was du an jenem Nachmittag
erzähltest, Max. Auf dem Foto siehst du glücklich aus,
und ich verstand erst später, dass du etwas mit dem Viet-
namkrieg zu tun hattest, den wir schwarzweiss in der
Tagesschau sahen. Du lädst uns zum Abendessen in ein
italienisches Restaurant ein, und es ist das erste Mal, dass
ich jemanden mit einer Kreditkarte bezahlen sehe. Nach
dem Essen verabschiedest du dich vor dem Restaurant in
der noch hellen Sommernacht. Es dauert dreiunddreissig
Jahre, bis ich dich wiedersehe.
*
Wie die Geschichte jeder Familie ist auch die meiner
erdichtet. Ich habe sie aus Erzähltem, Erinnertem, Er-
dachtem und Erträumtem zusammengefügt, so wie es
mir heute richtig erscheint. Aber schon bald kann sie sich
ganz anders darstellen, denn wir formen die Vergangen-
heit immer wieder neu, auf der Suche nach einer Erklä-
rung für unsere Gegenwart und in der Honung auf eine
Zukun.
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Mina
Sie faltet die Seiten und schiebt sie in den Ofen: 1937 wird
genauso gut brennen wie die Jahre davor. Sie schliesst die
Ofenklappe, bevor das Feuer die Blätter erfasst. Ein hal-
bes Jahrhundert ist vergangen, seit sie diese Briefe schrieb.
22. Januar 1938
Lieber Oskar,
allerlei Neuigkeiten habe ich Dir heute zu berichten, ich
weiss kaum, wo beginnen …
Während Mina die Kellertreppe hinaufsteigt, bemerkt sie
die Russspuren an ihren Fingern. Sie hat sich angewöhnt,
beim Treppensteigen auf ihre Hand am Geländer zu bli-
cken; die Stufen vor ihr lassen sie schwindeln. Ihre Finger
fahren über die Risse in der Bemalung des Geländers. An
manchen Stellen ist die weisse Deckfarbe abgeblättert
und entblösst eine dunklere Farbschicht darunter. Oskar
hatte ihr befohlen, die Kinder in den Keller zu sperren,
wenn sie nicht gehorchten. Sie schloss sie im
WC ein,
durch dessen vergittertes Fenster ein Stück Himmel zu
sehen ist. Mina schliesst die Kellertür. Sie schrieb Oskar
nicht, dass sie seine Anweisungen nicht befolgte.
Ende letzter Woche war ich vollständig erledigt. Die Arbeit
wuchs mir einfach über den Kopf. So muss ich nun Sonntag
für Sonntag Strümpfe icken, bevor ich die Kinder anzie-
hen kann. Meinen letzten Brief wollte ich tatsächlich aus-
führlicher schreiben, aber meine Zeit ist halt auch knapp
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bemessen, und es ist mir peinlich, dass aus diesem Grund
wichtige Mitteilungen ungewollt aufgeschoben werden.
Deine Schuhe sind bis heute nicht angekommen. Hast Du
sie abgeschickt?
Mina schrubbt ihre Hände über dem Slbecken in der
Küche mit der rste und dem Stück Kernseife, das sie
für hartnäckigen Schmutz verwendet. 1938 war sie zwei-
unddreissig Jahre alt, Mutter von drei Mädchen, und
Oskar, ihr Mann, arbeitete im Aussendienst der Georg-
Fischer-Werke. Welche wichtigen Mitteilungen hatte sie
damals ungewollt aufgeschoben? Sie trocknet die Hände
ab. Seit sie begonnen hat, die Briefe zu verbrennen, bilden
sich schwarze Ränder um die Ofenklappe. Das nächste
Mal wird sie einen Lappen mit in den Keller nehmen, um
die Russspuren wegzuwischen.
Bärbeli ist ein grossartiges Kindlein, so öhlich und zuie-
den, als wäre es hier im Paradies. Warum können wir nicht
auch wieder wie Kinder sein und uns in kindlicher Zuver-
sicht begegnen?
In der Stube setzt sie sich in den Sessel, den sie nach Oskars
Tod neu bespannen liess. Mit einem schmerzhaen Zie-
hen fügt sich ihr Rücken der Form der Lehne. Mina legt
den Kopf auf das weisse Schutztüchlein über dem altrosa
Samt und schliesst die Augen. Seit ihr Gehör nachlässt,
füllt sich das Haus mit Klängen: Kindergelächter, Stim-
men, und manchmal llt irgendwo eine Tür ins Schloss.
Zuerst hat sie versucht, sie auseinanderzuhalten, den Ver-
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kehrslärm, der nun bis spät in die Nacht von der Strasse
heruntertönt, von den Schritten auf dem Kies draussen zu
unterscheiden. Aber die Geräusche kommen alle aus der
gleichen Entfernung, und es gibt keinen Grund, die Ver-
gangenheit von der Gegenwart zu trennen.
7. Februar 1938
Lieber Oskar,
heute haben wir endlich Deinen Brief erhalten. Kam Dir
nicht auch ein Lächeln auf die Lippen, weil unsere Briefe,
die sich kreuzten, genau mit denselben Worten beginnen?
Es hat mir gezeigt, dass wir uns eigentlich viel besser verste-
hen, als wir o glauben.
Sie war einsam gewesen in Paris. Vater hatte ihr erlaubt,
ein Volontariat in der Küche der Zun zur Zimmerleuten
in Zürich zu machen, wo man ihn als Kantonsrat kannte.
Aber von ihrem Wunsch, Köchin zu werden, hielt er
nichts. Als Dienstmädchen in Frankreich verdiene sie
ihren eigenen Unterhalt. Sie wollte vorschlagen, die Aus-
lagen für ihre Lehrzeit zurückzuzahlen, wenn sie die Aus-
bildung fertig habe, aber Vater hob die Hand, noch wäh-
rend sie sprach. Einen Moment zögerte er, als überlege
er es sich nochmals, dann schlug er auf den Tisch. Kein
Wort wolle er mehr davon hören.
An einem Sonntagstreen des Schweizer Clubs in Pa-
ris fragte Oskar Röderer sie, ob sie Lust habe, mit ihm die
Seine entlangzuspazieren. Er trug weite Kniehosen mit
gestreiften Socken, wie es Mode war, und ein kariertes Ja-
ckett. Sie muss schäbig ausgesehen haben neben ihm in
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ihrem dunkelblauen Kleid und der Strickjacke. Er hörte
aufmerksam zu, als sie von zu Hause erzählte, stellte Fra-
gen. Es kam ihr wie ein Wunder vor, dass er ihre Bäckerei
in Feuerthalen kannte, die Schule, in die sie und ihre drei
Geschwister gegangen waren, und Oskar wusste auch,
dass ihr Vater, August Stutz, als Erster im Dorf ein Auto
gehabt hatte, eine schwarze Horch 8 Limousine. An ih-
rem nächsten freien Nachmittag lud Oskar sie zum Tee
ein. Sie merkte erst später, dass er meinte, sie sei eine gute
Partie.
Am Freitagvormittag habe ich den Zahltag von 158.80 Fr.
abgeholt. Bereits sind die Policen für die Kinder da (total
36.10), die ich nun einzahlen muss. Aus den Zeitungen
wirst Du gesehen haben, dass alle Lebensmittel aufgeschla-
gen haben. Ich konnte noch 3 kg Butter (ausgelassen) zum
alten Preis erhalten. Das Vollkornbrot kostet jetzt 40 .
Gottseidank haben wir ein beiedigendes Einkommen, und
ich versuche, durch noch einfachere Lebensweise die Teue-
rung für unseren Haushalt unbemerkbar zu machen (es
wird dies vielleicht nicht so leicht gelingen).
Sie hatte nicht an Liebe gedacht, während sie mit Oskar
die Seine entlangspazierte. Sie war einfach froh, den ver-
trauten Dialekt zu hören, und als er nach einigen Mona-
ten vorschlug zu heiraten, glaubte sie, die Liebe würde all-
mählich kommen, als Lohn für die Treue, die Fürsorge, die
Mühe. Er ist Monteur, erklärte Mina ihrer Mutter, als sie
nach Weihnachten für ein paar Tage nach Hause durfte.
Madame hatte sie über die Festtage gebraucht und ihr ein
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paar Handschuhe aus grauem Wildleder geschenkt. Sie la-
gen in Seidenpapier eingeschlagen in einer blauen Schach-
tel, auf der Articles de ganterie, Pariseingeprägt war.
Mutter stand in der Backstube vor der Waage und füllte
Paniermehl in Tüten. Er ist reformiert, fuhr Mina fort,
seine Eltern haben einen kleinen Bauernhof in Herblin-
gen, und sein Vater arbeitet zudem als Coieur. Die Röde-
rers sind einfache Leute, aber Darum geht es nicht, sagte
Mutter. Sie trug eine Backstubenschürze über der blauen
Werktagsbluse, und in ihrem Haar, das sie zu einem Kno-
ten im Nacken zusammengesteckt hatte, waren die ersten
grauen Strähnen zu sehen. Er wird auswärts sein, auf Mon-
tage, und du Die Ladenglocke klingelte, und Mutter
streifte die Schürze ab. Mina kam nicht dazu, zu erklären,
dass sie bereit war, sich das Glück zu verdienen.
Mina önet die Augen, und die Helligkeit überrascht
sie. Draussen hat es zu schneien begonnen, grosse, pelzige
Flocken, die im ersten Moment auch durch die Stube zu
wirbeln scheinen.
Sie war sicher, Vater würde Oskar abweisen, nachdem
Mutter bereits Zweifel geäussert hatte. Ohne Begründung,
dafür war es nicht wichtig genug, und sie würde nicht wa-
gen, Fragen zu stellen. Oskar trug einen neuen Anzug und
die dunkelrote Krawatte, die sie für ihn gehäkelt hatte. Sein
Gesicht war ernst an dem Sonntagnachmittag, als er Vaters
ro betrat. Mina wartete in der Stube mit Mutter, die die
Zeitungen der letzten Woche nachlas, und Hildi, ihrer
ngsten Schwester, die an einem Stück Sto herumnähte.
Der grüne Kachelofen verströmte eine zähe Wärme. Mina
horchte auf die Stimmen im Büro, aber sie waren nicht
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mehr als ein Murmeln. Sie betrachtete das Buet, in dem
das Sonntagsgeschirr mit den goldenen Rändern und dem
Rosenmuster aufbewahrt wurde, die Pendule, deren Zei-
ger kaum vom Fleck rückten. Sie rde nach Paris zurück-
kehren müssen, weiter für Madame arbeiten, und alle hier
zu Hause wüssten, dass sie sitzengeblieben war. Man würde
sie bemitleiden, auslachen. Als die Bürotür sich önete,
blickte Mutter von den Zeitungen auf, und Mina sah ein
Zucken um ihren Mund, bevor sie selbst den Kopf wandte.
Vaters Hand lag auf Oskars Schulter; Oskar grinste. Ein
junger Mann mit bürgerlichen Überzeugungen, urteilte
Vater später; er werde ihn für die Partei vorschlagen. An
dem Sonntag tranken sie zusammen Kaee aus dem Sonn-
tagsgeschirr, das plötzlich auf dem Tisch stand. Jemand
holte Kuchen aus dem Laden, Vater bot Oskar einen Stum-
pen an. Oskar strich Hildi über den Kopf und lobte die
Sonntagsschleifen an den Zöpfen der Elfjährigen. Mina
spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, nun würde sie
bald selbst Kinder haben.
Es war dunkel, als sie Oskar auf den Bahnhof beglei-
tete. Sie hatten ein Datum für die Verlobung festgelegt.
Oskar sprach von dem Haus, das sie mit Minas Mitgi
bauen würden. Als der Zug einfuhr, gri er nach ihrer
Schulter. Einen Moment zögerte er, als überlege er es sich
nochmals, dann küsste er sie auf den Mund.
30. April 1938
Lieber Oskar,
mit Sehnsucht habe ich einen Brief erwartet, der nun end-
lich heute Vormittag eingetroen ist. Tatsächlich war ich
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sehr überrascht, zu erfahren, dass Du nach Düsseldorf
fährst. Viel eher hätte ich gedacht, dass Du plötzlich einmal
daheim stehst.
Wäsche hatte ich ausnahmsweise am Samstag, damit
Du nicht in Verlegenheit kommst. Ich habe diesmal fünf
Wochen gewartet, was einen sehr anstrengenden Tag verur-
sachte, aber Hildi kam mir zu Hilfe, hängte auf und nahm
ab, so dass ich abends noch alle Kinder baden konnte, was
gleich im Wäschetrog geschah.
Waschtage, Putztage, Gartentage. Die Zeit war nach
Aufgaben geordnet, und jede Aufgabe hatte wieder eine
Ordnung: einweichen, aufbrühen, einseifen, spülen,
auswringen, aufhängen. In den ersten Jahren kam Oskar
manchmal unangekündigt nach Hause. Mina beteuerte,
sie und die Kinder freuten sich darüber, aber sie wusste,
dass er sie kontrollierte.
Hildi wohnte noch in der Bäckerei bei den Eltern.
Mutter hatte sie unterstützt, als sie sagte, sie wolle eine
kaufmännische Lehre machen, und zum Schluss hatte
Vater eingewilligt. Nun arbeitete sie in der Buchhaltung
der Strickmaschinenfabrik. Man hatte sie mit einem jun-
gen Mann in der Stadt gesehen, aber sie wich Minas Fra-
gen aus und begann von Nelly zu reden, die schwanger
war. Während Mina mit der Holzkelle die Wäsche aus
der Lauge schte, überlegte sie, ob ihre beiden ngeren
Schwestern wussten, was es hiess, Kinder zu gebären.
Mutter hatte nichts dagegen gehabt, dass Nelly Erhard
Messner heiratete, obwohl niemand genau wusste, womit
er sein Geld verdiente, und mit seinem gewellten Haar,
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dem verschmitzten Lächeln geel er auch Mina. Man
merkte nicht, dass er Deutscher war, so gut sprach er Dia-
lekt.
Sonntag ging ich mit den Mädchen in den Wald. Es war ein
wunderschöner Frühlingstag, und wir haben einen Maie-
risli-Platz entdeckt. Sie blühen aber noch nicht. Letzte Wo-
che war grosser Alarm. Morgens um drei Uhr ertönten Sire-
nen, Kirchenglocken und Feuerhörner. Das Mühlental und
andere Fabriken waren zwei Tage geschlossen, nachts war
alles verdunkelt. Ein neuer Steuerzettel ist in den letzten
Tagen gekommen. Demnach muss ich schliessen, dass Du
die Steuererklärung eingereicht hast. Die Steuern belaufen
sich für dieses Jahr auf Fr. 46.05.
Die Angst schlich sich in ihre Briefe. Seit die Deutschen
in Österreich einmarschiert waren, sprach man von der
Mobilmachung. In der Zeitung stand, im Parlament
werde die Verlängerung der Dienstzeit und der Ausbau
der Flugwae verlangt. Minger, der Vorsteher des Mili-
tärdepartements, sagte, leistungsfähige Bahnen sowie ein
ausreichender Bestand an Pferden und Motorfahrzeugen
seien eine absolute Notwendigkeit und man werde dafür
auf Requisition angewiesen sein. Zum Ende des letzten
Krieges war Mina noch ein Kind gewesen, sie hatte ge-
glaubt, die Bösen seien bestra, die Guten belohnt wor-
den. Diesmal rde es anders sein. Oskar sprach mit
Bewunderung von den Anstrengungen, mit denen die
Deutschen ihre Wirtscha aufbauten. Aus einer nieder-
getretenen Nation sei eine Weltmacht entstanden, habe

Gabrielle Alioth
Die Überlebenden

Roman

Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-03925-015-8
Seiten 269
Erschienen 29. Oktober 2021
€ 27.80 / Fr. 32.00

Ein bewegender Roman über Gewalt und Schweigen in Familien

Mina, Max, Vera – sie sind Kinder und Grosskinder des Bäckermeisters August Stutz, der ihr Leben über seinen Tod hinaus prägte. Durch Widerstand, Verdrängung und Flucht haben sie zu entkommen versucht, doch nun, an den Bruchstellen ihres Lebens, müssen sie ihre Vergangenheit neu erinnern und sich ihrer Schuld stellen. Noch einmal liest die Hausfrau Mina die Briefe, die sie in der Kriegs- und Nachkriegszeit an ihren Mann schrieb. Noch einmal kehrt der Vietnampilot Max in die Schweiz zurück. Und zum ersten Mal hört die Schmetterlingszüchterin Vera, was ihrer Mutter wirklich zustiess. Ihre Geschichten verbinden sich zum lebendigen Portrait einer Schweizer Familie im zwanzigsten Jahrhundert.

Sei es die Gewalt des Patriarchats oder des Krieges, seien es äussere Ereignisse oder innere Abhängigkeiten – sie stellen Gewissheiten über Heimat und Zugehörigkeit in Frage. Ein bewegender Roman über das Schweigen in Familien, über den Umgang mit der Vergangenheit und die Suche nach einer eigenen Wahrheit.

> Interview von Monika Schärer mit Gabrielle Alioth auf YouTube

Pressestimmen

Ein nachdenkliches und vielstimmiges Buch über den Umgang mit der Vergangenheit.
— SRF
Sexuelle Gewalt, das Dulden und Schweigen der Frauen, auch wenn es um ihre eigenen Kinder geht: Es ist ein bedrückendes Bild, das der Roman auf eindrückliche Art zeichnet. Und die Frage stellt: Kann es gelingen, dieser »Erbschuld« zu entkommen?
— Bernadette Conrad, Schweiz am Wochenende