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Lenos Verlag
Werner Rohner
Das Ende der Schonzeit
Roman
Erste Auflage 2014
Copyright © 2014 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich, Dominic Wilhelm
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 450 5
Der Autor dankt dem Literarischen Colloquium Berlin, dem Literatur-
haus München, dem Kanton St. Gallen, dem Istituto Svizzero di Roma
und der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung
seiner Arbeit an diesem Roman.
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WENN ICH NOCH ZEHN JAHRE WEITERRAUCHEN KANN im-
mer wieder hatte Mutter diesen Satz gesagt; wenn ich noch
zehn Jahre weiterrauchen kann, sagte sie, bin ich zufrieden.
Steckte sich eine Muratti an und lächelte mir zu, mehr mit
den Augen als mit dem Mund.
Sie sagte den Satz auch dann noch, als ihre Schwester Su-
sanne sie zwei Jahre nach Doktor Kerns Prognose, sie habe
höchstens noch ein Jahr, zum letzten Mal ins Triemlispital
einlieferte und sie noch keine fünfzig Jahre alt bereits
zu schwach war, um sich selbst eine Zigarette anzuzünden.
Mindestens einmal pro Stunde musste man sie ins Trep-
penhaus schieben; wenn ich an der Reihe war, ndete ich
immer gleich zwei an, während sie aus dem Fenster im vier-
zehnten Stock schaute.
Draussen Zürich in jenen ersten Tagen des neuen Jahr-
tausends im Nebel wie stillgelegt. Und ich stellte mir vor,
wie Mutter fast dreissig Jahre zuvor am Hauptbahnhof aus
dem Zug gestiegen war, mit ihren seltsam langen Beinen
und den hellblonden Haaren, die sie zu Zöpfen geflochten
hatte. Eigentlich wollte sie nur ein paar Tage bleiben, dann
aber verliebte sie sich sogleich und so sehr in diese Stadt,
dass sie nachts ihre Häuser besetzte und tagsüber in einem
kleinen Blumenladen an der Aemtlerstrasse Sträusse an die
anderen Verliebten verkaufte. In der Küche eines der besetz-
ten Häuser an der Venedigstrasse, in das sie sich gleich am
ersten Abend nach ihrer Ankunft verirrt und wo sie sich
schon am zweiten Abend die Zöpfe mit einem Brotmesser
abgeschnitten hatte, lernte sie auch den Mann kennen, den
sie später nur noch »deinen Vater« nannte. David Mourlin,
geboren 1946, bekannt. So steht es in seiner Akte des Staats-
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schutzes, die er mir, nachdem ich ihn vor ein paar Monaten
zum ersten Mal überhaupt getroffen habe, kommentarlos
zugesandt hat. Als ich noch ein Junge war, erzählte mir
Mutter bloss, dieser David habe ihr die Welt so wunderbar
erklären nnen, dass sie anfangs kaum mehr geschlafen
habe. Zur Arbeit aber, schob sie schnell und etwas verlegen
nach, sei sie trotzdem nie zu spät gekommen.
Doch irgendwann hatte sie aufgehört, über ihn zu spre-
chen, so wie sie, nachdem sie mir gesagt hatte, ihre ganze
Wirbelsäule sei voll mit Metastasen, aufhörte, über den
Krebs zu sprechen. Auch über den Tod und die Zukunft
sprach sie nicht mehr und erst recht nicht darüber, dass ich
versprochen hatte, ihr zu helfen. »Wenn es gar nicht mehr
anders geht, Joris, dann musst du «, hier hatte sie kurz
gestockt, »wenn ich nur noch Schmerzen hab und dalieg,
dann musst du mir helfen, ja?!« Dabei schaute sie mich an,
schaute und schaute, bis ich nichts anderes mehr tun konnte
als nicken.
Das Schweigen aber hatte schon früher begonnen. Es war
schleichend gekommen, wahrscheinlich sprachen wir im-
mer weniger, bis es mir irgendwann auffiel, plötzlich, und
nur dieser eine Satz übrig blieb: Wenn ich noch zehn Jahre
weiterrauchen kann, bin ich zufrieden. Immer und immer
wieder wiederholte sie ihn, als würde sie von Muratti dafür
bezahlt. Manchmal hatte sie eine Art Trotz in der Stimme,
manchmal lächelte sie verschmitzt dazu, als reiche das aus,
um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen; und nie änderte
sie die Anzahl der Jahre.
Wenn ich ihr im Spital die brennende Zigarette zwischen
die spröden Lippen steckte, nuckelte sie mehr daran, als
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dass sie inhalierte; ich erzählte ihr irgendetwas und folgte
dabei ihrem Blick aus dem Fenster. Manchmal aber schaute
ich einfach nur sie an, wie sie mit der linken Hand ihren
Weihnachtsbaum festhielt, so nannte sie den Ständer, an
dem die Infusionsbeutel hingen, und mit der rechten Hand
die Zigarette. Ihre Finger waren dürr geworden, und ihre
Knöchel standen heraus wie eine verwachsene Wirbelsäule.
Die Nägel waren grellrot, was mir unpassend erschien, auch
wenn Rebekka sie ihr lackiert hatte.
Obwohl die beiden sich da erst vier Monate kannten,
umarmte Rebekka sie zu jeder Begrüssung, brachte ihr
Blumen mit, die sie aus der Cafeteria für sie geklaut hatte,
und fragte, als ob es das Normalste auf der Welt wäre, wie
es ihr gehe. Zwar antwortete Mutter auch ihr nur mit ei-
nem nichtssagenden Nicken, und ich war froh darüber, dass
sie sich zu verstehen schienen; manchmal aber befremdete
mich diese Nähe zwischen den beiden.
Doch nicht nur Mutters Hände fielen mir auf. Ich er-
tappte mich dabei, dass ich versuchte, mir andere Details zu
merken, innerlich Fotos von Mutter machte im Wissen, dass
später doch immer etwas fehlen würde. Manchmal hrte
ich gar tonlose Selbstgespräche: blaue Augen gräulich
blaue Augen, korrigierte ich mich –, eine sehr gerade Nase,
altersblonde Haare und dieser Geruch, vermischt mit par-
miertem Tabak, so vertraut, dass ich nicht sagen konnte,
ob es überhaupt einer war. Manches wiederholte ich, als
ob ich Vokabeln büffelte; und während ich mir einprägte,
wie sich Mutter im Rollstuhl an ihre Zigarette klammerte,
hatte ich gleichzeitig Angst davor, dieses Bild nie mehr aus
dem Kopf zu kriegen.
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WIE FAST ALLE KINDER VON ELTERN, die rauchen, hatte auch
ich mir, aber vor allem Mutter geschworen, nie damit an-
zufangen tatsächlich rauchte ich, seit ich dreizehn war.
Ich hatte aber geschafft, das vor ihr zu verbergen, bis ich
an meiner Maturafeier ohne nachzudenken vor ihren Augen
eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Doch anstatt
mich zu tadeln, anstatt überhaupt etwas zu sagen, griff sie
in ihre Handtasche und zog eines von mindestens fünf Feu-
erzeugen heraus, die sie immer dabeihatte. Sie streckte es
mir entgegen auch damals waren die Nägel lackiert und
zündete meine Camel ohne Filter an. Dabei schaute sie
mich an, lange, schweigend, mit diesem Blick, den man
vielleicht stolz nennen nnte. Ich wusste, wenn sie mich
so anschaute, dann war das einerseits Liebe, andererseits ein
Versöhntsein mit sich und der Welt; es musste etwas mit
Schöpfertum zu tun haben, und es war mir unangenehm.
Die anderen Eltern an unserem Tisch, alles Ehepaare,
schauten, während Mutter mir Feuer gab, erst einander,
dann Mutter an, blieben aber still oder wurden es. Ihr Blick
galt nicht der Krankheit – die Brust, die man ihr amputiert
hatte, als ich vierzehn war, war durch eine Prothese ersetzt
worden, und ich hatte niemandem davon erzählt. Ihr Blick
galt auch nicht den Jeans, die sie trug – gebügelt zwar, aber
eben doch Jeans , er galt nicht dem, was sie sahen, sondern
dem, was nicht zu sehen war: der Ring, der Mann, die re-
gelmässigen Kosmetikbehandlungen. Inzwischen scheint es
mir paranoid, aber damals war ich davon überzeugt, dass
die Leute sie deswegen anstarrten, und mich dazu. Sie hat es
nie verwerflich gefunden, ein uneheliches Kind zu haben,
weil sie mich ja gewollt hatte, dennoch hat sie sich an Ta-
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gen wie diesem, glaube ich, nicht nur stolz gehlt, sondern
auch einsam. Vielleicht verunsichert. Im Aschenbecher vor
ihr glühte bereits eine ihrer Murattis, dunkelroter Lippen-
stift auf dem weissen Filter, trotzdem ndete sie sich direkt
nach mir noch eine zweite an.
Auch meine Klassenkameraden schienen Mutter anzu-
starren, als ob sie sich, indem sie mir Feuer gab, in etwas
einmischte, was sie nichts anging, und mich, als ob ich
schuld daran wäre. Damals konnte ich Mutter für so etwas
noch ohne schlechtes Gewissen hassen; überhaupt stritten
wir zu der Zeit oft, meistens wollte ich Geld, und sie wollte
wenigstens wissen, wofür, wenn sie mich sonst schon kaum
mehr sehe.
DASS ICH DEN JOB BEIM FERNSEHEN ANGENOMMEN HABE, war
vielleicht nicht nur Zufall, auch wenn ich mir das an die-
sem Neujahrsabend 2010 einredete, als ich, ziemlich über-
nächtigt und noch immer nicht ganz nüchtern, mit allem,
was ich besass, in Zürich ankam. Mein Zimmer in Berlin
hatte ich schon am Vortag abgegeben und so zwangsläufig
die Nacht durchmachen müssen. Nur wenige der Studien-
freunde, die in Berlin eine Arbeit gefunden hatten, hatten
es nach der Silvesterparty noch zum Hauptbahnhof ge-
schafft, um mich zu verabschieden. Im Zug war ich immer
wieder eingenickt, dazwischen hatte ich durch das Fenster
der Landschaft zugeschaut, die wie eine Kulisse an mir vor-
beigeschoben wurde.
In Zürich wartete am Ende des Perrons Susanne, mit
Luca, meinem Patenkind, und seinem Bruder Severin. Se-
verin hatte inzwischen nicht nur Flaum, sondern einen rich-

Werner Rohner
Das Ende der Schonzeit

Roman

Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-450-5
Seiten 187
Erschienen August 2014
€ 25.00 / Fr. 28.50

In seinem klug komponierten Debütroman erzählt Werner Rohner die Geschichte eines jungen Mannes, der in seine Heimatstadt zurückkehrt. Dort holen Joris die Erinnerungen ein: an den Krebstod seiner Mutter zehn Jahre zuvor, an das Versprechen, ihr beim Sterben zu helfen, aber auch an seine Beziehung in Wien, in die er sich stattdessen geflüchtet hatte.

In Zürich beginnt für ihn ein neues Kapitel. Am Abend seines ersten Arbeitstages beim Fernsehen stösst er in der Zeitung auf das Foto eines Mannes, den er nicht kennt, jedoch sofort erkennt, so ähnlich sieht er ihm: sein Vater. Als sich die beiden Männer schliesslich treffen, erfährt Joris, dass nicht nur er, sondern auch seine Mutter im politischen Untergrund aktiv gewesen war. Diese Begegnung zwingt ihn, sein eigenes Leben und das der Mutter neu zu begreifen.

Mit einer lebendigen Sprache dringt der Roman in Bereiche vor, in denen das Politische und das Private nicht mehr voneinander zu trennen sind.


Pressestimmen

Das schönste Debüt dieses Jahres.
— Mona Vetsch, Schweizer Fernsehen
Das Debüt des Zürchers Werner Rohner hat eine hohe und konstante Flughöhe. Mehr als einmal denkt man bei der Lektüre an Musils Mann ohne Eigenschaften. … Rohners Ton legt sich einem beim Lesen wie eine kühle Hand auf die Schulter. Man fröstelt – und liest begierig weiter.
— Regula Freuler, NZZ am Sonntag
Werner Rohner greift die alten Fragen nach der Herkunft, nach den Wurzeln auf, er thematisiert die Sehnsucht nach geregelten (Familien-)Verhältnissen ebenso wie das Leiden, wenn diese nicht erfüllt wird. Das mag bei einem noch relativ jungen Autor erstaunen – andererseits zeigt es, dass auch weiterhin die alten Themen, nämlich Liebe, (Verlust-)Angst, Schmerz und Tod, die Literatur ausmachen. Der eigene Ton und die Erzählanlage, die Werner Rohner für seinen Roman gewählt hat, überzeugen.
— Liliane Studer, Viceversa
Wie das alles zusammenpasst! Die genauen Beobachtungen, die exakt geschilderten Gesten, Mienenspiele, die niemals klischeehaften Metaphern … Die Geschichte fesselt ungeheuer, führt vom Sterben der Mutter zu Treffen mit dem Vater, von der Politik der Siebziger zur Fichenaffäre der späten Achtziger, vom Beginn einer Liebesbeziehung bis zu ihrem schmerzhaften Übergang in eine Freundschaft, von Schuldgefühlen bis zum zaghaften Gefühl, mit sich im Reinen zu sein.
— Bernd Schuchter, Vorarlberger Nachrichten
Das Ende der Schonzeit ist ein stilles, eindringliches Buch, das vom Tod und vom Abschiednehmen handelt und von der Suche nach den eigenen Wurzeln.
— Der Landbote
Wenn Sie in Das Ende der Schonzeit den ersten Satz gelesen haben, sind Sie ohnehin schon verloren. Verloren im kleinen Universum eines grossartigen Buches, das Sie bereichern wird, das einen emotional durchwäscht, das eine grosse Nähe zu allen Figuren schafft und dabei doch nie jemandem zu nahe tritt.
— Sonja Wenger, ensuite
Rohner erzählt auf eine exakte und gleichzeitig leidenschaftliche Weise, die mich sehr angesprochen hat.
— Heimo Strempfl, Österreichischer Rundfunk
Der Roman besticht durch Präzision und Stilwillen.
— Tagesschau, Schweizer Fernsehen
So hat man das noch nicht gelesen: eine zärtliche, bedrückende und befreiende Geschichte vom Sterben der Mutter, erzählt von ihrem jungen Sohn.
— Kreuzlinger Zeitung
In nur wenigen Sätzen zeigt Rohner, wie eine Leidenschaft aufflammt, eine Beziehung alltäglich wird und eine Liebe einschläft. Hier beweist der Autor sowohl seine grosse Menschenkenntnis als auch sein Talent dafür, Beobachtungen in wohlgewählte Worte zu fassen.
— literaturkritik.de

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