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Lenos Verlag
Lilia Hassaine
Bittere Sonne
Roman
Aus dem Französischen
von Anne omas
Die Übersetzerin
Anne omas wurde 1988 in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz geboren
und wuchs in Flensburg auf, nachdem sie 1989 mit ihrer Familie
aus der DDR geohen war. Seit 2013 ist sie als freiberufliche litera-
rische Übersetzerin tätig (u. a. Colin Niel, Éric Plamondon, Dimitri
Rouchon-Borie). Sie lebt hauptsächlich in Paris. Regelmässige
Arbeitsaufenthalte in Berlin und London. Anne omas organisiert
und leitet Übersetzungsworkshops in Schulen in Deutschland und
Frankreich und ist als Dolmetscherin bei literarischen und kulturel-
len Veranstaltungen tätig.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des
Institut français.
Titel der französischen Originalausgabe:
Soleil amer
Copyright © 2021 by Editions Gallimard, Paris
Erste Auflage 2024
Copyright © der deutschen Übersetzung
2024 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: edpics / Alamy Stock Foto
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 035 6
Für meine Mutter
Der Morgen muss enttäuschen.
Ob Nacht-, ob Taggestirne, keins, das nicht bitter war.
Arthur Rimbaud, Das trunkene Schi
(deutsch von Paul Celan)
9
1959
Wilaya Sétif, Algerien
Zuerst ist da weisses Licht, die nackte Stadt, Relikte der
Stille. Die ehemaligen Hauseingänge der Villen, von
denen nur noch die Grundmauern stehen, waren mit
Mosaiken gepastert, die Wasserbecken längst ausge-
trocknet.
In den Ruinen von Djemila wohnen Gespenster,
man hatte sie ja gewarnt.
Aber die Kinder kamen jeden Sommer wieder, gingen
am Venustempel vorbei, schritten durch die Strassen
der antiken Stadt, erweckten die Statuen zum Leben.
In dieser Steinoase irgendwo im Aurès-Gebirge spielten
sie eater. Die Bühne des römischen Amphitheaters
wurde zur Arena, die Sandalen schabten über den Erd-
boden, rutschten an Steinchen ab. Die Duelle konnten
Stunden dauern, bis die kleinen Opfer dieser bruder-
mörderischen Kämpfe genug davon hatten, bäuchlings
auf dem Boden zu liegen. »Du bist dran mit Sterben,
Adil!«, rief einer, und ein Heer Untoter erhob sich gegen
den siegreichen Gladiator. Die Partie war zu Ende, und
ein anderes Spiel begann.
10
An jenem Tag waren sie mit selbstgebauten Keschern
bewanet, die sie aus Ästen und Fischernetzen gebas-
telt hatten, von allen Seiten kamen sie angerannt. Die
Schreie ogen zu den Höhen der Stadt Ferdjioua hinauf,
die Adler über ihnen zogen als Antwort weite Kreise.
Für den Bruchteil einer Sekunde wurde die Stille
tiefer. Eine Eidechse schlüpfte hinter einen Kalkstein-
block. Die Raubvögel verschwanden.
Der Himmel verschmolz allmählich mit den Ruinen,
färbte sich mit Ocker und Dunst. Zweige ballten sich
zu Knäueln zusammen, trudelten langsam durch den
Staub. Sonia fasste ihre grosse Schwester an der Hand,
die gähnte und blinzelte. Die Luft wurde schwer, drü-
ckend. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
Im Dorf weiter oben in den Bergen erkannte Nadscha den
Wind. Sie webte, und ihr Korb og ein paar Meter weg.
Die Männer des Dorfes rannten ins Tal, sie mussten sich
beeilen. Bald würde ein Sandsturm Djemila ersticken.
Als sie ankamen, war die Sonne auf die Erde herabgestie-
gen. Ein roter, weissglühender Nebel hing in den Rui-
nen. Ein Feuer ohne Flammen, eine glühende Schwade.
Die Väter kamen nur mühsam voran, klammerten sich
an Säulen, schrien die Namen ihrer Kinder, aber das
Heulen des Schirokkos übertönte ihre Stimmen.
In der Ferne entdeckte einer ein weisses Tuch. Sie
waren es. Im Schutz eines Mäuerchens, gesund und un-
11
versehrt, aber dem Verdursten nah. Maryam hielt ihre
Schwester im Arm, die Mutter hatte ihr eingeschärft:
»Du bist die Älteste, du musst auf Sonia aufpassen.«
Maryam war eigentlich gar nicht die Älteste. Vor ihr
hatte es noch Ismael gegeben. In dieser Gegend, tro-
cken im Sommer, eisig im Winter, war das fast schon
banal. Ismael war drei Jahre alt gewesen. Eine Angina
Pectoris hatte ihn dahingerat. Seitdem hatte Nadscha
nur Töchter bekommen: Maryam, Sonia und Nour, die
noch ein Baby war.
Als sie die Kinder sah, rannte sie ihnen entgegen, war
erleichtert. Der Wind hatte sich gelegt. Sie gab ihnen
Ziegenmilch, die tranken sie in einem Zug aus, dann
entwirrte Nadscha das Haar ihrer Töchter, das so lang
war wie ihr eigenes. Gemeinsam mit den anderen
Frauen des Dorfes, ihrer Mutter, ihren Cousinen, wür-
den sie eine m’feremssa zubereiten, ein süss-herzhaftes
Gericht aus Huhn und getrockneten Aprikosen. Ein
abgewendetes Unglück war ihr schon Glück genug. Na-
dscha war knapp sechsundzwanzig, aber sie lebte bereits
in der Angst zu verlieren. Hier war alles so zerbrechlich.
Ihr Mann Saïd hatte das Land vor sechs Monaten ver-
lassen. Er war unter Hunderten von jungen Männern
ausgewählt worden, um in der Nähe von Paris in einer
Autofabrik zu arbeiten. Der Werber war eines Morgens
12
ins Dorf gekommen und hatte die Robustesten ausge-
sucht, die, deren Hände von der Arbeit bereits schwielig
waren. Nadschas grösste Angst war, dass er nicht wie-
derkäme, wie viele junge Männer, die nach Frankreich
gingen. Wie Saïds Bruder Kader, der eine Französin
geheiratet hatte. Saïd strotzte nur so vor Gesundheit,
er war muskulös, dunkelhaarig, hatte feine, beinahe
feminine Gesichtszüge und dunkelblaue Augen. Saïd
war eissig. Vielleicht bliebe er ebenfalls dort. Vielleicht
liesse er sie allein, mit drei Kindern.
Sie rannte zur Schule, wo die Lehrerin den Frauen
beim Briefeschreiben half. Sie schrieb Saïd, dass er bald
zurückkommen möge: »Es hat seit Wochen nicht ge-
regnet, die Ernte ist nicht gut. Brahim sagt, die Körner
sind zu klein, um sie zum Weizenpreis zu verkaufen, er
bietet nur die Hälfte. Ich habe versucht zu verhandeln,
aber er lässt nicht mit sich reden. Der Teppich ist bei-
nahe fertiggewebt, mein Cousin Kamel hat einen Käu-
fer in Constantine gefunden, er wird mir das Geld vor-
strecken. Den Mädchen geht es gut, aber Nour weint
jede Nacht, das wird langsam anstrengend … komm
bald wieder, bitte, komm zurück …«
Die Lehrerin hielt mitten im Diktat inne. »Die Seite
ist voll … Wollen Sie ihm sagen, dass Sie ihn lieben?«
Nadscha riss ihr den Brief aus der Hand. »Nein, Ma-
dame. Liebe ist was für die Franzosen.«
Erster Teil
Die sechziger Jahre
15
1964
I
Der Krieg war vorüber und hatte seinen Teil Schweigen
und Geheimnisse angeschwemmt. Saïd arbeitete jetzt
schon fünf Jahre in Frankreich. Er war vom Handlanger
zum angelernten Arbeiter aufgestiegen; er wusste, weiter
würde er nicht mehr kommen. Sein einziger Stolz be-
stand darin, dass er genug Geld gespart hatte, um seine
Familie nachzuholen.
Nadscha hatte sich vorgestellt, in Paris sei alles leichter.
Auf dem Schi von Algier nach Marseille hatte sie die
restlichen Datteln an die Vögel verfüttert, überzeugt,
dass es ihren Kindern an nichts mehr fehlen würde. Der
Horizont war wolkenlos. Das wahre Leben begann.
Sie hatte oft an Frankreich gedacht, an den Komfort
und den Wohlstand, den sie sich vorstellte.
Aber die Illusion hatte sie schnell aufgegeben: Die
Wohnung war im dritten und letzten Stock eines her-
untergekommenen Hauses. Sie hatten nur ein Schlaf-
zimmer und ein Wohnzimmer mit Spüle. Vor allem

Prix Goncourt Première sélection

Lilia Hassaine
Bittere Sonne

Roman

Aus dem Französischen von Anne Thomas


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-03925-035-6
Seiten 182
Erschienen 12. März 2024
€ 25.00 / Fr. 27.00

Der Leser atmet den Duft mediterraner Orangen und die Gischt der Bretagne, den Rauch der Fabriken in Billancourt und der Bäckereien in der Provinz. Ein unvergessliches Fresko.
— Point de Vue

Saïd wird Ende der fünfziger Jahre in einem Bergdorf in Algerien für die damals florierende Autoindustrie in Frankreich angeworben. Nach fünf entbehrungsreichen Jahren kann er die Familie in seine Sozialwohnung in einem Vorort von Paris kommen lassen. Nadscha und ihre drei Töchter reisen voller Freude und Zuversicht in die neue Welt. Saïds älterer Bruder Kader war bereits mit Ève, einer Französin aus bürgerlicher Familie, verheiratet.
Nachdem Nadscha nochmals schwanger geworden ist, beschliessen sie und Saïd, das Baby Kader und Ève zu überlassen, da diese keine Kinder bekommen können. Doch unerwartet bringt Nadscha Zwillinge zur Welt. So werden Ève und Kader zu Daniels Eltern, während Amir bei Nadscha und Saïd aufwächst. Dass sie Brüder sind, bleibt ein streng gehütetes Familiengeheimnis.

Lilia Hassaine lässt in einem facettenreichen Panoptikum ein lebendiges, sensibel gezeichnetes Bild über das Zusammenleben in den heute problembehafteten Banlieues von Paris während der fünfziger bis Ende der achtziger Jahre entstehen und zeichnet berührende Porträts der starken Mütter und ihrer selbstbewussten Töchter, die in der neuen Heimat ihre Träume zu verwirklichen suchen.


Pressestimmen

Lilia Hassaine schreibt über zwei Brüder, über eine ganze Familie zwischen Algerien und Frankreich – und das mit so einer Fülle an Geschichte und Emotionen, verpackt in knapp 200 Seiten. Grossartig.
— Buchhandlung List, Wien
Die Autorin (…) zeigt die Schwierigkeit algerischer Einwanderer, am Rande der französischen Gesellschaft ein halbwegs würdiges Leben zu führen.
— missio magazin
Die grösste Last tragen immer die Frauen, egal welcher Herkunft. Ihren Schicksalen, ihrer Stärke setzt Hassaine ein literarisches Denkmal, in knapper, fast beiläufiger Sprache beschreibt sie tiefste Gefühle und weckt Empathie.
— Maria Leitner, Buchkultur