LENOS
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LP 231
www.lenos.ch
Karel Čapek
Ausug nach Spanien
Aus dem Tschechischen
von Erika Sangerberg
Bearbeitet von Christoph Blum
Mit 109 Zeichnungen des Autors
Lenos Verlag
Der Verlag erklärt sich nach den üblichen Regularien zur Abgeltung der Rechte
an der deutschen Übersetzung bereit, falls diese nachgewiesen werden können.
Titel der tschechischen Originalausgabe:
Výlet do Španěl
erschienen 1930 in der Edice Aventinum, Prag
Die deutsche Erstausgabe erschien 1961 im Gebrüder Weiss Verlag,
Berlin-Schöneberg.
LP 231
Erste Auflage 2022
Copyright © 2022 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 831 2
Inhalt
Nord-Süd-Express 7
Deutschland, Belgique, France 13
Castilla la Vieja 17
Puerta del Sol 21
Toledo 27
Posada de la Sangre 34
Velázquez o la grandeza 38
El Greco o la devoción 42
Goya o el reverso 46
Y los otros 51
Andalucía 55
Calles sevillanas 58
Rejas y patios 63
Giralda 70
Alcázar 77
Jardines 83
Mantillas 88
Triana 96
Corrida 101
Lidia ordinaria 114
Flamencos 129
Bodega 144
Carabela 148
Palmas y naranjos 153
Tibidabo 160
Sardana 165
Pelota 169
Montserrat 176
Vuelta 182
Anmerkungen 187
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Nord-Süd-Express
Die sogenannten Internationalen Expresszüge haben in
unserer Zeit eine grosse Bedeutung für die Kommunika-
tion gewonnen, einerseits aus praktischen Gründen, die
uns weniger interessieren, anderseits aus dichterischen.
Jeden Augenblick stürmt euch in der modernen Poesie
ein Transkontinental-Express entgegen, und ein geheim-
nisvoller Portier ruft die Stationen aus, Paris, Moskau,
Honolulu, Kairo; die Sleeping-Cars skandieren den dy-
namischen Rhythmus der Geschwindigkeit, und der Flie-
gende Pullman erinnert an den ganzen Zauber der Ferne;
denn wisset, die dichterische Phantasie ndet nur an
erstklassigen Verbindungen Gefallen. Freunde der Poesie,
erlaubt, dass ich euch Zeugnis gebe von Pullmans und
Sleeping-Cars; wisset, dass sie unendlich abenteuerlicher
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von draussen aussehen, wenn sie feurig eine verschlafene
kleine Station durcheilen, als von drinnen. Es stimmt
wohl, dass sie mit einer prächtigen Geschwindigkeit da-
hinsausen; aber nicht minder stimmt es, dass ihr trotz-
dem gezwungen seid, in ihnen vierzehn oder dreiund-
zwanzig verdammte Stunden abzusitzen, was gewöhnlich
für eine Agonie aus Langeweile ausreicht. Der Lokalzug
von Prag nach Řepy jagt zwar mit einer weniger impo-
santen Geschwindigkeit dahin; aber ihr wisst wenigstens,
dass ihr nach einer halben Stunde aus ihm herausklettern
und euch einem anderen Abenteuer zuwenden könnt.
Im Pullman stürzt man bei einer Geschwindigkeit von
sechsundneunzig Stundenkilometern nicht zu Boden; im
Pullman sitzt man und gähnt; wenn man des Gesichts
zur Rechten überdrüssig ist, setzt man sich auf die an-
dere Seite. Der einzige mildernde Umstand ist, dass man
bequem sitzt. Manchmal schaut man gleichgültig zum
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Fenster hinaus; dort iegt eine kleine Station vorbei, de-
ren Namen man nicht lesen konnte, ein Städtchen winkt,
an dem man nicht aussteigen kann; niemals wird man
diesen mit Platanen gesäumten Weg entlanggehen, auf
jener Brücke stehenbleiben, um in den Fluss zu spucken,
und man erfährt nicht einmal, wie dieser Fluss heisst:
zum Teufel mit alldem, denkt man im Pullman. Wo sind
wir denn? Um Himmels willen, erst in Bordeaux? Mein
Gott, das zieht sich hin!
Wollt ihr also wenigstens einigermassen exotisch rei-
sen, dann setzt euch in einen Lokalzug, der von Station zu
Station schnauft. Drückt die Nase an die Fensterscheibe,
damit euch nichts entgeht: Hier steigt ein blauer Soldat
ein, da winkt euch ein Kind nach; ein französischer Bauer
in schwarzer Kutte gibt euch einen Schluck seines eigenen
Weins zu trinken, eine junge Mutter reicht ihrem Kind
die Brust, die blass ist wie Mondlicht, Burschen reden
laut miteinander und rauchen dabei ein beissendes Kraut,
ein mit Schnupftabak besudelter Pater spricht das Brevier;
die Landschaft zieht vorbei, Station an Station, wie die
Kugeln am Rosenkranz. Und dann kommt der Abend,
da die Menschen, traurig vor Müdigkeit, unter den ak-
kernden Lichtern einschlafen und Emigranten ähnlich
werden. In diesem Augenblick rasselt der strahlende In-
ternationale Express vorüber mit seiner Fracht verzagter
Langeweile, mit seinen Schlaf- und Speisewagen –
Wie, erst Dax? Herr im Himmel, das dauert!
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Unlängst las ich ein Lob auf den Koer; freilich nicht
auf den gewöhnlichen, sondern auf den Internationalen
Koer, beklebt mit Hoteletiketten aus Konstantinopel
und Lissabon, Tetuán und Riga, St. Moritz und Soa; auf
den Koer, der der Stolz und die Reisebeschreibung sei-
nes Herrn ist. Ich verrate euch jetzt ein schreckliches Ge-
heimnis: Diese Etiketten werden in Reisebüros verkauft.
Gegen ein mässiges Trinkgeld bekommt ihr auf euren
Koer Kairo, Vlissingen, Bukarest, Palermo, Athen und
Ostende geklebt. Mit diesem Verrat, so hoe ich, habe
ich dem Internationalen Koer den Todesstoss versetzt.
Möglich, dass ein anderer an meiner Stelle auf soviel
Tausenden Kilometern hübschere Abenteuer erleben
würde; er wäre wohl auch der Internationalen Venus oder
der Madonna der Schlafwagen begegnet. Nichts derglei-
chen ist mir passiert; es passierte nur ein Zugzusammen-
stoss, aber dafür konnte ich wirklich nichts. In einer Sta-
tion stürzte sich unser Express auf einen Güterzug; es war
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ein ungleicher Kampf, der so ausging, als hätte sich Os-
kar Nedbal* auf den Zylinder eines anderen gesetzt. Der
Güterzug bekam Schreckliches ab, während es auf unse-
rer Seite nur fünf Verletzte gab; es war ein absoluter Sieg.
Wenn sich in so einem Fall der Fahrgast aus den Koern,
die ihm auf den Kopf gefallen sind, herausgewühlt hat,
läuft er zunächst nachsehen, was passiert ist; erst wenn er
seine Neugierde gestillt hat, beginnt er sich abzutasten,
um festzustellen, ob er noch ganz ist. Nachdem er ge-
funden hat, dass er in groben Zügen unbeschädigt ist,
betrachtet er mit einem gewissen technischen Entzücken,
wie sich die zwei Lokomotiven ineinander verheddert ha-
ben und wie mächtig dieser Güterzug von uns zermalmt
worden ist: Nun ja, er hätte sich nicht mit uns einlassen
sollen. Nur die Verletzten sind blass und etwas erbittert,
als ob ihnen eine persönliche und ungerechte Kränkung
widerfahren wäre. Dann mischen sich die Behörden ein,
und wir gehen in die Trümmer des Speisewagens, um auf
unseren Sieg zu trinken. Während der ganzen weiteren
Reise macht man uns überall die Bahn frei; oenbar hat
man Angst vor uns bekommen.
Ein anderes und komplizierteres Abenteuer ist es, wie
man im Schlafwagen das obere Bett erreicht, besonders
wenn im unteren schon jemand schläft. Es ist ein wenig
unangenehm, auf den Kopf oder den Bauch eines Men-
schen zu treten, von dem man weder Nationalität noch
Charakter kennt. Es gibt verschiedene mühsame Metho-
den hinaufzukommen: mit Stemmen oder mit Schwung,
* Anmerkungen zu ausgewählten Namen und Begrien ab Seite 187.
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mit einem Sprung, mit Grätsche, im guten oder mit Ge-
walt. Wenn ihr dann schliesslich oben seid, trachtet, dass
ihr keinen Durst oder sonst etwas bekommt, damit ihr
nicht wieder hinunterklettern müsst; gebt euch in Gottes
Hand, und versucht zu schlafen wie ein Toter im Sarg,
während draussen unbekannte und wunderbare Land-
schaften vorbeiiegen und zu Hause die Dichter über die
Internationalen Expresszüge schreiben.
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Deutschland, Belgique, France
Wenn ich genug Mittel hätte und es in diesen Dingen
einen freien Markt gäbe, würde ich mir unbedingt eine
Sammlung von Staaten anlegen. Ich habe eingesehen,
dass Staatsgrenzen nicht für die Katz sind; die Zöll-
ner mag ich zwar nicht, und Passkontrollen langweilen
mich, aber jedesmal stelle ich bezaubert fest, dass ich mit
dem Grenzübertritt in eine neue Welt eindringe, wo es
andere Häuschen und eine andere Sprache gibt, andere
Gendarmen, eine andere Farbe der Erde und eine andere
Natur. Nach einem blauen Schaner kommt ein grüner
Schaner; ein paar Stunden später wird er von einem
braunen abgelöst; ich sage euch, das ist wie Tausend-
undeine Nacht. Nach den böhmischen Apfelbäumen
kommen brandenburgische Kiefern auf weissem Sand,
eine Windmühle winkt mit ihren Flügeln, als ob sie ir-
gendwohin liefe, das Land ist eben und weit und bringt
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hauptsächlich Reklametafeln für Zigaretten und Marga-
rine hervor. Das ist Deutschland.
Dann efeubewachsene Felsen, vom Schürfen ausge-
höhlte Berge, tiefe und grüne Flusstäler, Hütten und
Öfen der Stahlwerke, Eisenrippen der Fördertürme,
Schutthalden gleich frisch ausgebrochenen Vulkanen, ein
Durcheinander von bukolischer Natur und Schwerindu-
strie, ein Konzert, in dem Schalmei und Glockenspiel die
Fabriksirene begleiten: der ganze Verhaeren, Les Heures
claires und Les Villes tentaculaires, das ganze Flandern
des alten Poeten; ein Land, das sich mit seinen Schätzen
nicht ausdehnen konnte und sie alle in einer Tasche stek-
ken hat; liebes Belgien; eine Mutter mit ihrem Kind an
der Hand, ein junger Soldat führt sein Pferd zur Tränke,
ein Wirtshaus im Tal, Schornsteine und fürchterliche
Industrietürme, eine gotische Kirche und eine Eisen-
hütte, eine Kuhherde inmitten von Schächten; wie in
einem altmodischen Laden haben sie hier alles unterge-
bracht – und Gott allein weiss, wie es hineingeht.
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So, und nun wieder freiere Räume: Das ist Frankreich,
das Land der Erlen und Pappeln, der Pappeln und Plata-
nen, der Platanen und Reben. Ein silbriges Grün, ja, ein
silbriges Grün ist seine Farbe; rosa Ziegel und bläulicher
Schiefer; ein leichter Nebelschleier, mehr Licht als Farbe,
Corot. Kein Mensch ist auf den Feldern; vielleicht pressen
sie die geernteten Trauben, den Wein aus der Touraine,
den Wein aus Anjou; den Wein Balzacs und den Wein
des Herrn Grafen de la Fère. Garçon, une demi-bouteille,
auf euer Wohl, ihr Türmchen im Tal der Loire! Schwarz-
haarige Frauen in schwarzen Kleidern. Was denn, erst
Bordeaux? Ein harziger Duft atmet durch die Nacht, das
sind die Landes, das Land der Kiefern. Dann ein anderer
Duft, scharf und belebend: das Meer.
Hendaye, umsteigen! Ein Gendarm mit dem Gesicht
eines jungen Caligula in glänzendem Dreispitz schmiert
auf die Koer ein magisches Zeichen und lässt uns mit
majestätischer Geste auf den Bahnsteig. Schon ist es so-
weit: Wir sind in Spanien.
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Camarero, un jerez. Schon ist es soweit. Eine verteufelt
schöne Spanierin mit Henna auf den Fingernägeln. Lass
das, Menschenskind, das ist nichts für dich. Aber wenn
ich wenigstens diesen Gendarmen ausgestopft mit nach
Hause nehmen könnte!

Karel Čapek
Ausflug nach Spanien

Aus dem Tschechischen von Erika Sangerberg
Bearbeitet von Christoph Blum
Mit 109 Zeichnungen des Autors


LP 231
Paperback
ISBN 978-3-85787-831-2
Seiten 189
Erschienen 23. August 2022
€ 16.00 / Fr. 18.00

Ausgaben
Paperback (2022)
Ein reizvolles Werk, das einen historischen und besonderen Blick auf das Spanien der 1920er Jahre vermittelt.
— República

Als Karel Čapek im Oktober 1929 mit dem Zug die spanische Grenze passiert, findet er ein Land vor, das ihn in seiner Fremdartigkeit zugleich beunruhigt und entzückt: Spanien ist »feierlich und märchenhaft, hart und exaltiert (…) Es ist ein anderer Kontinent; es ist nicht Europa. Es ist strenger und schrecklicher als Europa; es ist älter als Europa.«
Schritt für Schritt eignet sich Čapek dieses fremdartige Land an. Er bewundert Bauwerke und Gärten, geht den Spuren der Mauren nach und würdigt die grossen Maler, wie Goya, El Greco und Velázquez. Zwischen Begeisterung und Abscheu hin- und hergerissen, verfolgt er die Stierkämpfe. Was ihn aber vor allem anzieht, das sind die Menschen dieses Landes, ihr Stolz und ihre Würde. Wie sie tanzen und spielen, das aufzuzeichnen ist Čapeks besondere Kunst, und um alles noch plastischer zu machen, greift er immer wieder zum Zeichenstift.

Pressestimmen

Spanien vor Franco und vor dem Bürgerkrieg, leicht nostalgisch (…), aber durchweg geistreich und pointiert und liebreizend angeschaut und porträtiert. (…) Scharfsinnig konzis sind seine Betrachtungen über El Greco, Velázquez und Goya. Ein reizendes Büchlein mit reizenden Begleitillustrationen.
— Alexander Kluy, Buchkultur
Wer einen Reiseführer über Spanien sucht, dessen Ansprüchen wird dieses Buch nicht genügen, aber als Sammlung von Eindrücken ist es von unschätzbarem Wert. Offenbar aus reiner Freude am Schreiben verfasst, hält es nicht fest, was Čapek sah, sondern was er fühlte.
— The New York Times