LENOS
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Bis zum Schulalter lebt Duke verwahrlost mit seinen Geschwistern
auf dem Wolfshügel. Seiner Lehrerin fällt bald auf, dass der scheue
Junge brutal misshandelt wird. Er kommt zu Pegeeltern. Doch
nach einigen Jahren läuft er davon, durch Wälder bis ans Meer. Dort
verliebt er sich in die drogenabhängige Billy und schliesst sich ihren
Freunden an. Dukes brennender Wunsch, Billy und sein eigenes ver-
sehrtes Leben zu beschützen, wird ihm immer wieder zum Verhäng-
nis. Der Dämon des Wolfshügels lässt ihn nicht los …
Dimitri Rouchon-Borie, geboren 1977 in Nantes, studierte Philoso-
phie und Kognitionswissenschaft und arbeitet als Journalist und Ge-
richtsreporter bei der Tageszeitung Le Télégramme. 2018 gab er den
Sammelband Au tribunal heraus. Sein Debütroman Le Démon de la
Colline aux Loups wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und
in mehrere Sprachen übersetzt.
Lenos Verlag
Dimitri Rouchon-Borie
Wolfshügel
Roman
Aus dem Französischen
von Anne omas
Die Übersetzerin
Anne omas wurde 1988 in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz geboren
und wuchs in Flensburg auf, nachdem sie 1989 mit ihrer Familie
aus der DDR geohen war. Seit 2013 ist sie als freiberufliche litera-
rische Übersetzerin tätig (u. a. Colin Niel, Éric Plamondon, Gabriel
Katz, Anna Boulanger, Marie Desplechin). Sie lebt hauptsächlich in
Paris. Regelmässige Arbeitsaufenthalte in Berlin und London. Anne
omas organisiert und leitet Übersetzungsworkshops in Schulen in
Deutschland und Frankreich und ist als Dolmetscherin bei literari-
schen und kulturellen Veranstaltungen tätig.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Insti-
tut français sowie im Rahmen des Förderprogramms des französi-
schen Aussenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der
französischen Botschaft in Berlin.
Titel der französischen Originalausgabe:
Le Démon de la Colline aux Loups
Copyright © 2021 by Le Tripode
is edition is published by arrangement with Le Tripode
in conjunction with its duly appointed agent
Books And More Agency #BAM, Paris, France. All rights reserved.
Erste Auflage 2023
Copyright © der deutschen Übersetzung
2023 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagbild: Kris Mari / shutterstock
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 026 4
www.lenos.ch
Wolfshügel
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1
Mein Vater sagte so ist das immer gewesen auf dem
Wolfshügel und so war das bei ihm gewesen und bei
uns genauso. Jetzt weiss ich dass es endgültig vor
-
bei ist. Der Wolfshügel da bin ich aufgewachsen
und davon werde ich Ihnen erzählen. Auch wenn
es keine schöne Geschichte ist es ist meine und so
ist es eben.
Vom Wolfshügel rede ich normal nicht so gerne.
Der Dämon ist dort geboren und hat mich dort ge
-
packt. Aber wenn ich für immer Schweigen darüber
breiten müsste wäre das als hätte er mir endgültig
die Seele geraubt und meine Geschichte erst recht.
Ich hoe Sie können Barmherzigkeit aufbringen
oder so was weil ich nämlich ein ganz eigenes Spre
-
chen habe und in all der Zeit waren diese Wörter
meine Art ich zu sein und kein andrer. Und weil ich
nicht lange in die Schule gegangen bin wegen dem
Vater, dem Dämon, der Mutter und andern, fehlen
ein paar Stücke in meiner Fassungskraft der Dinge.
Für wen ich dann das Tagebuch schreibe weiss ich
nicht. Vielleicht für mich selber und für den der ich
vorher war vor dem Dämon.
8
2
Die Leute haben keine erste Erinnerung. Wie Fridge
der neben mir in der Zelle schläft er hat keine erste
Erinnerung. Er sagt Keine Ahnung Mann wen
interessiert’s und dann reibt er sich die Mundwinkel
wie wenn er einen Schnurrbart glattstreicht er hat
nicht eine Stoppel. Fridge ist schon bei mir solange
ich bei ihm in der Zelle bin er hat zehn oder zwölf
Jahre Gefängnis aber er sagt die muss er nicht ab
-
sitzen weil der Anwalt gesagt hat die muss er nicht
absitzen. Fridge erinnert sich an vieles aber nicht an
seine erste Erinnerung. Es ist als wüsste verdammt
noch mal niemand wann wir alle zum ersten Mal
über irgendetwas nachgedacht haben und warum
das gelöscht wird und vielleicht ist es besser wenn es
uns das Hirn nicht mit zu vielen Dingen verstopft.
Wenn Fridge schläft schreibe ich sonst schwatzt
er und will über meiner Schulter mitlesen. Einmal
habe ich ihm ins Ohr gefaucht. Ich habe den Chef
um Bücher aus der Bibliothek gebeten und bekam
Erlaubnis sie auszuleihen und mitzunehmen und
ich habe ein Wörterbuch und eine Grammatik für
Neuankömmlinge. Die Psychologen haben immer
gesagt ich soll schreiben für die erapie aber mit
einem Stift konnte ich nichts anfangen jetzt habe
ich sogar eine Schreibmaschine und ich kann mir
9
Zeit lassen denn der Direktor hat gesagt Zeit ist das
Einzige was ich noch habe.
Das macht mir keine Angst weil ich nämlich so
was wie die Ewigkeit schon kenne vom Dämon.
Das war ein endloser Sturz von Anfang an und ich
wusste ein Teil von mir war weg und nicht mehr auf
dieser Welt also nicht so wie man es für normale
Leute sagt. Ich sage nicht dass ich nicht normal bin
ich sage dass ich den Dämon geerbt habe und das
ist wie wenn die Götter zu uns herabsteigen nur ist
es in dem Fall der Teufel. Ich weiss nicht aus was
er gemacht ist aber er war schon von meinem Vater
herbeigerufen worden er wusste nicht was er tat und
ich wurde nicht gefragt. Ich erinnere mich einmal
als Kind als ich rausdurfte und die Natur einatmen
konnte hatte ich einen Kokon gesehen aus dem ein
Schmetterling werden würde und ich spürte dass
ich auch ein Kokon war aber mit etwas schrecklich
Hässlichem drin und ich lag gar nicht so falsch.
Wenn ich schreibe esse ich nicht manchmal
nimmt Fridge mein Tablett und ich schreibe und
das reicht mir ich will nicht dass die Maschine fet
-
tig wird und ich soll sie sauber zurückgeben hat der
Direktor gesagt.
Ich weiss nicht ob ich bereit war den Wolfshügel
noch einmal zu durchleben auch wenn ich ihn ver
-
lassen habe oder er mich verlassen hat ich bin wie
ein verfaulter Baum für immer mit den Wurzeln im
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Sumpf der Kindheit. Der Psychologe hatte gesagt
ich müsste weit weit weit zurückgehen dreimal hatte
er das gesagt weit zurück in die Vergangenheit damit
ich aufspüren kann wo Blockaden sind. Was hatte
ich gelacht. Blockaden. Ich denke daran was ich ge
-
tan habe. Blockaden. Aber hinterher hatte ich nach-
gedacht und mir überlegt wenn ich sterbe weiss ich
nicht wem ich auf der andern Seite begegne deshalb
sollte ich vielleicht langsam mal nein nicht direkt
an Vergebung denken das wäre zu viel verlangt aber
der Psychologe hatte gesagt Läuterung. Wie schreibt
man Läuterung Fridge und er antwortet Mit mei
-
nem Pimmel. Mit Fridge kann man nicht reden.
Es klingt dumm aber der Wolfshügel am Anfang
wusste ich nicht was der Wolfshügel war weil ich in
dem Haus wohnte das obendrauf stand und noch
nie herausgekommen war. Wir waren drin und
wussten nicht dass wir drin waren. Wenn ich wir
sage dann weil ich Ihnen wohl von den Geschwis
-
tern erzählen muss und es wird nicht einfach für
mich werden denn ich weiss nicht wo sie jetzt sind
und das tut mir so weh innen drin wie sonst nichts
auf der Welt. Ich wurde zwischen den ersten bei
-
den und den letzten dreien geboren deshalb habe
ich immer gesagt wir wären fünf weil es sich leichter
rechnen liess wenn es mich nicht gab in der Addi
-
tion und in der Schule benutzte ich einen Taschen-
rechner wenn ich hinging aber nicht für die Auf-
11
gaben ich drückte nur auf den Tasten herum und
erst jetzt könnte ich ihn richtig bedienen. Mit der
Familie muss ich gar nicht mehr rechnen das ist der
Vorteil wenn man alleine ist.
Es wird Ihnen allen komisch vorkommen aber
am Anfang hatten wir keine Namen. Wozu auch wir
mussten uns nicht rufen also hiessen wir nicht. Wir
fanden einander ganz selbstverständlich.
Ich habe lange nach meinen ersten Erinnerungen
gesucht und das Einzige was mir in die Nase steigt
und fundamental ist das ist ein Gefühl von Wärme
als ich klein war. Diese Wärme kam weil wir nie
getrennt waren wir hingen immer zusammen und
schmiegten uns aneinander wie Siebenschläfer oder
Feldmäuse und ich könnte heute noch den Geruch
all meiner Geschwister erkennen und meine Nase
wüsste wer sich an mich drückt. Die Bilder meiner
Kindheit das ist vor allem die Decke auf dem ge
-
iesten Fussboden in einem Raum und dort lagen
wir eng aneinandergekuschelt und manchmal kam
jemand und es geschah etwas vielleicht gab man uns
zu essen aber ich weiss nicht was. Wir kehrten im
-
mer zu dieser Wärme zurück. So war das und uns
war warm aber niemand beschwerte sich und wir er
-
leichterten uns in der andern Zimmerecke ganz am
Anfang. Ich könnte nicht sagen wann ich das Prin
-
zip der Tür und den Rest begrien habe denn wenn
ich ehrlich zu mir selber sein will und wirklich so
12
weit wie möglich zurückgehen dann war unser Uni-
versum auf diese Masse beschränkt die wir alle zu-
sammen bildeten und ich glaube ich habe dort nie
ein Wort gehört wir stahlen uns nie davon vielleicht
hatten wir Angst. Aber die Grossen und das kann
ich nicht analysieren ich erriet einfach dass manche
von uns gross waren, die waren schon durch diese
Tür gegangen und sie kackten und pinkelten woan
-
ders aber ich weiss nicht wo.
Ab und zu wuchsen Schatten im Zimmer und sie
machten dumpfe Geräusche und manchmal wur
-
den Dinge gebrüllt die mit Pisse zu tun hatten oder
fast immer irgendwie in Zusammenhang mit dem
Endergebnis unseres Darms standen. Ich hatte lange
gebraucht um diese Schatten nachzuzeichnen und
ihre Züge genauer zu erkennen und noch länger um
zu begreifen dass das Menschen waren und zwar
nicht irgendwelche, meine Eltern.
Später habe ich Leute getroen die auf Anhieb
einen Vater und eine Mutter hatten mit Zuneigung
und solchen Sachen das habe ich in Zeitschriften
gelesen deshalb konnte ich versuchen zu verglei
-
chen. Aber ich muss Ihnen eins sagen ich erinnere
mich nicht am Anfang Menschen gesehen zu haben.
Und ich weiss nicht wie diese Schatten die ungebe
-
ten in unser Nest eindrangen uns zu fressen gaben
ich muss etwas gegessen haben sonst wäre ich ge
-
storben aber auch hier hätte ich nicht eine einzige
13
Mahlzeit ausmachen oder benennen können alles
lief ineinander.
Es gibt einen Augenblick in der Kindheit wo wir
alle die Augen weiter aufmachen und nach und nach
hatte mein Blick jedes Wesen vom Nest unterschie
-
den und ihm einen eigenen Körper gegeben. Und
ich war einerseits glücklich dass nicht mehr alles
völlig unscharf war und gleichzeitig trauerte ich um
diese Welt verschwommener Verbundenheit in der
ich einfach nur die Wärme spüren und wiedern
-
den musste wenn ich sie verlor. Eines Tages sah ich
mich einem Gesicht gegenüber und das war meine
Schwester und an diesen Tag erinnere ich mich,
auch wenn es nicht meine erste Erinnerung ist weil
es so ein schönes Gesicht war mit hellen Augen und
rosa Lippen.
Hinterher habe ich nach und nach meine Ge
-
schwister kennengelernt einmal habe ich gemerkt
dass die Kugel auf meinem Bauch jemand Schwä
-
cheres war als ich und mein grosser Bruder der Äl-
teste war derjenige der uns immer Wasser holte.
Als aus den Schatten meine Eltern wurden konnte
ich schon mehr und mehr Dinge voneinander un
-
terscheiden und Geräusche und Geschrei. Und ich
hatte angefangen mich der Tür zu nähern.
Näher an die Tür herangehen war eine instinktive
Herausforderung ich hatte das im Blut also legte ich
Kugel neben mir ab und liess ihn ein bisschen wei
-
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nen und streichelte ihm zum Abschied übers Haar
und machte mich auf den Weg. Es war dunkel und
erst hinterher habe ich begrien dass die Eltern nie
die Fensterläden aufmachten es hat Jahre gebraucht
ehe das Konzept von Tag und Nacht zu uns durch
-
drang.
Ich erzähle nicht der Reihe nach das könnte ich
gar nicht. Das Bewusstsein war ein merkwürdiges
Ding und für mich war es dieses allmähliche Erwa
-
chen das machte dass mir das Zimmer immer klei-
ner vorkam und ich kann es nicht besser erklären
selbst nach allem was ich seitdem gelesen habe. Es
gab keine Ränder keine Grenzen kein gar nichts.
Und im Kopf des kleinen Kerls der ich war gab es
plötzlich Wände eine Decke. Der Schatten und das
Gebrüll nahmen eine klarere Kontur an bis ich end
-
lich den Mann erfasste der gesagt hatte Mich nennst
du Vater. Und als ich ganz nah an die Tür gegan
-
gen bin, das allererste Mal, ist sie aufgegangen und
jemand hat zu mir gesagt Na will da jemand seine
Mama besuchen.
Ich kann nicht das Gegenteil behaupten ich habe
es nicht verstanden und ich glaube ich habe gebrüllt
und wenn ich mich wirklich anstrenge bis zum bit
-
teren Ende und die Augen schliesse sehe ich beinahe
das riesige Weibsbild vor mir in einem schmutzig
weissen Nachthemd und mit Haaren wie Lianen
und ihrem Lächeln fehlten ein paar der notwen
-
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digen Zähne. Ich wollte zurück zum Gesicht mei-
ner Schwester ich habe geplärrt meine Mutter hat
Worte gekeift und ich verstand diese Laute nicht
und ich wollte zurück ins Nest und nie wieder an
die Tür heran.

Prix [du métro] Goncourt

Roman

Aus dem Französischen von Anne Thomas


Softcover
ISBN 978-3-03925-026-4
Seiten 228
Erschienen 21. März 2023
€ 24.00 / Fr. 27.50

Die Stärke dieses aussergewöhnlichen Debütromans liegt nicht im Grauen des Erzählten, sondern in der Unschuld, mit der von diesem Grauen erzählt wird.
— L’Obs

Ein junger Häftling schreibt seine Bekenntnisse auf: Bis zum Schulalter lebt Duke verwahrlost mit seinen Geschwistern auf dem Wolfshügel. Seiner Lehrerin fällt bald auf, dass der scheue Junge brutal misshandelt wird. Er kommt zu Pflegeeltern. Doch nach einigen Jahren läuft er davon, durch Wälder bis ans Meer. Dort verliebt er sich in die drogenabhängige Billy und schliesst sich ihren Freunden an. Dukes brennender Wunsch, Billy und sein eigenes versehrtes Leben zu beschützen, wird ihm immer wieder zum Verhängnis. Der Dämon des Wolfshügels lässt ihn nicht los …
Dimitri Rouchon-Bories vielbeachteter Roman wagt eine radikale Innensicht: Er erzählt in einer poetischen Mündlichkeit voller Emotionen von Dukes Ringen mit dem Bösen in sich. Tabulos offenbart er seine verlorene Kindheit, sein Leben voller Schmerz und Wut, aber auch Momente der Liebe und des Glücks.

Wolfshügel ist für den Prix Premiere nominiert. Stimmen Sie bis zum 29. Februar 2024 ab: institutfrancais.de.

-> Literaturgespräch mit Dimitri Rouchon-Borie und Anne Thomas

Pressestimmen

»Wolfshügel« durchbricht die Grenzen des Genres – und Dimitri Rouchon-Borie beinahe die des Erzählbaren. (…) Die Sprache, die er Duke verleiht, zieht in ihren Bann: kindlich-drängend, einfach, manchmal Grundfragen des Menschseins anstossend und poetisch.
— Maria Leitner, Buchkultur
Absolute Härte mit einem so ehrlichen Tonfall und Zärtlichkeit zu schildern ist etwas ganz Besonderes. Ein sehr ernster Roman, unbedingt zu empfehlen.
— Hammett Krimibuchhandlung
Das Debüt von Dimitri Rouchon-Borie ist gross. Grossartig erzählt. Geisterhaft und düster. Soghaft und radikal poetisch. (…) Der Wolfshügel kann überall sein. Vielleicht sogar in unserer Nachbarschaft.
— Petras Bücher-Apotheke
In atemlosem Sog stürzt die Handlung vorüber, teils buchstäblich ohne Punkt und Komma. (…) Eine drastische und doch sensible Studie über Gewalt, die sich über Generationen fortpflanzt.
— Armin Knauer, Reutlinger General-Anzeiger