LENOS
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Lenos Verlag
Annemarie
Schwarzenbach
Winter
in Vorderasien
Tagebuch einer Reise
Mit ausgewählten Fotograen
Erweiterte Neuausgabe
Erste Auflage 2023
Copyright © 2002/2023 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Fotograen: Bildnachlass Annemarie Schwarzenbach, Schweizerisches
Literaturarchiv, https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:CH-NB-
Annemarie_Schwarzenbach
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 032 5
www.lenos.ch
Winter in Vorderasien erschien erstmals 1934 im Rascher Verlag, Zürich.
Die vorliegende Fassung ist eine ungekürzte Wiedergabe des Textes der
Erstausgabe. Satzzeichenfehler sowie einige stilistische Mängel wurden kor-
rigiert, die Schreibweisen mancher geographischer Namen angepasst.
Winter in Vorderasien
Inhalt
Istanbul 9
Ankara 15
Ritt auf den Hüseyin Gazi 24
Kayseri 28
Konya 36
Syrien 45
Baghras 57
Beirut 62
Blick auf Palästina 74
Ausgewählte Fotograen 1933/1934 81
Irak 177
Ur, Erech und Babylon 180
Hilla, Birs Nimrud, Karbala, Uchaidir, Nadschaf,
Kufa, Babylon 199
Schakaljagden 217
Persien: die Reise nach Teheran 222
Teheran 229
Die Kaspischen Tore 232
Mazanderan 236
Ab-e Garm 241
Persepolis 246
9
Istanbul
15. Oktober 1933
Die Griechen haben das Wort erfunden, schwer und voll-
tönend wie eine farbige Abendstunde vor dem Erlöschen:
Melancholie. Der Balkan war voll davon – nur eine Ahnung
liess uns die üchtige Durchfahrt von Ländern, Grenzen,
Gebirgen und Hauptstädten –, aber welche unerlöste Folge
von Stunden, welch langsamer Abend, welches Einschlafen
unter dem Druck dieser grauen Berge und bräunlichen Ebe-
nen! Schafherden weideten überall, die Maisfelder standen
in herbstlicher Dürre. Die Bauern sandten unverständlich
schweigsame Blicke unserer verschlossenen Wagenreihe
nach, die Frauen verbargen ihre vorgewölbten Leiber unter
dickgefütterten Jacken, ihre zerfurchten Klagegesichter un-
ter dunklen Kopftüchern.
Ich versuchte, mich an die Namen der grossen Bulgaren-
zaren zu erinnern, der blutigen Schlachten mit den Byzanti-
nern, an die türkischen Eroberer.
Da begann an einem elenden Bahnhof eine Bläserkapelle
zu spielen. Es war schon dunkel, die Leute standen im Wind
und bliesen, während der Zug sich in Bewegung setzte …
ein Volkslied vielleicht … traurig und verloren wehten die
Töne uns nach.
Heute morgen erwachten wir dann in einer neuen, ur-
fremden Landschaft. Diese kahlen Hügelreihen, dieses
Steppengras, diese zu weissen Wolken, von Windstössen ge-
jagt – das war schon Asien, begrüsste uns schon wie rauher
Nomadenschrei. Hirten, in Pelze gekleidet, die lange Flinte
über der Schulter, jagten wie besessen auf ihren kleinen
Pferden neben dem Bahngeleise her, während die Ochsen
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in träger Ruhe mit breiten Hörnern und hellem Fell in der
Morgensonne lagen. Bald tauchte das Meer auf – eine tief-
blaue Bucht –, leuchtend wie drüben an der verwandten
Küste Südfrankreichs; hinausblickend wusste man: unend-
lich weit jenes geliebte Europa und fühlte sich wehmütig
angerührt.
Mauern tauchten auf, byzantinische Reste, gegen Meer
und Land gewendet. In ihren Breschen und Höhlen hat-
ten Hirten ihre Zeltdächer aufgespannt, kleine Rauchsäu-
len stiegen schwankend in den bewegten Himmel. Und
plötzlich war es Stambul, das mit Kuppel und Nadeln der
Hagia Sophia (ein Kindheitstraumbild), mit glänzenden
Ufern, Schien, Segeln und einem Meer weisser Häuser,
von hellblauem Dunst verschleiert, aus der Spiegelut em-
porstieg …
Man wird in den Strassen der Stadt vom Eindruck des
Zeitlosen, Ungewissen und Preisgegebenen überfallen wie
von einer Versuchung. Wie oft spielt man mit dem Gedan-
ken, das gewohnte Dasein an einer Stelle willkürlich abzu-
brechen, sich von den alten Orten, Freunden, Tätigkeiten
zu trennen, in Anonymität unterzutauchen – und wie weit
ist man stets wieder von dieser Versuchung des Schicksals
entfernt!
Hier, die Stadt an der Grenze Asiens, die Meerespforte,
das glänzende Schwert zwischen Osten und Westen: sie ist
wie eine Drohung überpersönlicher, ja übermenschlicher
und zeitloser Abläufe.
Hier werden Völker aus den östlichen Ebenen gesammelt
und hinübergeworfen nach Europa, Religionen formen und
scheiden sich und erstarren zu goldenem Bilderdienst. Hier
landen Flotten, werden demütige Kreuzritter zu ronräu-
bern und östlichen Herrschern, Hellenen und Barbaren fol-
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gen aufeinander, und nichts ist der einzelne oder ein Por-
phyrogennetos …
Wir waren in den Moscheen, Basaren und Handwerker-
vierteln. Wir sahen Bettler, kleine Mädchen, Wasserträger,
Blinde und Betende, Popen, Makler, Fischverkäufer, Trut-
hahntreiber – wir sahen all das Längstbekannte: den farbi-
gen Orient, das Nie-ganz-zu-Erfahrende. Vielleicht ist es
uns gelungen, eine gute Aufnahme des alten Mannes zu ma-
chen, welcher im Hof der Beyazıt-Moschee sitzt: in einem
hellroten, zerschlissenen Seidenmantel, die Hand zum Han-
deln und Geldeinnehmen ausgestreckt wie zur würdigsten
Verrichtung und einen Weisheitsblick auf uns richtend, voll
schmerzerfahrener Gelassenheit und ganz ohne Hohn.
Auch alte Frauen haben oft diesen Blick – man erinnert
sich dann daran, dass die Türken ein Herrenvolk waren und
Levantiner und Griechen, auch Ägypter, für sich handeln
liessen.
Im grossen Basar war es sehr still. Die Leute priesen ihre
Waren kaum zweimal an und liessen uns weitergehen – bis
in die tiefsten und dunkelsten Gewölbe, wo Messingtöpfe,
Lampen und Schwertklingen aus dem Dunkel der Nischen
leuchteten …
Dort sassen alte Männer neben zerlumpten Knaben,
deren Augen wie Tieraugen glühten – sie schwiegen oder
wiegten sich ein wenig und sangen. Manchmal hatten sie,
zu Haufen aufgestapelt, alten Hausrat, darunter schöne,
wenn auch meistens verdorbene und erblindete Stücke.
In alten Büchern sah man Miniaturen, deren zarte Gold-
linien kaum noch erkennbar waren im vergilbten Papier;
feingeochtene Armbänder mit Türkisen und Korallen,
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wunderbar nebeneinander anzusehen; alte Klingen, zerbro-
chene Teller, in Farben bemalt, die man heute nicht mehr
nden würde; russische Ikonenbilder mit rötlichgoldenen
Heiligengesichtern und grossäugigen Gotteskindern; köst-
lich bestickte Fetzen alter Leinwand; irgendwo, in einem
besseren Laden, einen türkischen Frauenmantel, schilfgrün
und golddurchwirkt, mit oenem, stehendem Kragen, wei-
ten, lang zulaufenden Ärmeln, für ein schlankes, hochge-
wachsenes und schmalschultriges Mädchen bestimmt.
Gegen Abend waren wir wieder auf dem grossen, gras-
bewachsenen Platz der Süleymaniye. Der Himmel, an die-
ser Stelle wie ein Baldachin über dem gobelingestickten
Gemälde vom Goldenen Horn, über langen Brücken, an-
gehäuften Barken, dem Galataturm und der ansteigenden
Stadt Pera, den grünen Gärten des Serails, den blauen, be-
wegten Flächen des Bosporus, den reichen Ufern und Inseln
und den gelben Küstenzügen, die schon Anatolien, Steppe,
Asien aus der Ferne beschwören …
Ein Gebetsrufer sang von einem der weissen, leuch-
tenden Minarette. Seine Stimme hallte klagend, schwebte
langsam von der Höhe herab, verklang, als er sich auf die
andere Seite des Turmes wandte. Drüben, über Galata und
Beyoğlu, stieg ein leichter Nebel auf und verhüllte die Häu-
sermassen. Auf unserer Seite war die Luft durchsichtig,
leicht bewegt und kühl. Wir sahen auf die runden Blei-
kuppeln der alten Volksküchen des Kalifen hinunter, in die
enge Strasse, wo die Schmiede in den Mauerarkaden ihre
dürftigen Werkstätten eingerichtet hatten. Ihr Hämmern
tönte dumpf, daneben Klappern von Eselhufen und Holz-
sandalen und langgezogene Abendrufe der Strassenhändler.
Ein Mann ging langsam über den Platz, eine Katze auf dem
Nacken. Als er sich an einem der Brunnen die Füsse wusch,
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miaute sie ängstlich, sprang herab und strich durch das nie-
dere Gras davon.
Die Gerüche in der Handwerkerstadt waren so durch-
dringend, dass mir beinahe übel wurde. Nicht nur Fische in
achen Körben: blauschillernde, grosse Tiere; nicht nur tau-
send Gewürze, Fleischmassen, Öle, Käse- und Quarkbuden,
Melonen, Pfeersäcke, Bier, gärender Traubenmost; nicht
nur ungezählte Garküchen mit ihrem penetranten Ham-
melfettgeruch, ihren dampfenden Herdlöchern, Tomaten-
und Fleischschüsseln, alles in gelber Fettsauce schwim-
mend – daneben noch, auf der Strasse, in den Buden und
Werkstätten, kleine oene Feuer, Pfannen mit Gesottenem
und Gebratenem, Fischkoteletts, überzuckerten Klössen, in
Öl gedrehten Auberginen: ein erstickender Schwall schwe-
rer Gerüche neben Staubwolken, Schmiederuss und feuch-
tem Wäschedampf. In den Fenstern der Garküchen sah
man manchmal, neben Hühner- und Taubenleichen, nackte
Hammelköpfe mit leeren Augenhöhlen wie heidnische
Symbole über den dampfenden Schüsseln aufgerichtet.
Inmitten der Handwerkerstadt fanden wir die kleine Mo-
schee, zu der eine Treppe zwischen den Häusern und Läden
emporführt. Wir zogen die Schuhe aus und gingen hinein;
ein Raum von unendlich reinen Ausmassen und beruhigen-
der Wirkung empng uns. Wände und Säulen waren ganz
mit den köstlichen blauweissen Fayencekacheln verkleidet:
eine Ablenkung zuerst, sanfte Verwirrung stiftend – dann
aber hinüberleitend zu Abstraktion und Andacht.
Ein Türke zeigte mir einen alten, handgemalten und
handgeschriebenen Koran. »Nur so lange darf man an dem
heiligen Buch schreiben«, sagte er mir, »als man sich vom
Denken fernhalten kann. Sobald der Gedanke die innere
Ruhe stört, muss man mit der Arbeit abbrechen.«
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Um die Abendstunde kamen viele Leute in die Moschee:
alte Männer, Zerlumpte und phantastisch Gekleidete, ehr-
bare Handwerker und fettleibige Händler, Aristokraten und
Gaunergesichter. Niemand beachtete uns. Durch die oe-
nen, vergitterten Fenster drang der Lärm der Strasse, Ge-
schrei, Zank, Anpreisung und Feilschen herauf. Die Alten
aber, auf hellen Teppichen kniend, verrichteten in tiefer
Ruhe ihre mannigfachen Gebetsübungen.
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Ankara
26. Oktober 1933
Asphaltstrassen führen von der neuen Hauptstadt in die
Steppe und die Anstiege und Schluchten aus braunem, un-
bewachsenem Erdreich. Unendliche Farbenskalen spielen an
fernen Horizonten, der Himmel selbst ist so gross wie über
dem Meer und spannt sich, ein durchsichtig seidenes Ge-
wölbe mit langen Wolkenstreifen, über dem trostlosen Land.
Es ist eine öde Hochgebirgslandschaft: Zwischen den
letzten achen Gipfeln der Welt führt die Strasse ins Unbe-
kannte, wo man ewig im Kreise geht …
Manchmal gibt es eine Wasserader, ein bescheidenes
Rinnsal; da grünen einige Büsche, neigen sich schwache
Bäume, wächst ein zarter Rasenteppich: Leben und Wachs-
tum genug; ein Pferd weidet am Bachufer, sein Reiter liegt
im kleinen Schatten und schläft. Weiter draussen, in einem
Becken zwischen Felshügeln, wird das grosse Stauwerk der
Stadt Ankara gebaut. Eine Mauer aus Eisenbeton wächst
gewaltig empor, aber das Wasser ist noch nicht gefunden,
welches das Becken füllen soll. Nun wartet die Mauer, ein
verirrter Gigant.
Als wir im Ford, der sinkenden Sonne entgegen, heim-
wärts fuhren, erblickten wir von weitem die ersten Kamele.
Sie standen in langer Kette auf einem Hügelrücken,
dunkel und gross im leeren Himmel. Wir riefen Hassan zu,
dass er halten solle, sprangen aus dem Wagen und liefen die
Anhöhe hinauf. Die Tiere standen und lagen, einige reglos,
andere bewegten beim Fressen die sonderbaren Langhälse
auf und ab, taten ein paar Schritte und liessen sich in die
Knie nieder.

Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien

Tagebuch einer Reise

Klappenbroschur (Neuausgabe mit Fotos) (mit 96 Fotos)
ISBN 978-3-03925-032-5
Seiten 256
Erschienen 10. Oktober 2023
€ 28.70 / Fr. 33.00

Das Tagebuch ihrer Reise eignet sich für alle, die sich von der orientalischen Welt verzaubern lassen möchten.
— Frankfurter Neue Presse

Im Herbst 1933 besteigt Annemarie Schwarzenbach den Taurus-Express nach Istanbul. Es ist der Auftakt zu ihrer ersten Reise nach Vorderasien, die sie durch Anatolien, Syrien, den Libanon, Palästina und den Irak nach Persien führen wird. Eine schwindelerregende Strecke über gewaltige Gebirgsketten – noch dazu im Winter.

In einer Sprache, die sich vor allem durch Klarheit und Objektivität auszeichnet, schildert Annemarie Schwarzenbach die Erlebnisse und Eindrücke ihrer Reise und stellt in ihren Aufzeichnungen ihr journalistisches Können unter Beweis. Wie durch die Linse einer Kamera betrachtet, fängt sie Landschaftsstimmungen ein, entwirft immer wieder neue Bilder, um dem Facettenreichtum der Natur gerecht zu werden. Gleichzeitig protokolliert sie als Zeitzeugin den Einfall der Moderne in die archaisch anmutende Welt Vorderasiens, in der Eisenbahn und traditionelle Karawanenroute noch nebeneinander existieren.

Dank ihrer profunden geschichtlichen Kenntnisse gelingt es ihr, das Vorderasien der Vergangenheit mit dem der Gegenwart zu verknüpfen – und sie stellt Bezüge her, die auch heute ihre Aktualität nicht verloren haben.

Pressestimmen

Diese Exkursion, unternommen von einer unerschrockenen, hemmungslos den Eindrücken sich preisgebenden jungen Frau, ist ein Fund. Mit ihrer Beobachtungsgabe und ihrem Abenteurertum ausgestattet, könnte man heute jeden deutschsprachigen Reportagenpreis gewinnen.
— Wilfried F. Schoeller, Norddeutscher Rundfunk