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Lenos Verlag
Mamdouh Azzam
Wie ein ferner Herzschlag
Roman aus Syrien
Aus dem Arabischen übersetzt
und mit einem Nachwort versehen
von Regina Karachouli
Originally published as:
Ascension to Death تﻮﳌا جاﺮﻌﻣ
Copyright © Atlas for Publishing, Translation and Culture –
Beirut, Lebanon
Erste Auflage 2015
Copyright © der deutschen Übersetzung
2015 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Neeser & Müller, Basel
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 458 1
Die Übersetzerin
Regina Karachouli, geboren 1941 in Zwickau. Studium der Arabistik
und der Kulturwissenschaften in Leipzig. Promotion über Dramatik
und Theater in Syrien. Von 1975 bis 2002 Lehr- und Forschungs-
tätigkeit am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Überset-
zerin zahlreicher literarischer Werke aus dem Arabischen (u.a. von Sa-
har Khalifa, Alia Mamduch, Hanna Mina, Sabri Mussa, Tajjib Salich,
Habib Selmi, Nihad Siris und Baha Taher).
Zum Andenken an meinen Vater
Hinterlasse ich nichts hienieden
Wenn ich geh?
Nicht wenigstens Blüten?
Hymnen wenigstens?
Was wird es tun, mein Herz?
Vielleicht war ich vergebens auf Erden?
Aus der aztekischen Gesangsdichtung
Tröstet mich, denn die hellen Wünsche
Sind dahin. Doch nimmer schwindet die Zeit.
Abu l-Alâ’ al-Ma‘arrî
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Am Morgen erbrach sie Blut. Zum ersten Mal, seit
man sie vor einem Monat hierhergebracht und die Tür
dieses Raumes abgeschlossen hatte, spürte sie, dass
ihr die Beine einknickten. Dass ihr rper hinfällig
geworden war, zu ausgetrocknet, zu leicht, um den
schweren, matten Kopf zu tragen.
Zum ersten Male auch widerte sie das Essen an. Die
breiige Masse auf dem Teller vor ihr schien einen ab-
scheulichen Dunst von rohem Fleisch zu verströmen.
Es war der Geruch ihres eigenen Blutes.
Sie konnte das Blut nicht sehen. Der Raum lag zu
tief. Er war düster, kein Licht fiel herein. Nur ein fahler
Schein drang durch die Ritzen der Holzläden vor dem
Fenster.
Als die Übelkeit sie zu Boden zwang und der
Schweiss ihre Kleider mit Feuchtigkeit und ranzigem
Geruch tränkte, glaubte sie anfangs, sie habe vielleicht
zu lange mit dem Nachtmahl gewartet und das Es-
sen sei verdorben. Sie konnte nicht sehen, ob die Speise
verfärbt war. Was sie verzehrte, erkannte sie allein am
Geschmack. Sie schob das alles auf die Finsternis. In-
zwischen hatte sie vergessen, dass sie ihre Umgebung
während der ersten beiden Wochen noch recht gut
wahrnehmen konnte, nachdem sich ihre Augen einmal
an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In der letzten Wo-
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che aber hatte ihre Sehkraft stark nachgelassen. Seit-
dem erblickte sie die Dinge nur noch wie durch einen
feinen, von Nebelschwaden durchwehten Schleier. Er-
scheinungen tauchten vor ihr auf, unwirklich, verzerrt
wie im Traum: eine Wolke blasser Vögel, Gebinde
aus weissen und schwarzen Blumen, funkelnde Blitze,
kräuselnde Rauchsäulen.
All das gewann Gestalt vor ihren Augen und zog
dahin über eine einrmige, trostlose Mauerkulisse aus
geschichteten Steinen von unterschiedlicher Grösse,
die manchmal, wenn sie ein schwacher, zitternder
Lichtstrahl durch die Ritzen traf, kurz aufleuchteten,
um alsbald wieder ins schwärzliche Indigo ihrer ste-
reotypen Muster zu versinken.
Der Raum, in den man sie gesperrt hatte, war der
einzige Keller im ganzen Dorf. Ihr Urgrossvater hatte
ihn einst ausgehoben, als er aus Anatolien zurückge-
kehrt war. Alle Welt kannte den Grund: Er war aus
dem osmanischen Heer desertiert. Beim Bau des Kellers
hatte er ein kleines Fenster offen gelassen, das leicht zu
tarnen war, indem man Mist und Dung vor die Läden
häufelte. Der Zugang selbst war freilich unauffindbar,
denn es gab nur eine Luke von einem Dreiviertelmeter
im Quadrat, gut versteckt in der abgelegensten Ecke
des Vorratsspeichers. Den Raum darunter nannte man,
warum auch immer, das »Pferdehaus«.
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Die alten Frauen, die ihre Gefangenschaft über-
wachten, hatten schon vorher allen Schmutz und Un-
rat unter dem Fenster beseitigt. Sie hatten die Stelle
gründlich gefegt, den Erdboden gelockert und Pfef-
ferminze angepflanzt, die sie täglich gossen. Sie woll-
ten nicht, dass sie allzu schnell starb. Eine von ihnen
machte sich sogar daran, mit einem Messer, das sie
ihren beiden älteren Schwestern heimlich entwendet
hatte, eine Ritze im Fensterladen zu erweitern. Den
ganzen Tag war sie damit beschäftigt gewesen und
glaubte noch, eine gute Tat vollbracht zu haben.
Sobald man Salma hereingeführt hatte, war mit
ihnen eine verblüffende Wandlung vor sich gegangen.
Plötzlich entstiegen sie den Todessümpfen, in denen
sie begraben gelegen hatten, ihrem endlosen altjüng-
ferlichen Dasein, und sie durchliefen eine Serie un-
geheurer Metamorphosen. Das Leben durchströmte,
durchpulste sie wieder, wie Löwinnen stürmten sie
los, hinaus in die Welt. Sie spülten den Moder der Le-
thargie von sich ab, sie lausten einander wie Äffinnen
und kämmten ihr Haar. Danach kleideten sie sich in
ihre besten Gewänder, die sie seit ewigen Zeiten auf-
bewahrt hatten. Die Pflege des bepflanzten Beetes vor
dem Kellerfenster war ein ritueller Bestandteil ihres
strahlenden Aufbruchs.
Das Fenster zeigte gen Westen, hiber zum Schaf-
pferch, der auf einem Felsen hoch über dem winterli-
chen Wadi errichtet war. Mit seinen ragenden Hürden
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und starken Wänden erschien er von weitem wie eine
Zitadelle. Salma hatte denn auch niemals versucht,
zum Fenster zu gelangen und um Hilfe zu rufen. Seit
sie das Blöken der Schafe und das Muhen der grossen
Damaszenerkuh gehört hatte, war sie überzeugt, dass
niemand sie finden würde. Sie kannte ihren Kerker.
In den ersten Tagen hatte sie ihre Hoffnung auf die
Falltür gesetzt. Ein paarmal war sie die Mauer hin-
aufgeklettert und hatte mit der Faust gegen das dicke
schwarze Holz getrommelt.
Die alten Frauen mussten es mitbekommen haben.
Ihr Bruder stand auch dabei, er nickte ihnen zu. Sie
wussten ohnehin, was zu tun war. Wie oft hatten sie
zugesehen, was ihre Mutter unternommen hatte, um
den Vater zu verstecken, wenn von weit her das Waf-
fengeklirr der osmanischen Soldaten oder hernach die
Gewehrschüsse der französischen Söldner zu ihnen
schallten.
*
Sie füllten zwei Hanfsäcke mit Weizen, zerrten sie
auf die Luke und deckten eine grobe Matte aus Zie-
genhaar darüber.
Ihnen war bewusst, dass sie Salmas verzweifeltes
Klopfen jetzt nicht mehr ren würden. Aber wenn
sie allein im Haus waren, schlichen sie trotzdem her-
an und spitzten die Ohren. Wie ein ferner Herzschlag
drang es aus der Tiefe zu ihnen herauf und weckte in
* Informationen zu historischen Hintergründen sowie Erklärungen
einiger arabischer Begriffe im Glossar ab Seite 165.
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ihren verdorrten Leibern eine unbändige Gier nach Le-
ben.
Später, als das unterirdische Pochen verstummte,
liessen sie davon ab. Nach und nach befiel sie eine zer-
mürbende Traurigkeit. Sie spürten, dass ihr Dasein
wieder in die Gräben tödlicher Langeweile zu entglei-
ten drohte. Die einzige Abwechslung, die ihnen blieb,
war, für Salma ein Fladenbrot zu backen und ihr die
Nahrung hinabzuwerfen. Es war, als vermöchte allein
der Rhythmus von Salmas Jammerlauten aus dem Kel-
ler unter ihnen ihren trägen Puls zu beschleunigen.
Doch Salmas Entschlossenheit war erschlafft. Noch
am ersten Tag der dritten Woche hatte sie versucht,
die Steine zu erklimmen und die Fallr zu erreichen.
Es war ihr nicht gelungen. Sie verzichtete auf einen
neuen Versuch, sie fühlte, dass sie nicht mehr wollte.
Plötzlich hatte sie nach Luft gerungen, sie glaubte
ersticken zu müssen. So zog sie sich an den vorsprin-
genden Steinschichten auf der Fensterseite empor, um
durch die Risse und engen Spalte etwas frische Luft
zu schöpfen. Der Duft der Pfefferminze belebte sie ein
wenig. Lange konnte sie sich freilich nicht dort oben
halten. Ihre Hände ermatteten, sie ahnte, dass sie fal-
len würde. Dann stürzte sie zu Boden.
Von diesem Moment an war sie ständig müde. Ei-
gentlich schlief sie nicht. Es war eine Art Betäubung,
die sie erfasste und wie in Ekstase zwischen vagen
Phantasiegebilden umherirren liess Visionen von

Mamdouh Azzam
Wie ein ferner Herzschlag

Roman aus Syrien

Aus dem Arabischen von Regina Karachouli


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-458-1
Seiten 167
Erschienen März 2015
€ 19.90 / Fr. 25.00

Der aufwühlende Erstling des syrischen Autors beruht auf einer wahren Begebenheit und erinnert in seiner ausweglosen Konsequenz an ein klassisches Drama. Die schöne, einsame Salma lebt in einem drusischen Dorf im Süden Syriens. Früh schon hatte ihr tyrannischer Onkel sie in eine arrangierte Ehe mit Saîd gezwungen. Als ihr Mann, der sie regelmässig vergewaltigt, für längere Zeit ins Ausland geht, begegnet sie dem schüchternen jungen Lehrer Abdalkarîm. Erste zarte Bande werden geknüpft. Unterdessen peinigt Saîds Stiefmutter - rasend vor Eifersucht, hatte sie doch einst selbst eine Affäre mit Salmas Ehemann - ihre Schwiegertochter bis zur Erschöpfung. Die Liebe einer verheirateten Frau zu einem anderen Mann ist freilich eine Provokation für die dörfliche Gemeinschaft mit ihren verknöcherten Traditionen, und die scheinheilige Fassade, mit der Salmas mächtiger Onkel seine sexuellen Eskapaden und politischen Karriereträume zu kaschieren weiss, wird brüchig. Am selben Tag, da er nach jahrzehntelangem Intrigieren endlich in die Riege der Oberhäupter des Dschebel al-Durûz aufgenommen werden soll, flieht Salma und vereitelt so all seine Pläne. Mit »Wie ein ferner Herzschlag« liegt erstmals ein Roman Mamdouh Azzams, eines der bedeutendsten syrischen Autoren der Gegenwart, in einer europäischen Sprache vor. Der Roman wurde 1996 in Syrien verfilmt.

Pressestimmen

Azzam erzählt die Geschichte der jungen, schönen Salma, die wir gleich zu Beginn des Romans auf entsetzliche Weise sterben sehen: ein perfider Ehrenmord auf Raten, bei dem sich die Verantwortlichen die Hände nicht schmutzig machen wollen. Vorauf geht ein wahrer Hexentanz aus Geilheit, Eifersucht und Bigotterie, der die Frauen in einen hässlichen Spagat zwischen den strikten Normen und eigennützigen Usanzen einer machistisch geprägten Gesellschaft und ihren eigenen Bedürfnissen niederzwingt.
— Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung
Nicht nur weil Ehrenmord weit über die Grenzen dieser religiösen Minderheit in Syrien hinaus vorkommt, sondern auch dank Azzams literarischer Fähigkeiten gewinnt dieser Roman universale Bedeutung. … Die tiefe Frauenverachtung, die sogenannten Ehrenmorden zugrunde liegt, schockiert nicht nur im Westen, sondern wird auch von arabischen Feministinnen heftig attackiert. Der Roman ist allerdings kein feministisches Manifest. Er arbeitet mit literarischen Mitteln und erzählt in einer genauen und zugleich bildhaften Sprache von Salmas Kampf um ihre Liebe.
— Susanne Schanda, NZZ am Sonntag
Romane aus Syrien sind eine Seltenheit. Hier liegt einer vor, der ehrlich und schonungslos an einer wahren Begebenheit die syrische Gesellschaft beschreibt.
— Evangelisches Literaturportal
Eine märchenhafte, dunkle und aufwühlende Geschichte, die den gesellschaftskritischen Ansatz des Autors erahnen lässt.
— ekz.bibliotheksservice