LENOS
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Lenos Verlag
Alain Blottière
Wie Baptiste starb
Roman
Aus dem Fransischen
von Margret Millischer
Die Übersetzerin
Margret Millischer, geboren 1957, studierte am Wiener Dolmetsch-
institut und an der ESIT in Paris Französisch und Italienisch sowie in
Wien Romanistik und Kunstgeschichte. 2001–2017 Lehrbeauftragte
am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien. Zahl
-
reiche literarische Übersetzungen aus dem Französischen, u. a. von Jean-
Michel Maulpoix, Abdellah Taïa, Bernard Noël und Driss Chraibi.
Lebt als freiberufliche Übersetzerin und Dolmetscherin in Wien.
margretmillischer.wordpress.com.
Die Übersetzerin und der Verlag danken dem Centre National du Livre
r die Unterstützung.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Struktur
-
beitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Titel der französischen Originalausgabe:
Comment Baptiste est mort
Copyright © 2016 by Editions Gallimard, Paris
Erste Auflage 2019
Copyright © der deutschen Übersetzung
2019 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: Mariano, Wikimedia Commons, lizenziert unter
CreativeCommons-Lizenz by-sa-3.0-de
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 495 6
»… eine andere Form von Intelligenz,
die des Geheimnisses.«
Jean Baudrillard
(Le mal ventriloque,
Carnets de l’Herne, 2008)
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– Baptiste, erzähl, wie diese Geschichte begonnen hat.
– Ich heisse jetzt Yumai.
Yumai?
Ja
sie haben mir diesen Namen gegeben.
– Baptiste, diese Geschichte ist jetzt vorbei
du willst doch wieder zu uns zurückkommen?
Kannst du dich an den Tag erinnern, an dem sie dir die
-
sen Namen gegeben haben
Yumai?
– Ich glaube, es war am Tag meiner Geburt
ich kann mich nicht daran erinnern.
– Wie alt bist du, Baptiste?
Yumai, wie alt bist du?
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Vierzehn.
– Du bist also vierzehn Jahre alt
und sie haben dir diesen Namen am Tag deiner Geburt
gegeben?
Wie konnten sie vor vierzehn Jahren wissen, dass du
4000 Kilometer von ihrer Wüste entfernt geboren wurdest?
– Sie haben es nicht gewusst
ich wurde vor vierzehn Jahren nicht als Yumai geboren.
– Das verstehe ich nicht
kannst du es mir erklären?
– Das ist schwierig
nach der Entführung
ich weiss nicht, wann
wurde ich für sie geboren, ich wurde zu Yumai
sie sagten zu mir, dass der Fuchs in einem Märchen
Yumai heisst
mein Name hat mit dem Fuchs zu tun und mit meinen
Haaren
sie haben die gleiche Farbe wie der Sand
aber sie haben nicht einfach eines Tages zu mir gesagt:
Ab heute heisst du Yumai
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ich war schon Yumai, als ich meinen Namen zum ersten
Mal hörte.
– Und erinnerst du dich an dieses erste Mal?
Ja.
– Willst du es mir nicht erzählen?
Haben sie auch deinen Brüdern einen Namen gegeben?
Nein.
– Hast du eine Ahnung, warum?
Yumai, ich habe dir eine Frage gestellt
dreh dich herüber
schau mich an
ist etwas mit dem Büro hier?
– Es stinkt, alles ist scheusslich
man erstickt ja
– Tut mir leid, wir haben keine Wahl
wir können nirgendwo sonst hingehen
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ich werde das Fenster aufmachen
geht es so?
Mach die Augen zu
ich bin sicher, du kannst fliegen, wohin du willst, wenn
du die Augen schliesst.
– So ein Blödsinn.
– Ich möchte gerne, dass du mir ein bisschen etwas er
-
zählst.
Erzählen
es gibt Dinge, die ich erzählen kann
aber es gibt auch Lücken
da kann ich mich überhaupt nicht erinnern
ich erinnere mich zum Beispiel
an die magischen Sterne in der Nacht
an das Glücksgehl im Schatten
bei Tag
die Freude über das Wasser
das Wasser, das in den trockenen Mund rinnt
hinunterläuft
und den Durst löscht, an dem ich stundenlang gelitten
hatte.
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– Du hast zu mir gesagt, du erinnerst dich an das erste
Mal, als dich jemand Yumai und nicht mehr Baptiste ge
-
nannt hat.
– Sie haben mich nie Baptiste genannt
r sie war ich gar kein Mensch
bevor ich Yumai war
nicht mal ein Tier
nicht mal eine Gazelle
nicht mal ein Kamel
ich hatte keinen Namen
warum möchten Sie wissen
wann ich zum ersten Mal verstanden habe, dass sie mir
diesen Namen gegeben hatten?
– Es ist wichtig, weil an diesem Tag eine Verbindung zwi
-
schen euch entstanden ist
ich würde gern verstehen, was für eine Verbindung das war
nun?
– Ich verstehe die Sache mit der Verbindung nicht.
– Aber du hast doch Baptiste geheissen, Yumai
als dir deine Eltern diesen Namen gaben, haben sie dich
in eine Gemeinschaft aufgenommen
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das ist die Verbindung durch die Taufe
ich frage mich also, warum diejenigen, die dich Yumai
nannten, eines schönen Tages wollten, dass du weisst, dass
sie dich adoptiert hatten.
– Sie haben mich gesucht
sie haben mich gerufen
Yumai! Yumai!
ich hörte das Wort, ich wusste noch nicht, dass es mein
Name war
es hallte in den Bergen wider
sie waren zu viert, als sie mich suchten
Yumai! Yumai!
von allen Seiten hallte es wider, und ich sah sie nicht.
– Warum haben sie dich gesucht?
– Ich war ausgerissen.
– Du warst ausgerissen?
Ganz allein?
Ja
in der Nacht
Tajoud war eingeschlafen, da habe ich die Gelegenheit
genutzt
alle schliefen unter dem Baum
es war, kurz nachdem sie das erste Video aufgenommen
hatten
ich stellte mir vor, wenn ich immer geradeaus ginge
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egal in welche Richtung
würde ich irgendwann etwas finden
eine Sandpiste
eine Strasse
ein Dorf
als es in der Früh hinter den Bergen etwas hell wurde,
beschloss ich, in diese Richtung zu gehen
nie davon abzuweichen und die Berge zu überqueren
ich marschierte stundenlang, es gab keinen Schatten, ich
kam fast um vor Durst
und dann bekam ich Angst
ich hatte nicht zum ersten Mal Angst
aber ich war dort ganz allein
wirklich allein wie noch nie in meinem Leben
keine Bäume
nur Sand und Steine
ich weiss nicht, wie, ich erinnere mich nicht, ich erreichte
die Berge und erwachte neben einem Felsen liegend
im Schatten
ich dachte mir, ich würde dort sterben
und dann hörte ich ihre Stimmen
Yumai! Yumai!
Usman hat mich gefunden
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er sprach Englisch
mehrere von ihnen sprachen Englisch, er, Amir, Idris,
Tajoud, Darling
damals hatte ich noch kein einziges Wort Arabisch oder
Mandi gelernt
ich bat ihn um Wasser, er antwortete nicht
er zielte mit seinem
AK-47 auf mich
es war nicht das erste Mal, aber da dachte ich, es ist aus
und dann drehte er das Gewehr nach oben und schoss in
die Luft
die anderen kamen
zuerst Amir
er zog mich an den Haaren hoch und sagte zu mir: Das
nächste Mal, Yumai, bring ich dich um
so habe ich meinen Namen erfahren
er gab mir zu trinken
er trug mich, als ich nicht mehr gehen konnte
er sagte immer wieder den gleichen Satz, next time,
Yumai, I’ll kill you, next time, Yumai, I’ll kill you
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ich glaube, ich bin in seinen Armen eingeschlafen
jetzt werden Sie zufrieden sein, ich habe viel erzählt.
– Hat er dich bestraft?
Amir?
ja
er hat mich an ein Motorrad gebunden, in der Sonne,
und ich durfte den ganzen nächsten Tag nichts trinken
meine Mutter flehte ihn an
Amir drohte ihr, sie umzubringen, wenn sie nicht still sei
und Tajoud peitschte er aus
sein Rücken blutete.
– Hast du versucht, noch einmal zu fliehen?
Nein
nie mehr.
– Weil du Angst hattest, dass er dich umbringt?
Yumai, hattest du Angst, dass er dich umbringt?
– Ich hatte immer Angst, dass er mich umbringt, auch
wenn ich nicht ausgerissen bin.
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– Aber du hast nicht einmal mehr daran gedacht
sie mussten dich nicht mehr anbinden
du warst gebunden
an sie gebunden durch diesen Namen
du hast nicht mehr daran gedacht zu fliehen
Baptiste konnte davonlaufen, Yumai nicht.
– Ich verstehe nicht, was Sie sagen
ich konnte nicht fliehen, das ist alles
ich wäre gerne geflohen, aber ich konnte nicht.
– Ich würde gerne wissen, warum sie dir einen Namen ge
-
geben haben, nur dir
es muss einen Grund haben, dass sie dich ausgewählt
und nicht umgebracht haben
du musst nachdenken, wir werden morgen darüber reden
versuch, dich an Einzelheiten zu erinnern
das kann ein Wort sein, eine Geste
ein Blick
ein Lächeln
etwas, was von ihnen kam oder von dir und weshalb sie
dich ausgewählt
und vielleicht sogar geliebt haben.

Grand Prix Jean Giono

Alain Blottière
Wie Baptiste starb

Roman

Aus dem Französischen von Margret Millischer


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-495-6
Seiten 202
Erschienen 4. Juni 2019
€ 26.00 / Fr. 29.80

Eindringlich und brillant erzählt: die Geschichte einer Entführung durch Dschihadisten und der unmöglichen Rückkehr in die Normalität

Sie waren auf einem Wüstentrip – Baptiste, seine Eltern und seine zwei kleinen Brüder –, als sie von einer Gruppe Dschihadisten entführt wurden. Nach Wochen der Gefangenschaft hat Baptiste als Einziger die Freiheit wiedererlangt. In einer hartnäckigen Befragung versucht ein Ermittler, ihm Einzelheiten aus der Zeit seiner Geiselhaft zu entlocken. Nur widerwillig lässt sich der Junge darauf ein, und es scheint zunächst, als habe er vieles verdrängt. Doch Stück für Stück enthüllt sein Gedächtnis, was ihm während seiner Gefangenschaft widerfuhr. Er ist überzeugt, nicht mehr Baptiste zu sein, sondern den Namen eines Wüstenfuchses zu tragen: Yumai.

Meisterhaft versteht es Alain Blottière, den Leser immer tiefer in die Mäander von Baptistes Erinnerung zu ziehen, bis schliesslich eine bittere Wahrheit sichtbar wird. In starkem, geradezu paradoxem Kontrast dazu steht die betörende Schönheit der Wüste, wie sie der Junge auch erlebt hat, ihre Magie, die ihm aller Angst und Gewalt zum Trotz Zuversicht gab.

Für den Roman wurde Alain Blottière 2016 mit dem Grand Prix Jean Giono, dem Prix Décembre und dem Prix Mottart der Académie française ausgezeichnet.

Pressestimmen

Der Roman zur rechten Zeit, der uns über etwas Unerklärliches aufklärt.
— Gerwig Epkes, SWR2
Alain Blottière bringt uns in den Kopf eines Jugendlichen, der das Unaussprechliche durchlebt hat. Die Satzbrocken, die er seinem Gesprächspartner hinwirft, sind Poesie, die Geschichte, die er dem Leser anvertraut, ein schmerzvolles Geheimnis.
— L'Obs
Ein Pageturner mit sanft poetischem Tonfall und kurzweiliger Lesedauer.
— Katharina Hirschmann, Wiener Zeitung
Der Roman rumort einem eine ganze Weile in Kopf und Magen.
— Niklas Bender, FAZ