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WE ARE NOT NUMBERS
Junge Stimmen aus Gaza
Bilder von Malak Mattar
Aus dem Englischen
von Lorenz Oehler
Lenos Verlag
We Are Not Numbers
Im Jahr 2015 initiierte die US-amerikanische Journalistin Pam Bailey die Gründung des
Projekts We Are Not Numbers unter der Schirmherrschaft des Euro-Mediterranean Human
Rights Monitor. Junge Menschen aus Gaza schreiben Texte auf Englisch für den gleichna-
migen Blog und erhalten dabei ein Mentoring durch erfahrene Autorinnen und Journalisten
aus aller Welt. Ihr Anliegen ist es, die Menschen hinter den Zahlen in den Nachrichten zu
zeigen. www.wearenotnumbers.org.
Der Übersetzer
Lorenz Oehler, geboren 1976 in Zürich, Übersetzerstudium in Zürich und Master of Arts an
der Hochschule der nste Bern. Seit 2009 als freier Übersetzer aus dem Englischen tätig,
seit einigen Jahren zudem als Autor von Audiodeskriptionen für das Fernsehen. Hat Werke
von Robert Kelly und Alasdair Campbell ins Deutsche übertragen. www.lorenzoehler.ch.
Erste Auflage 2019
Copyright © der deutschen Übersetzung und der Zusammenstellung
2019 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagbild: Malak Mattar, e Galaxy
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 492 5
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Der Übersetzer und der Verlag danken der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für die
Unterstützung.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre
2016–2020 unterstützt.
INHALT
Pam Bailey
Die Geburtsstunde von We Are Not Numbers
9
I – Die Welt spinnt
15
II – Ich möcht Gaza mögen, es geht aber nicht
45
III – Honung
115
Alice Rothchild
Nachwort
151
Autorinnen und Autoren
161
Bildlegenden
173
27
ODE AN MEINE GELIEBTE, DIE DROHNE
Basman Derawi
Wir sind zusammen,
schon wieder.
Nur ich und sie,
beharrliches Surren.
Ich mag ihr
Schweigen.
Sie mag es,
wenn ich ihr zuhöre.
Ihre Stimme ist ein heller
Schmerz im Kopf.
Ich ehe sie an,
mich mit ihrer Liebe zu verschonen.
Aber sie ist treu,
surrt die ganze Nacht vor sich hin.
Ich seh in meinen Träumen, wie sie
explodiert.
Am 3. Juni 2018 gepostet.
31
LIEBER WEIHNACHTSMANN, VON BASMAN
Basman Derawi
Lieber Weihnachtsmann,
weisst Du denn schon, ob Du dieses Jahr eine Einreiseerlaubnis für Gaza
erhältst? Ich bin kein Christ, aber Du bringst allen die gleiche Freude, und
ich mach mir Sorgen, dass Du es nicht schast. Ich durfte erst einmal aus-
reisen, und Israel hat damit begonnen, alle auszuweisen, die sich mit uns
solidarisieren. Auch die internationale Leiterin von We Are Not Numbers
wurde mit einem zehnjährigen Einreiseverbot belegt!
Ich gehe davon aus, dass Du trotz Belagerung den Weg zu uns ndest.
Deshalb sollst Du auch wissen, dass ich mir dieses Jahr sehr grosse Mühe
gegeben habe, brav zu sein: Ich war für meine Freunde da. Ich hab mei-
ner Mutter geholfen. Ich hab neue Sachen gelernt, beispielsweise kann ich
jetzt meine Lieblingsgerichte Makluba und Fatusch selber zubereiten. Ich
hab niemandem weh getan. Ich wünsch mir daher Folgendes:
1. Einen ganzen Tag lang Strom. Im Moment haben wir gerade mal drei
bis vier Stunden Strom täglich.
2. Eine Reise. Ich reiste einmal für eine ärztliche Behandlung nach Jor-
danien. Trotz meiner Verfassung war das eine der aufregendsten Erfah-
rungen meines ganzen Lebens. Ich rd so gern in die Geschichte und
Kultur Italiens eintauchen, das Essen dort kennenlernen. (In Rom möchte
ich in einem Restaurant Ravioli essen!) Es reicht nicht, so was nur im
Fernsehen oder auf YouTube zu sehen.
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3. Einen Besuch im Westjordanland und in Jerusalem. Das mag beschei-
den klingen, schliesslich sind es nur einige Kilometer ins Westjordanland
und nach Jerusalem. Weil wir aber Gaza nicht verlassen dürfen, nn-
ten sie genauso gut eine Million Kilometer weit weg sein. Meine Familie
stammt ursprünglich aus Beerscheba, der grössten Stadt in der Wüste Ne-
gev, aber ich darf die Heimat meiner Vorfahren nicht besuchen.
4. Eine Arbeit, deren Lohn zum Leben reicht. Ich hatte Glück und bin auf
dem Gebiet tätig, in dem ich auch meine Ausbildung gemacht habe – der
Physiotherapie. Da ich aber von der selber völlig unternanzierten Regie-
rung angestellt bin, wurde mein Gehalt um 45 Prozent gekürzt. Es reicht
einfach nicht für mich und meine Familie.
5. Trinkwasser. Nur 10 Prozent der ungefähr zwei Millionen Einwohner
Gazas können das Wasser, das bei ihnen aus dem Hahn iesst, gefahrlos
trinken. Die restlichen 90 Prozent mich eingeschlossen kämen nicht
auf die Idee, beim Aufdrehen des Wasserhahns an Trinkwasser zu den-
ken. Unser Wasser ist wegen des einsickernden Meerwassers zu salzig und
wegen des Abwassers und Grauwassers, die ins Grundwasser gelangen, zu
gefährlich.
6. Meinen Freund Haytham. Er wurde 2014 hrend des Krieges gegen
Gaza beim Lebensmitteleinkauf von einer israelischen Rakete getroen.
Viele von uns wünschen sich ihre Lieben zurück, aber ich weiss natürlich,
dass auch Du, Weihnachtsmann, nicht zaubern kannst.
7. Veränderung. Seit zehn Jahren hat sich in Gaza nichts verändert.
Nach wie vor sind wir eingesperrt, haben zu wenig Strom, und die Ar-
beitslosigkeit ist hoch. Wir schlagen uns mit einer von israelischen Bom-
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ben zerstörten Infrastruktur herum und haben kein Material für den
Wiederaufbau.
Dank Dir, Weihnachtsmann. Ich werd den Himmel an Heiligabend im
Auge behalten. Man sieht sich hoentlich bald!
Frohe Weihnachten!
Basman
Am 20. Dezember 2016 gepostet.
42
DER WEG IN DIE FREIHEIT
Basman Derawi
Er sitzt auf meinen Schultern,
sein schweres Gepäck auf meinem Rücken.
Ich schwitze, bin müde,
mein Mund ist trocken.
Er hat eine Wasserasche in der Hand.
Aber er bietet mir nur ein Stück trockenen Kuchen an.
Ich lehne ab.
Mein Rücken tut weh.
Wieso schaut er mir nicht in die Augen?
Diese unbefestigte Strasse scheint endlos zu sein.
Ich frag mich, was meine Freiheit kosten wird.
Er umklammert das Wasser,
hrend ich ihn trage,
sein schweres Gepäck
und seine Schuld.
Anmerkung des Autors: Poesie besteht für mich vorwiegend aus Bildern. Da
Israel unser Leben kontrolliert, fühlt es sich für mich an, als müssten wir un-
sere Unterdrücker auf dem Rücken tragen.
Am 9. Mai 2017 gepostet.
79
ALS FRAU IN GAZA: ZEHN SZENEN
Leen Abu Said
Diese Szenen stammen aus einem Facebook-Post aus Gaza und wurden ur-
sprünglich aus dem Arabischen ins Englische übersetzt. Obwohl sie nur einen
kleinen Einblick in die arabische Gesellschaft gewähren, spiegeln sie gängige
Rollenbilder und die oft mit ihnen einhergehende Ungleichbehandlung ara-
bischer Mädchen und Frauen. Die Schuld daran kann vorwiegend sozialen
und religiösen Normen zugeschrieben werden, aber auch die israelische Blo-
ckade und die strengen ägyptischen Grenzkontrollen tragen ihren Anteil dazu
bei. Könnten sich die Bewohner Gazas vermehrt mit anderen Kulturen und
Standpunkten auseinandersetzen, wäre die Gesellschaft nicht so engstirnig.
Und während die Blockade andauert, emigriert von den toleranteren Men-
schen bedauerlicherweise die eine Hälfte, während die andere stirbt.
1. Szene
Erste Frau: Ich möchte dich zur Hochzeit meines Sohnes einladen.
Zweite Frau: Aber er ist doch schon verheiratet.
Erste Frau: Er hat sich scheiden lassen und heiratet wieder.
Zweite Frau: Ach, super! Glückwunsch!
***
Erste Frau: Wir suchen eine passende Braut r unseren Sohn. Jemand hat
mir von Ihrer Tochter erhlt.
Zweite Frau: Herzlich willkommen! Setzen Sie sich doch.
Erste Frau: Ich hab gehört, Ihre Tochter ist gebildet und hübsch. Ich frag
mich nur: Wieso ist sie dann Single?
Zweite Frau: Nun ja, sie ist geschieden.
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Erste Frau: Hoppla! Dann geh ich mal wieder. Ich hoe, sie ndet bald
einen guten Mann. Auf Wiedersehn!
Anmerkung: In Gaza werden noch immer viele Ehen von den Eltern arran-
giert. Ist eine Frau geschieden, kommt sie für viele Männer nicht mehr in
Betracht, es sei denn, es handle sich bei ihnen um Witwer oder sie suchten
eine Zweitfrau (was im Islam unter bestimmten Umständen akzeptiert wird).
2. Szene
Erster Mann: Mein Sohn ist noch nicht verheiratet.
Zweiter Mann: Solange er ledig ist, steht ihm alles oen. Gott segne ihn.
Erster Mann: Auch meine Tochter ist noch nicht verheiratet.
Zweiter Mann: Oje! Die Zeit läuft davon, sie endet noch als alte Jungfer.
3. Szene
Wie es sich mit dem Altersunterschied zwischen dem frischgebackenen Ehe-
mann und seiner Frau verhält.
Erste Frau: Sie ist zwanzig Jahre jünger.
Zweite Frau: Gut! So kann er ihr seine Werte vermitteln. Gott segne die
beiden.
Wie es sich mit dem Altersunterschied zwischen der frischgebackenen Ehefrau
und ihrem Mann verhält.
Erste Frau: Sie ist ein Jahr älter als er.
Zweite Frau: Hm … Hat ihm wohl mit faulen Tricks den Kopf verdreht!
4. Szene
Erster Mann: Ich bin dreissig und noch ledig.
Zweiter Mann: Du bist in den besten Jahren.
Erste Frau: Ich bin dreissig und noch ledig.
Zweite Frau: Oje! Dann ist’s wohl vorbei mit Heiraten und Familie.
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5. Szene
Erster Mann: Dein Sohn hat eine Freundin!
Zweiter Mann: Ach, lass ihn. Er ist jung, da probiert er sich halt ein wenig
aus. So lernt er was.
Erster Mann: Deine Tochter hat einen Freund!
Zweiter Mann: Was?! Schämt sie sich denn gar nicht? Ich bring sie um!
Anmerkung: In Gaza erlaubt die konservative Gesellschaft nicht, dass Männer
und Frauen zusammen ausgehen. Das wird erst mit einer Verlobung möglich.
Obwohl es sich bei einer Drohung wie der eben geschilderten normalerweise
um nichts weiter als heisse Luft handelt, sind Ehrenmorde nicht unbekannt.
2014 wurden zwei palästinensische Mädchen von Familienmitgliedern umge-
bracht, da sie des »unmoralischen sexuellen Verhaltens« verdächtigt wurden.
6. Szene
Sohn: Vater, ich möcht gern ein wenig raus.
Vater: Aber es ist ein Uhr nachts.
Sohn: Ich weiss, Vater.
Vater: Na gut. Pass auf dich auf, Habibi!
***
Tochter: Vater, darf ich mit meiner Freundin ein wenig raus?
Vater: Jetzt? Mitten am Nachmittag, Habibti? Wart, bis dein Bruder nach
Hause kommt. Dann geht er mit dir in den Supermarkt. Ihr habt sicher
Spass zusammen.
Anmerkung: Habibi/Habibti ist ein Koseausdruck und bedeutet wörtlich so
viel wie »mein Liebling«.
7. Szene
Bruder zu seiner Schwester: Suzan, wart!
Mutter zu ihrem Sohn: Pst, ruf deine Schwester auf der Strasse nicht beim
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Namen! Sonst wissen die Leute, wie sie heisst. Ruf sie einfach mit »He!«
oder »Du!« oder »Mädchen!«.
Anmerkung: In den konservativeren Familien Gazas dürfen Fremde die Na-
men der Mädchen nicht kennen. In Gaza erinnert sich wohl jeder dar an,
schon einmal eine Hochzeitseinladung erhalten zu haben, auf der beim
Brautnamen nur der Anfangsbuchstabe stand. Genauso halten viele Jungen
oder Männer die Namen ihrer Mütter (oder sogar ihrer Frauen oder Schwes-
tern) geheim. Wenn ein Mann in Gaza einen anderen so richtig provozieren
will, braucht er bloss den Namen von dessen Mutter auszusprechen.
8. Szene
Vater zu seiner Tochter: He! Hol mir ein Glas Wasser. Und dann machst
du die Wäsche. Gib mir aber erst noch die Fernbedienung. Und deinem
Bruder einen Saft.
9. Szene
Mutter (sagt): Dein Mann wird all deine Träume erfüllen. Sei nicht so
fordernd!
Tochter (denkt): Als hätt ich nichts erreichen können, bevor ich ihn ge-
heiratet hab …
10. Szene
Erste Frau: Du bist schwanger, wie schön! Was wird es denn?
Zweite Frau: Ein Mädchen.
Erste Frau: Ach … schade. Ein Junge wär besser.
Am 2. März 2017 gepostet.
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HOFFNUNG
Malak Mattar
In Rafah stehen die Menschen beim Grenzübergang Schlange,
möchten mit ihren Träumen von Gaza nach Ägypten,
einem Studium nachgehen,
Krankheiten kurieren.
Aber jene, die nicht hinüberdürfen (und das sind die meisten),
sterben langsam vor sich hin.
Der Verlust unserer Freiheit macht uns zu ügellahmen Tauben,
wir leben unser Leben ohne Honung,
haben schmerzlich kapituliert.
Doch die Taube in uns lebt noch, attert schwach.
Wird sie je iegen können?
Am 23. November 2017 gepostet.
141
KNÖPF MIR DIE HAUT AUF
Basman Derawi
Knöpf mir die Haut auf,
und du siehst, dass meine Farbe keine Sünde ist.
Knöpf mir die Haut auf,
und du entdeckst deine
DNA.
Knöpf mir die Haut auf.
Siehst du einen Grund, mich zu töten?
Ich bin nur ein Atemzug;
meine Seele ist der Atem Gottes.
Willst du mich besser kennenlernen,
dann sieh hin, wie meine Lungen sich füllen.
Willst du dich besser kennenlernen,
dann atme und mach Platz in deinem Kopf.
Wir alle sind der Atem Gottes,
und durch das Atmen leben wir.
Knöpf mir die Haut auf,
und du siehst dir selbst beim Atmen zu.
Am 30. Juni 2017 gepostet.

We Are Not Numbers
We Are Not Numbers

Junge Stimmen aus Gaza

Aus dem Englischen von Lorenz Oehler
Bilder von Malak Mattar
Vorwort von Pam Bailey und Nachwort von Alice Rothchild


Hardcover
ISBN 978-3-85787-492-5
Seiten 173
Erschienen 24. April 2019
€ 22.50 / Fr. 29.80

Ausgaben
Hardcover (2019)
Erschütternde, berührende und schmerzhaft schöne Texte und Bilder aus Gaza

2015 wurde We Are Not Numbers gegründet, ein Schreibprojekt für junge Menschen in Gaza. Der Band präsentiert eine Auswahl der erschütternden und auch berührend schönen Lyrik- und Prosatexte aus jenem Landstreifen, von wo uns sonst nur Opferzahlen in den Nachrichten erreichen.

Wenn der Strom nur für wenige Stunden am Tag fliesst und sauberes Trinkwasser Mangelware ist, wenn jede Familie Tote zu beklagen hat und Drohnen omnipräsent sind, wenn Arbeitsplätze fehlen und Reisen aufgrund der Blockade ausgeschlossen sind, wenn diplomatische Bemühungen scheitern und Politiker nur streiten, machen sich Ohnmacht und Aggression breit. Doch diese jungen Menschen schreiben, um zu überleben. In kurzen Texten und Gedichten berichten sie vom Leben unter Besatzung, von den Nöten und Freuden des Alltags, von Trauer, ihrer Wut und ihren Träumen.

We Are Not Numbers ist ein Hilfeschrei, aber auch ein Triumph der Kreativität.

Pressestimmen

Eine bedrückende und berührende Momentaufnahme aus dem geschundenen Gaza, ein vielstimmiger Beweis, dass man auch mit Worten gegen die Belagerung kämpfen kann.
— Martin Zähringer, Neue Zürcher Zeitung
Eine Gruppe Englisch sprechender Palästinenser, entschlossen, sich ihren Frust, ihre Wut, aber auch ihre Hoffnungen von der Seele zu schreiben.
— Le Monde
Herausgekommen sind beeindruckende literarische Zeugnisse der Suche nach Perspektiven für ein Leben, das dringend einer politischen Lösung harrt.
— Birgit Althaler, Palästina-Info