LENOS
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Lenos Verlag
omas Duarte
Was der Fall ist
Roman
Der Verlag dankt der Studer/Ganz-Stiftung fĂŒr die UnterstĂŒtzung.
Erste Auflage 2021
Copyright © der deutschen Übersetzung
2021 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlaggrak: D Line / shutterstock
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 016 5
fĂŒr Till
Das ganze Leben, Handlungen und Gedanken, besteht
aus Fragmenten, aus Schichten, alles iegt vorbei und
rundherum ist zitterndes KrÀuseln.
Ilya Kabakov
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es nieselt
Die Polizei hat mich aufgefordert, darĂŒber Bericht zu
erstatten, warum ich unsere Putzfrau in meinem BĂŒro
untergebracht hatte. Oder genauer: Warum ich sie darin
versteckt gehalten hatte. Meinetwegen, ich habe nichts
zu verheimlichen. Ich habe ja schon auf dem Posten
alles ausfĂŒhrlich zu Protokoll gegeben. Weshalb schon
bringt man eine Frau bei sich unter? Sie geel mir, ja,
was sonst? Es ist auch gar nicht die richtige Frage. Die
Frage, die mich selbst beschÀftigt, ist eher die, warum
ich sie verraten habe.
Als ich den Polizeiposten betrat, war es etwa halb ein
Uhr nachts. Ich war mĂŒde und fror. Den ganzen Abend
war ich ziellos durch die Stadt geirrt. Die Sache mit
der Jahresversammlung ging mir nicht mehr aus dem
Kopf, sie war schlecht gelaufen diesmal, und ich hatte
mich ungeschickt angestellt. Das war zwei Tage frĂŒher
gewesen, und Silvana hatte alle gegen mich aufgehetzt.
Alles sei nur geschwindelt, hatte sie gesagt und sich da-
bei in die Pose der Grossreinemacherin geworfen. Alles,
die UnterstĂŒtzungsgesuche, mit denen sich unsere Or-
ganisation beschÀftigt, die Abrechnungen, die Statisti-
ken: ein einziger Schwindel! Und das Schlimmste: Bei
ihren Nachforschungen sei sie auf zahlreiche zwielich-
tige »Finanztransaktionen« gestossen – sie sagte wirklich
»Finanztransaktionen« und meinte damit wohl Bank-
ĂŒberweisungen und Zahlungen aus der Kasse. Betrug!,
sagte sie. Das riecht nach Betrug! Allerdings brauche
es noch weitere AbklÀrungen, die Aktenlage sei noch
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undurchsichtig. Sie wedelte mit einem KlarsichtmÀpp-
chen, und ihre Vogelstimme ĂŒberschlug sich beinahe.
Bischo und Dr. Schneider sassen nur stumm daneben
und spielten die EntrĂŒsteten. Albrecht lief grĂŒn an, und
Dr. Graber, der Revisor, wurde blass, machte einen spit-
zen Mund und ng an zu schnaufen. Nur Charly sah
mich ohne Vorwurf mit ĂŒberraschtem und traurigem
Blick an. Es ging ihnen dann im weiteren Verlauf der
Versammlung nur noch darum, meinen Chef zu schĂŒt-
zen und ihn von jeder Mitverantwortung freizuspre-
chen. Er hatte ja ganz oensichtlich, so wiederholte Sil-
vana mehrmals, von nichts etwas gewusst. Silvana war
vielleicht auch so etwas wie meine Chen, oder sie be-
nahm sich wenigstens so. Mein Chef selbst sagte zu der
ganzen Sache nichts, lÀchelte nur grimmig und schwieg,
er wirkte so gar nicht mehr wie der wortgewandte und
weitgereiste Abenteurer, als den wir ihn von frĂŒher her
kannten. Mich liessen sie am Ende fallen. Auf einmal
sprachen sie von mir als dem »GeschĂ€ftsfĂŒhrer«, dem
man also auch die ganze Verantwortung zuschieben
konnte. FrĂŒher war ich immer nur der BĂŒroangestellte
gewesen, einer ohne jede Entscheidungsgewalt. Im
Grunde hĂ€tte mich das alles erleichtern mĂŒssen. Aber
statt Erleichterung fĂŒhlte ich nur das Nahen einer noch
nicht klar bestimmbaren Katastrophe. Man wĂŒrde mich
von meinen Aufgaben entbinden, so viel war vorauszu-
sehen, aber welche weiter gehenden Forderungen, Straf-
anzeigen und moralischen Vorhaltungen wĂŒrden damit
verbunden sein? Und was wĂŒrde mit dem Hinterzim-
mer zu meinem BĂŒro geschehen, das ich seit lĂ€ngerem
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bewohnte, und was mit Mira, die ich inzwischen darin
untergebracht hatte?
Ich hatte in jener Nacht nicht nach einem Polizeipos-
ten gesucht, ich war nur ganz zufÀllig auf ihn gestossen.
Ich war auf der Suche nach ĂŒberhaupt nichts, höchstens
nach einem Unterschlupf. Ich hatte auch Mira nicht
verraten wollen. Das war keine Absicht, es ergab sich
nur eins aus dem anderen. Auf einmal war ich stehen
geblieben und hatte mich umgeblickt. Wo war ich ĂŒber-
haupt? Die Strasse, die ich entlanggegangen war, war
mir unbekannt. Zum Schutz vor dem Regen stellte ich
mich unter einen schmalen Erker und versuchte mich
zu orientieren. Was fĂŒr ein lĂ€stiger SprĂŒhregen! Seit
Stunden war er ohne Unterlass auf mich niedergegan-
gen und hatte mich bis auf die Knochen durchnÀsst. Ich
trug nur ein Hemd, es war Ende August, die Zeit der
spÀtsommerlichen Hitze. Am Abend war die Luft noch
lau gewesen, aber dann hatte es sich unerwartet stark
abgekĂŒhlt. Zuerst war eine Unruhe aufgekommen,
und es schien, als zöge ein reinigendes Gewitter auf, so
sagt man ja, nicht wahr? Aber stattdessen fĂŒllte sich die
Luft nur mit diesem kalten und staubigen SprĂŒhregen.
Er verschmierte die Schmutzecke auf meinem Hemd
und brannte auf den Kratzern an meinen Armen und in
meinem Gesicht. Der Schmutz und die Kratzer kamen
vom stundenlangen Umherkriechen zwischen den Blu-
menrabatten und den DornbĂŒschen draussen im Park
bei der psychiatrischen Klinik. Vor einigen Wochen
hatte ich dort einen goldenen Ring verloren, den ich
unbedingt wiedernden wollte, aber es war Neumond,
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und man konnte fast nichts sehen. Ausserdem riss ich
mir dabei ein Loch in die Hose, ich werde darauf sicher
noch zurĂŒckkommen. Was ich sagen will: Ich muss auf
den diensthabenden Beamten einen ziemlich herunter-
gekommenen Eindruck gemacht haben.
Von meiner Position unter dem Erker aus hatte ich
auf der schrĂ€g gegenĂŒberliegenden Seite eines kleinen,
mit jungen Birken bepanzten Platzes den Polizei-
posten entdeckt. Ich hatte mich ganz einfach verirrt.
Überraschenderweise war ich in eine Gegend geraten,
die ich ĂŒberhaupt nicht kannte. Das ist eigentlich ganz
ausgeschlossen. Ich wohne in dieser Stadt seit meiner
Geburt und hatte gemeint, alle ihre Gegenden genau
zu kennen. Vielleicht war mir ja nur der Bau dieses Pos-
tens entgangen, er hatte vielleicht ein GebÀude ersetzt,
ohne das die Umgebung fĂŒr mich gleich nicht mehr
wiederzuerkennen war. Zwischen all den steinernen
Wohnblöcken aus der Nachkriegszeit wirkte er auf mich
in seiner Flachheit und mit seiner glĂ€sernen HĂŒlle eher
wie ein gestrandetes Raumschi denn als fest im Boden
verankertes GebÀude. Der Eingang war hell erleuchtet,
die grossen, gitterlosen Fenster signalisierten, dass der
Unbescholtene hier nichts zu befĂŒrchten hatte, dass er
im Gegenteil jederzeit und voller Vertrauen durch die
glĂ€serne SchiebetĂŒr treten könnte und dass ihm, wĂ€re er
erst mal drinnen, womöglich gar geholfen wĂŒrde.
Ich war zuerst zögernd und in einigem Abstand da-
vor stehen geblieben, im fahlen Lichtkreis einer Bo-
genlampe, und hatte mich eigentlich gar nicht mehr
bewegt. Trotzdem musste mich der Bewegungsmelder
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bereits erfasst haben, ich weiss nicht, wie, aber es han-
delte sich vielleicht um einen Infrarotmelder. Jeden-
falls önete sich die SchiebetĂŒr mit einem gedĂ€mpften
SchleifgerĂ€usch, und aus der Ă–î˜€nung schlug mir abge-
standene WĂ€rme entgegen – sozusagen im Tausch gegen
die WĂ€rme, die ich selbst dem Infrarotmelder hatte ent-
gegenschlagen lassen. UnwillkĂŒrlich machte ich einen
Schritt darauf zu. Im Eingang hinter der TĂŒr stand eine
sogenannte Informationstafel. Wollte ich sie entziern,
musste ich vollends eintreten. Hinter mir hörte ich wie-
der das SchleifgerĂ€usch der TĂŒr, und nach einem letzten
Luftzug von draussen umschlang mich die WĂ€rme auch
von hinten. Augenblicklich begann ich am ganzen Leib
zu zittern. Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass
ich wohl stark gefroren hatte. Gleichzeitig wurde mir
schwindlig, ich war hungrig. Die Buchstaben auf der
Informationstafel verschwammen vor meinen Augen.
Wenn ich noch umkehren wollte, dann gleich. Aber
wo wĂŒrde ich mich fĂŒr den Rest der Nacht unterstel-
len können? In der nahe gelegenen UnterfĂŒhrung stank
es nach Urin, das schreckte mich ab. Und die besseren,
vor Regen und Zugluft geschĂŒtzten PlĂ€tze waren schon
alle von den Obdachlosen und Betrunkenen besetzt, ich
wollte sie ihnen nicht streitig machen. Die Cafés öne-
ten erst um sechs. Und wer weiss, ob sie mich da ĂŒber-
haupt bedienen wĂŒrden, in meinem Zustand. Demons-
trativ wĂŒrde ich mit dem Geld klimpern und knistern,
das ich lose in der Tasche trug, aber wĂŒrde das etwas
helfen? Mein Vater hatte es mir gegeben, als ich ihn
an diesem Nachmittag draussen bei der Klinik getrof-
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fen hatte, um ihn abzuholen. Ausgerechnet jetzt hatten
sie ihn entlassen mĂŒssen! In meinem BĂŒro sassen oder
schliefen Mira und ihr Bekannter, ein Mann aus Boli-
vien. Oder genauer gesagt schliefen sie nicht im BĂŒro,
sondern in dem Hinterzimmer, das ich selbst eigent-
lich als Wohnung benutzte, Mira in meinem Bett und
RamĂłn auf der Klappliege daneben. Und mehr Platz
gab es da nicht. NatĂŒrlich hatten Mira und ich auch
schon zu zweit in meinem Bett geschlafen, aber das hier
war etwas anderes. Blieb also nur noch die Wohnung
meines Vaters, wo ich ja schon zuletzt die NĂ€chte ver-
bracht hatte. Allerdings strÀubte sich in mir alles dage-
gen, dorthin zurĂŒckzugehen, jetzt, wo auch er wieder
dort wohnte. Aber was blieb mir anderes ĂŒbrig?
dasitzen
Ich hatte mich schon wieder dem Ausgang zugewandt,
da fĂŒhlte ich den gelangweilten und zugleich ungedul-
digen Blick eines Beamten auf mir, der hinter einer wei-
teren, von Topfpanzen umrahmten GlastĂŒr sass – ein
einzelner Polizist hinter einem fast leeren Tisch – und
der mich wohl schon seit lÀngerem beobachtet hatte.
Ich versuchte noch, auf der Informationstafel irgendei-
nen Fingerzeig zu bekommen, wie ich entweder meine
Anwesenheit oder wenigstens einen diesbezĂŒglichen
Irrtum begrĂŒnden konnte: »FundbĂŒro: 2. Stock« stand
da beispielsweise samt Ă–î˜€nungszeiten. Aber der Blick
des Polizisten duldete keine weitere Verzögerung. Man
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musste sich ihm zuwenden, ja ihn sogar erwidern, wenn
man sich nicht verdÀchtig machen wollte, noch dazu
um diese Zeit.
Ich ging in seine Richtung auf die TĂŒr zu, wieder eine
SchiebetĂŒr, und schon önete auch sie sich ganz von
selbst, fast lautlos allerdings, nur mit leisem Schaben.
Zwischen den Topfpanzen blieb ich stehen. Ent-
schuldigen Sie bitte, sagte ich, ich bin wahrscheinlich
falsch hier, ich meine, ich wohne gar nicht in dieser Ge-
gend.
Ich wollte damit sagen, es sei wohl nicht der fĂŒr
mich und mein Quartier zustÀndige Posten. Der Poli-
zist winkte ab und bot mir einen Stuhl an, er war sehr
zuvorkommend. Er stand sogar auf und rĂŒckte mir den
Stuhl zurecht, oenbar wirkte ich so erschöpft, dass ich
auf diese Hilfestellung angewiesen schien. Er selbst war
zwar etwas beleibt und schon Àlter, und er machte nur
langsame, bedÀchtige Bewegungen, aber sein Hemd
spannte sich noch immer ĂŒber den Muskeln seiner
Brust und seiner Arme: Von mir hatte er nichts zu be-
fĂŒrchten. Er sagte: Moment bitte!, und verschwand in
einem Nebenraum.
Ich sah mich um. Es war – wie sagt man dazu? – ein
GrossraumbĂŒro. Es gab noch sechs oder sieben an-
dere Tische, aber um diese Zeit arbeitete niemand an
ihnen. Durch das Fenster sah ich den Platz vor dem
Posten, hell erleuchtet vom Licht der Bogenlampe. In
ihrem Lichtkegel glitzerte der SprĂŒhregen. Es war eher
ein Scheinwerfer, der Polizist musste mich also schon
gesehen haben, als ich noch da draussen gestanden
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hatte. Vielleicht gab es ja fĂŒr die TĂŒr nicht einmal ei-
nen Infrarotmelder, ĂŒberlegte ich mir jetzt, vielleicht
hatte der Polizist einen Knopf an seinem Tisch, mit
dem er sie önen konnte. Ich sah auf den Tisch. Es
gab darauf nur einen Bildschirm und eine Tastatur, auf
der Schreibunterlage lagen ein Taschenrechner und ein
Blatt mit einer Konstruktionszeichnung. Ich sah jetzt zu
der TĂŒr, durch die der Polizist wieder hereinkommen
musste. Neben ihr war ein verspiegeltes Fenster in die
Wand eingefĂŒgt. Vermutlich gab es dahinter eine Art
Überwachungsraum. Der Polizist hatte mich demnach
unter Kontrolle. Ich versuchte ein möglichst unbeteilig-
tes Gesicht zu machen und sah auf die grosse Uhr ober-
halb des Fensters. Es war null Uhr sechsunddreissig.
Er kam zurĂŒck mit einem Handtuch und mit einer
Decke und mit einer Tasse Kaee, und er sagte: Sie
sehen ja ganz blass aus. Oder: Was ist Ihnen denn zu-
gestossen? Oder: Sie zittern ja am ganzen Leib. Oder
er sagte so etwas Ähnliches. Mit dem Handtuch sollte
ich mich trocknen, die Decke konnte ich mir ĂŒber die
Schultern ziehen, der Kaee war wohl da, um mich zu
ermutigen. Der Polizist war geradezu fĂŒrsorglich. Er
legte das Blatt auf seinem Tisch zur Seite und auch den
Taschenrechner, setzte sich, schob die Tastatur an de-
ren Stelle in die Tischmitte und umfasste sie mit beiden
HĂ€nden. Sie waren breit mit dicken, behaarten Fingern;
es sind Pranken, dachte ich bei mir. Es hatte etwas Ver-
trauenerweckendes, wie sie beinahe zÀrtlich die viel zu
kleine Tastatur umfassten, aber natĂŒrlich auch etwas Be-
drohliches. Er sah mich auffordernd an.
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Es wĂŒrde also nicht genĂŒgen, bloss dazusitzen und
zu schweigen. Er erwartete, dass ich ihm irgendeine
Geschichte prÀsentierte. Alle wollen sie immer eine
Geschichte hören, sonst nehmen sie einem die Decke
gleich wieder weg. Da ich weiterhin beharrlich schwieg,
rÀusperte er sich und ergri selbst das Wort.
Sie sind ĂŒberfallen worden, sagte er. Er sprach lang-
sam, mit Pausen an den falschen Stellen, in den Pausen
gri er sich an die Nase.
Nein, nein, sagte ich. Nein.
Sie wurden angefahren, der Fahrer î˜ŁĂŒchtete, viel-
leicht ein Betrunkener, sagte er.
Ich schĂŒttelte den Kopf.
Sie sind selbst betrunken.
Ich trinke nicht, sagte ich und setzte mich gerade
hin. Die Decke rutschte mir von den Schultern, ich zog
sie mir wieder ĂŒber.
Eine SchlÀgerei?, sagte er und mass mich mit seinem
Blick. Es klang eher zweifelnd.
Nein, sagte ich, ich habe nur nach etwas gesucht.
Sie haben etwas verloren, sagte er.
Nein, sagte ich, das heisst ja, aber ich habe es wieder-
gefunden, deswegen bin ich nicht hier.
So, sagte er und wartete ein wenig. Ihre Frau hat sie
rausgeworfen. Er blickte auf meine zerkratzten Arme.
Sie hat vielleicht scharfe FingernÀgel. Sie können es
mir – er gri sich an die Nase – ruhig sagen. Das kommt
öfter vor. Niemand spricht gern ĂŒber so was.
Ich ĂŒberlegte. Vielleicht hĂ€tte sich die Sache ja so
darstellen lassen. Aber dann schĂŒttelte ich den Kopf.
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Sie ist gar nicht meine Frau, sagte ich. Und sie hat
mich auch nicht rausgeworfen. Die Kratzer sind von ei-
nem DornengestrĂŒpp.
Sie brauchen sie nicht in Schutz zu nehmen, sagte
der Polizist.
Ich nehme sie nicht in Schutz. Vielleicht wĂŒrde ich es
tun, wenn ich wĂŒsste, wie. Es geht um unsere Putzfrau,
Mira, so heisst sie, sie ist in meinem BĂŒro, zusammen
mit einem Bekannten von ihr, jedenfalls kann ich da im
Moment nicht hin.
Warum wollen Sie denn mitten in der Nacht ins
BĂŒro?
Es gibt da ein Zimmer, in dem ich wohne, sagte ich,
ein Hinterzimmer, genau genommen, fensterlos, mit ei-
nem schmalen Bett, neuerdings auch mit einer zusÀtzli-
chen Klappliege. Ich bewohne es seit lÀngerer Zeit. Aber
schon fĂŒr zwei Leute ist es viel zu klein, geschweige
denn fĂŒr drei.
Sie wollen sie loswerden, sagte der Polizist. Oder Sie
wollen vielleicht ihren Bekannten loswerden.
Um Himmels willen, nein, sagte ich, keineswegs, sie
sollte sich nur gelegentlich etwas anderes suchen. Auch
der Bekannte, ja, der sollte sich auch etwas anderes su-
chen. Aber das ist alles nicht ganz einfach, sie hat hier
keine Aufenthaltsbewilligung, wie soll sie etwas nden?
Es ist alles in allem eine komplizierte Geschichte.
Soso, sagte der Polizist. Sie verstecken sie also bei sich.
Er begann jetzt, mit den Fingern auf seine Tastatur
zu tippen. Pranken wie ein BÀr, aber wieselinke Finger,
so sagt man doch?
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Und wie kommen Sie dazu?
Es ist wirklich eine komplizierte Geschichte, mur-
melte ich.
Ach, sagte der Polizist, wissen Sie, fast alle, die hier-
herkommen, um uns was zu erzÀhlen, halten ihre Ge-
schichten fĂŒr furchtbar kompliziert. Gewöhnlich stellt
sich dann heraus, dass sie einfach, klar, ĂŒbersichtlich
und leicht zu durchschauen sind. Wenigstens fĂŒr uns.
Der Polizist wartete ab. Mir war gerade etwas warm
geworden, und meine Kleider begannen auf meinem
Leib zu trocknen, den Kaee hatte ich noch nicht ganz
ausgetrunken. Ich wollte gerne noch ein wenig sitzen
bleiben, wenigstens so lange, bis der SprĂŒhregen nach-
gelassen hĂ€tte. Vielleicht wĂŒrde ich ja auch noch eine
oder zwei Tassen Kaee bekommen. Irgendwie musste
ich das GesprÀch in Gang halten. Ich hÀtte vielleicht
von der Jahresversammlung berichten können, um da-
mit der angedrohten Anzeige wegen Veruntreuung zu-
vorzukommen. Aber stattdessen redete ich von Mira,
deren Fall bei dem Beamten oensichtlich auf ein ge-
wisses polizeiliches Interesse gestossen war. Ich kann
mir das alles heute nicht mehr erklÀren. Es war viel-
leicht eine Art Geltungsdrang. Es war mitten in der
Nacht, und alles schien unwirklich, und ich bildete mir
ein, es wĂ€re vollkommen egal, worĂŒber ich redete. Ich
hatte mich getÀuscht, besser wÀre gewesen, ich hÀtte ge-
schwiegen.
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sich unterhalten
Ja, sagte ich zum Polizisten und rÀusperte mich. Also
das erste Mal habe ich Mira gesehen, als ich ganz gegen
meine Gewohnheit die VerbindungstĂŒr zwischen dem
Hinterzimmer und meinem BĂŒro önete, noch bevor
sie mit ihrer Arbeit zu Ende war. Das muss so Ende Mai
gewesen sein. Unsere Putzfrauen wechselten immer, aber
diese hier arbeitete schon lĂ€ngere Zeit fĂŒr uns. Trotzdem
hatte ich sie noch nie gesehen. Diesmal machte ich die
TĂŒr also auf, ich weiss nicht mehr, warum. Vielleicht
hatte sie etwas gesungen, das mich rĂŒhrte, das passiert
mir manchmal. Und dann hatte sie vielleicht mitten im
Lied aufgehört zu singen, wahrscheinlich, weil sie den
Putzeimer hinaustragen musste. Als ich die TĂŒr önete,
war sie gerade hinausgegangen, das BĂŒro war leer. Die
Frage ist also, warum ich die TĂŒr nicht gleich wieder
zumachte, ich hĂ€tte genĂŒgend Zeit dafĂŒr gehabt.
Sie kam jeden Samstag und putzte mein BĂŒro, im-
mer zur selben Zeit, und wÀhrenddessen blieb ich im
Hinterzimmer und sass auf meinem Bett oder an mei-
nem Tisch und horchte auf die GerÀusche, die die Putz-
frau machte: das Knistern der AbfallsÀcke, das Dröhnen
des Staubsaugers, ihr Gesumm und ihren Gesang in ei-
ner Sprache, die ich nicht verstand. Einmal im Monat
schrieb sie die Anzahl der Stunden, die sie gearbeitet
hatte, auf einen Zettel und liess ihn auf meinem BĂŒro-
tisch liegen. Am folgenden Samstag zÀhlte ich dann das
Geld, das wir ihr schuldeten, in einen Umschlag und
legte ihn auf den Tisch. Sie nahm das Geld an sich und
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hinterliess dann wiederum mir die unterschriebene
Quittung. Das war bis dahin unser einziger Kontakt
gewesen, wenn man das einen Kontakt nennen kann.
Mein Chef hatte sie eingestellt.
Diesmal önete ich also die TĂŒr. Es roch nach Zi-
trone und Ammoniak. Mein Schreibtisch war poliert
und die Kiste darunter geleert. Das war immer das
Erste, was die Putzfrau am Samstag erledigte: die Kiste
mit dem Altpapier leeren. Ich hörte das Poltern, wenn
sie die Kiste auf ihren RĂ€dern ĂŒber die Schwelle in den
Korridor hinaus und zum Lift hin rollte. Irgendwo im
Keller steht der Sammelcontainer. Ganz zum Schluss
wischte sie den Boden und leerte dann den Putzeimer
draussen in den Ausguss.
Jetzt kam sie zurĂŒck. Summend und mit schlenkern-
den Armen und HĂ€nden erschien sie im TĂŒrrahmen
gegenĂŒber. Sie erschrak, als sie mich sah, verstummte
augenblicklich und machte einen Schritt zurĂŒck. Und
auch ich war natĂŒrlich ĂŒberrascht, ich hatte sie ja noch
nie gesehen, aber ich lÀchelte halb und murmelte etwas
Beschwichtigendes: Entschuldigen Sie bitte, ich wollte
Sie nicht erschrecken, etwas in dieser Art. Ich deutete
mit einer fahrigen Bewegung auf den Boden, er war
noch feucht, und man konnte noch nicht darĂŒber ge-
hen: Alles schön sauber!, sagte ich laut und mit gekĂŒns-
teltem Lachen. Frisch geputzt! Vielen Dank!
Moment mal, sagte der Polizist. Warum erzÀhlen Sie
mir das alles?
Sie haben danach gefragt, sagte ich.
Wonach habe ich Sie gefragt?
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Wie ich dazu gekommen bin, sagte ich, Mira bei mir
unterzubringen.
Ach so, sagte er und blickte zuerst mich an und dann
auf seinen Bildschirm und dann wieder zu mir. Ja, ge-
nau, Ihre Putzfrau. Und das gehört also alles dazu?
NatĂŒrlich. Darf ich jetzt weitermachen?
Hm, sagte der Polizist. Weiter sagte er nichts. Aber er
machte sich eine Notiz.
Sie war etwa so gross wie ich, fuhr ich fort, hager
und hakennasig, mit kurzgeschorenen Haaren und ra-
schen Augen, schmalhĂŒftig und mager, aber mit krĂ€fti-
gen Schultern. Ihre Schultern und ihre geröteten Arme
waren entblösst und glÀnzten vom Schweiss. Ich nahm
den wÀssrigen und leicht stechenden Duft wahr, der sich
im Raum ausbreitete, der nicht von den Putzmitteln
stammte und den ich auch schon das eine oder andere
Mal gerochen hatte, nachdem sie am Samstag gegangen
war, allerdings ohne zu wissen, woher er kam. Ich sog ihn
auf mit meiner Nase und hatte sofort den Wunsch, an
ihren Schultern zu riechen, aber ich hielt mich zurĂŒck.
Ihre Beine steckten in groben, weiten, hellen Hosen, ihre
FĂŒsse in ausgetretenen, wildledernen Schuhen. Auch sie
sah mich an, aber mehr so wie einen Gegenstand unter
anderen, einen, den sie beim Putzen ĂŒbersehen hatte.
Und dann blickte sie an mir vorbei und deutete auf die
TĂŒr, in der ich stand, und auf das Hinterzimmer und
sagte etwas Undeutliches, das ich nicht verstand.
Nein, da brauchen Sie nicht zu putzen, sagte ich aufs
Geratewohl, und dann, weil ich ja gar nicht wusste, wo-
nach sie gefragt hatte: Na ja, ich wohne hier. Ich redete
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laut und mit ausfahrenden Gesten, als ob ich zu einer
Taubstummen sprÀche. Ich begann auch dem Polizisten
gegenĂŒber zu gestikulieren, dabei rutschte mir wieder
die Decke von den Schultern, aber mir war nicht mehr
kalt.
Ich redete weiter, wahrscheinlich aus einer Verlegen-
heit heraus, ihr Geruch machte mich ganz nervös. Ich
dachte, sie wĂŒrde mich sowieso nicht verstehen. Aber
darin tĂ€uschte ich mich. Ausserdem fĂŒhlte ich mich ihr
irgendwie ĂŒberlegen, bloss weil sie eine Putzfrau war,
wÀhrend ich doch immerhin an einem Tisch arbeitete.
FrĂŒher wohnte ich in der Stadt, sagte ich zu ihr, bei
meinem Vater, genau genommen. – Das BĂŒro liegt et-
was ausserhalb, erklĂ€rte ich dem Polizisten. – Mein
Vater wohnt da immer noch. Und meinen Arbeits-
platz hatte ich zuerst oben bei meinem Chef, bis wir
dann dieses BĂŒro hier samt Hinterzimmer dazumieten
konnten, oder – so sagte ich erlĂ€uternd zum Polizis-
ten – Dr. Schneider, der Besitzer des Hauses, hat es uns
vielmehr zur VerfĂŒgung gestellt. In dem Hinterzimmer
ĂŒbernachtete ich zuerst nur gelegentlich, ich legte ein-
fach eine Matratze hinein, fĂŒr mehr war da gar kein
Platz. Der Vormieter hatte alle seine Sachen darin ste-
henlassen. Es muss so eine Art Archiv gewesen sein, das
ganze Zimmer war voller alter Akten ĂŒber Gott weiss
was, ich sah sie mir gar nicht so genau an. Wahrschein-
lich war er Anwalt gewesen oder Baubiologe oder Fami-
lienhistoriker – oder so etwas Ähnliches. Ich warf alles
weg, niemand kĂŒmmerte sich darum, und dann stellte
ich stattdessen ein paar von meinen Möbeln hinein.

Shortlist SCHWEIZER BUCHPREIS 2021

Thomas Duarte
Was der Fall ist

Roman

E-Book
ISBN 978-3-85787-994-4
Seiten ca. 301
Erschienen 31. August 2021
€ 18.99

Das PortrÀt eines modernen Antihelden, ein skurriles ErzÀhlfeuerwerk

Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzĂ€hlt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er fĂŒr einen wohltĂ€tigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen UnregelmĂ€ssigkeiten bei der Geldvergabe verdĂ€chtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines BĂŒros, in dem er zeitweise selbst hauste, lĂ€sst er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen ĂŒberraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.

Thomas Duartes DebĂŒtroman ist ein skurriles ErzĂ€hlfeuerwerk, eine melancholisch-humoristische Poetik des Scheiterns. Er wird bevölkert von kauzigen Figuren, die auf vielfĂ€ltige Weise die AbsurditĂ€t der Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft spiegeln.

Der Roman wurde 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis fĂŒr das beste unveröffentlichte DebĂŒtmanuskript ausgezeichnet (-> Laudatio). 2021 war er fĂŒr den Schweizer Buchpreis nominiert (-> Laudatio). 2022 erhielt er den Literaturpreis des Kantons Bern.

Pressestimmen

Duartes DebĂŒt ist ein hoch ironisch gebrochener Existenzialkrimi. Ein hintersinnig kluger und wunderbar schrĂ€ger Roman.
— Alfred Schlienger, Schweiz am Wochenende
Mit Leichtigkeit, Hintersinn und Humor macht Duarte das ErzĂ€hlen selbst zum Thema. (
) Er dreht und wendet Annahmen, was sinnvoll und was sinnlos, was erstrebenswert und was gescheitert ist, auf raffinierte Weise hin und her. Dasselbe tut er mit dem Bild seiner Protagonisten. Am Schluss erscheint der ErzĂ€hler als BetrĂŒger, die Putzfrau als LebenskĂŒnstlerin und der Polizist eher als HĂŒter der Nacht denn des Gesetzes.
— Martina LĂ€ubli, NZZ am Sonntag
Raffiniert gebaut ist dieser Roman, prĂ€zise, schnörkellos geschrieben. Ihn bevölkern skurrile Figuren, die an absurden bürokratischen AblĂ€ufen leiden, die uns beim Weiterlesen nah und nĂ€her auf den Pelz rücken, bis sie uns schliesslich gar vertraut vorkommen. Duarte schafft eine dichte AtmosphĂ€re, die ein wenig an Melvilles »Bartleby«, Monty Pythons »Sinn des Lebens« und Franz Kafka erinnern mag. Gegens Romanende sagt der Protagonist: »Ich schweige. Es ist das, was ich von Anfang an hĂ€tte tun sollen.« Zum Glück hat er nicht geschwiegen, zum Glück hat Thomas Duarte diesen grossartigen Roman geschrieben.
— Raphael Zehnder, ProgrammZeitung
Ein subtiles, vielschichtiges Kammerspiel, das sich mit postmoderner Schwerelosigkeit moralischen Werturteilen entzieht und trotzdem hochaktuelle BezĂŒge zu unserer Gegenwart herstellt. SouverĂ€n beleuchtet das Buch die liberale Scheinheiligkeit im Lichte der zeitgeistigen Philanthropie und entlarvt ihre Sprachspiele, respektive Leerformeln, zu drĂ€ngenden Themen wie BĂŒrokratismus, Flucht oder Prekariat. Ohne Pathos verleiht der Autor damit seinen gesellschaftlich und psychisch an den Rand gedrĂ€ngten Figuren eine autonome Stimme. Thomas Duarte hat uns mit »Was der Fall ist« einen virtuosen, eleganten, witzigen und sehr menschenfreundlichen Roman geschenkt.
— Tommy Egger, Laudatio zur Nominierung fĂŒr den Schweizer Buchpreis
Ich war selten so uninteressiert an einem Buch und dann so amĂŒsiert und auch gepackt. Das hat eine Spannung, einen Drive, und ich habe es quasi in einem Zug gelesen.
— Klara ObermĂŒller

Termine