LENOS
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Lenos Verlag
omas Duarte
Was der Fall ist
Roman
Der Verlag dankt der Studer/Ganz-Stiftung für die Unterstützung.
Erste Auflage 2021
Copyright © der deutschen Übersetzung
2021 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlaggrak: D Line / shutterstock
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 016 5
für Till
Das ganze Leben, Handlungen und Gedanken, besteht
aus Fragmenten, aus Schichten, alles iegt vorbei und
rundherum ist zitterndes Kräuseln.
Ilya Kabakov
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es nieselt
Die Polizei hat mich aufgefordert, darüber Bericht zu
erstatten, warum ich unsere Putzfrau in meinem Büro
untergebracht hatte. Oder genauer: Warum ich sie darin
versteckt gehalten hatte. Meinetwegen, ich habe nichts
zu verheimlichen. Ich habe ja schon auf dem Posten
alles ausführlich zu Protokoll gegeben. Weshalb schon
bringt man eine Frau bei sich unter? Sie geel mir, ja,
was sonst? Es ist auch gar nicht die richtige Frage. Die
Frage, die mich selbst beschäftigt, ist eher die, warum
ich sie verraten habe.
Als ich den Polizeiposten betrat, war es etwa halb ein
Uhr nachts. Ich war müde und fror. Den ganzen Abend
war ich ziellos durch die Stadt geirrt. Die Sache mit
der Jahresversammlung ging mir nicht mehr aus dem
Kopf, sie war schlecht gelaufen diesmal, und ich hatte
mich ungeschickt angestellt. Das war zwei Tage früher
gewesen, und Silvana hatte alle gegen mich aufgehetzt.
Alles sei nur geschwindelt, hatte sie gesagt und sich da-
bei in die Pose der Grossreinemacherin geworfen. Alles,
die Unterstützungsgesuche, mit denen sich unsere Or-
ganisation beschäftigt, die Abrechnungen, die Statisti-
ken: ein einziger Schwindel! Und das Schlimmste: Bei
ihren Nachforschungen sei sie auf zahlreiche zwielich-
tige »Finanztransaktionen« gestossen – sie sagte wirklich
»Finanztransaktionen« und meinte damit wohl Bank-
überweisungen und Zahlungen aus der Kasse. Betrug!,
sagte sie. Das riecht nach Betrug! Allerdings brauche
es noch weitere Abklärungen, die Aktenlage sei noch
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undurchsichtig. Sie wedelte mit einem Klarsichtmäpp-
chen, und ihre Vogelstimme überschlug sich beinahe.
Bischo und Dr. Schneider sassen nur stumm daneben
und spielten die Entrüsteten. Albrecht lief grün an, und
Dr. Graber, der Revisor, wurde blass, machte einen spit-
zen Mund und ng an zu schnaufen. Nur Charly sah
mich ohne Vorwurf mit überraschtem und traurigem
Blick an. Es ging ihnen dann im weiteren Verlauf der
Versammlung nur noch darum, meinen Chef zu schüt-
zen und ihn von jeder Mitverantwortung freizuspre-
chen. Er hatte ja ganz oensichtlich, so wiederholte Sil-
vana mehrmals, von nichts etwas gewusst. Silvana war
vielleicht auch so etwas wie meine Chen, oder sie be-
nahm sich wenigstens so. Mein Chef selbst sagte zu der
ganzen Sache nichts, lächelte nur grimmig und schwieg,
er wirkte so gar nicht mehr wie der wortgewandte und
weitgereiste Abenteurer, als den wir ihn von früher her
kannten. Mich liessen sie am Ende fallen. Auf einmal
sprachen sie von mir als dem »Geschäftsführer«, dem
man also auch die ganze Verantwortung zuschieben
konnte. Früher war ich immer nur der Büroangestellte
gewesen, einer ohne jede Entscheidungsgewalt. Im
Grunde hätte mich das alles erleichtern müssen. Aber
statt Erleichterung fühlte ich nur das Nahen einer noch
nicht klar bestimmbaren Katastrophe. Man würde mich
von meinen Aufgaben entbinden, so viel war vorauszu-
sehen, aber welche weiter gehenden Forderungen, Straf-
anzeigen und moralischen Vorhaltungen würden damit
verbunden sein? Und was würde mit dem Hinterzim-
mer zu meinem Büro geschehen, das ich seit längerem
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bewohnte, und was mit Mira, die ich inzwischen darin
untergebracht hatte?
Ich hatte in jener Nacht nicht nach einem Polizeipos-
ten gesucht, ich war nur ganz zufällig auf ihn gestossen.
Ich war auf der Suche nach überhaupt nichts, höchstens
nach einem Unterschlupf. Ich hatte auch Mira nicht
verraten wollen. Das war keine Absicht, es ergab sich
nur eins aus dem anderen. Auf einmal war ich stehen
geblieben und hatte mich umgeblickt. Wo war ich über-
haupt? Die Strasse, die ich entlanggegangen war, war
mir unbekannt. Zum Schutz vor dem Regen stellte ich
mich unter einen schmalen Erker und versuchte mich
zu orientieren. Was für ein lästiger Sprühregen! Seit
Stunden war er ohne Unterlass auf mich niedergegan-
gen und hatte mich bis auf die Knochen durchnässt. Ich
trug nur ein Hemd, es war Ende August, die Zeit der
spätsommerlichen Hitze. Am Abend war die Luft noch
lau gewesen, aber dann hatte es sich unerwartet stark
abgekühlt. Zuerst war eine Unruhe aufgekommen,
und es schien, als zöge ein reinigendes Gewitter auf, so
sagt man ja, nicht wahr? Aber stattdessen füllte sich die
Luft nur mit diesem kalten und staubigen Sprühregen.
Er verschmierte die Schmutzecke auf meinem Hemd
und brannte auf den Kratzern an meinen Armen und in
meinem Gesicht. Der Schmutz und die Kratzer kamen
vom stundenlangen Umherkriechen zwischen den Blu-
menrabatten und den Dornbüschen draussen im Park
bei der psychiatrischen Klinik. Vor einigen Wochen
hatte ich dort einen goldenen Ring verloren, den ich
unbedingt wiedernden wollte, aber es war Neumond,
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und man konnte fast nichts sehen. Ausserdem riss ich
mir dabei ein Loch in die Hose, ich werde darauf sicher
noch zurückkommen. Was ich sagen will: Ich muss auf
den diensthabenden Beamten einen ziemlich herunter-
gekommenen Eindruck gemacht haben.
Von meiner Position unter dem Erker aus hatte ich
auf der schräg gegenüberliegenden Seite eines kleinen,
mit jungen Birken bepanzten Platzes den Polizei-
posten entdeckt. Ich hatte mich ganz einfach verirrt.
Überraschenderweise war ich in eine Gegend geraten,
die ich überhaupt nicht kannte. Das ist eigentlich ganz
ausgeschlossen. Ich wohne in dieser Stadt seit meiner
Geburt und hatte gemeint, alle ihre Gegenden genau
zu kennen. Vielleicht war mir ja nur der Bau dieses Pos-
tens entgangen, er hatte vielleicht ein Gebäude ersetzt,
ohne das die Umgebung für mich gleich nicht mehr
wiederzuerkennen war. Zwischen all den steinernen
Wohnblöcken aus der Nachkriegszeit wirkte er auf mich
in seiner Flachheit und mit seiner gläsernen Hülle eher
wie ein gestrandetes Raumschi denn als fest im Boden
verankertes Gebäude. Der Eingang war hell erleuchtet,
die grossen, gitterlosen Fenster signalisierten, dass der
Unbescholtene hier nichts zu befürchten hatte, dass er
im Gegenteil jederzeit und voller Vertrauen durch die
gläserne Schiebetür treten könnte und dass ihm, wäre er
erst mal drinnen, womöglich gar geholfen würde.
Ich war zuerst zögernd und in einigem Abstand da-
vor stehen geblieben, im fahlen Lichtkreis einer Bo-
genlampe, und hatte mich eigentlich gar nicht mehr
bewegt. Trotzdem musste mich der Bewegungsmelder
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bereits erfasst haben, ich weiss nicht, wie, aber es han-
delte sich vielleicht um einen Infrarotmelder. Jeden-
falls önete sich die Schiebetür mit einem gedämpften
Schleifgeräusch, und aus der Önung schlug mir abge-
standene Wärme entgegen – sozusagen im Tausch gegen
die Wärme, die ich selbst dem Infrarotmelder hatte ent-
gegenschlagen lassen. Unwillkürlich machte ich einen
Schritt darauf zu. Im Eingang hinter der Tür stand eine
sogenannte Informationstafel. Wollte ich sie entziern,
musste ich vollends eintreten. Hinter mir hörte ich wie-
der das Schleifgeräusch der Tür, und nach einem letzten
Luftzug von draussen umschlang mich die Wärme auch
von hinten. Augenblicklich begann ich am ganzen Leib
zu zittern. Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass
ich wohl stark gefroren hatte. Gleichzeitig wurde mir
schwindlig, ich war hungrig. Die Buchstaben auf der
Informationstafel verschwammen vor meinen Augen.
Wenn ich noch umkehren wollte, dann gleich. Aber
wo würde ich mich für den Rest der Nacht unterstel-
len können? In der nahe gelegenen Unterführung stank
es nach Urin, das schreckte mich ab. Und die besseren,
vor Regen und Zugluft geschützten Plätze waren schon
alle von den Obdachlosen und Betrunkenen besetzt, ich
wollte sie ihnen nicht streitig machen. Die Cafés öne-
ten erst um sechs. Und wer weiss, ob sie mich da über-
haupt bedienen würden, in meinem Zustand. Demons-
trativ würde ich mit dem Geld klimpern und knistern,
das ich lose in der Tasche trug, aber würde das etwas
helfen? Mein Vater hatte es mir gegeben, als ich ihn
an diesem Nachmittag draussen bei der Klinik getrof-
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fen hatte, um ihn abzuholen. Ausgerechnet jetzt hatten
sie ihn entlassen müssen! In meinem Büro sassen oder
schliefen Mira und ihr Bekannter, ein Mann aus Boli-
vien. Oder genauer gesagt schliefen sie nicht im Büro,
sondern in dem Hinterzimmer, das ich selbst eigent-
lich als Wohnung benutzte, Mira in meinem Bett und
Ramón auf der Klappliege daneben. Und mehr Platz
gab es da nicht. Natürlich hatten Mira und ich auch
schon zu zweit in meinem Bett geschlafen, aber das hier
war etwas anderes. Blieb also nur noch die Wohnung
meines Vaters, wo ich ja schon zuletzt die Nächte ver-
bracht hatte. Allerdings sträubte sich in mir alles dage-
gen, dorthin zurückzugehen, jetzt, wo auch er wieder
dort wohnte. Aber was blieb mir anderes übrig?
dasitzen
Ich hatte mich schon wieder dem Ausgang zugewandt,
da fühlte ich den gelangweilten und zugleich ungedul-
digen Blick eines Beamten auf mir, der hinter einer wei-
teren, von Topfpanzen umrahmten Glastür sass ein
einzelner Polizist hinter einem fast leeren Tisch und
der mich wohl schon seit längerem beobachtet hatte.
Ich versuchte noch, auf der Informationstafel irgendei-
nen Fingerzeig zu bekommen, wie ich entweder meine
Anwesenheit oder wenigstens einen diesbezüglichen
Irrtum begründen konnte: »Fundbüro: 2. Stock« stand
da beispielsweise samt Önungszeiten. Aber der Blick
des Polizisten duldete keine weitere Verzögerung. Man
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musste sich ihm zuwenden, ja ihn sogar erwidern, wenn
man sich nicht verdächtig machen wollte, noch dazu
um diese Zeit.
Ich ging in seine Richtung auf die Tür zu, wieder eine
Schiebetür, und schon önete auch sie sich ganz von
selbst, fast lautlos allerdings, nur mit leisem Schaben.
Zwischen den Topfpanzen blieb ich stehen. Ent-
schuldigen Sie bitte, sagte ich, ich bin wahrscheinlich
falsch hier, ich meine, ich wohne gar nicht in dieser Ge-
gend.
Ich wollte damit sagen, es sei wohl nicht der für
mich und mein Quartier zuständige Posten. Der Poli-
zist winkte ab und bot mir einen Stuhl an, er war sehr
zuvorkommend. Er stand sogar auf und rückte mir den
Stuhl zurecht, oenbar wirkte ich so erschöpft, dass ich
auf diese Hilfestellung angewiesen schien. Er selbst war
zwar etwas beleibt und schon älter, und er machte nur
langsame, bedächtige Bewegungen, aber sein Hemd
spannte sich noch immer über den Muskeln seiner
Brust und seiner Arme: Von mir hatte er nichts zu be-
fürchten. Er sagte: Moment bitte!, und verschwand in
einem Nebenraum.
Ich sah mich um. Es war – wie sagt man dazu? ein
Grossraumbüro. Es gab noch sechs oder sieben an-
dere Tische, aber um diese Zeit arbeitete niemand an
ihnen. Durch das Fenster sah ich den Platz vor dem
Posten, hell erleuchtet vom Licht der Bogenlampe. In
ihrem Lichtkegel glitzerte der Sprühregen. Es war eher
ein Scheinwerfer, der Polizist musste mich also schon
gesehen haben, als ich noch da draussen gestanden
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hatte. Vielleicht gab es ja für die Tür nicht einmal ei-
nen Infrarotmelder, überlegte ich mir jetzt, vielleicht
hatte der Polizist einen Knopf an seinem Tisch, mit
dem er sie önen konnte. Ich sah auf den Tisch. Es
gab darauf nur einen Bildschirm und eine Tastatur, auf
der Schreibunterlage lagen ein Taschenrechner und ein
Blatt mit einer Konstruktionszeichnung. Ich sah jetzt zu
der Tür, durch die der Polizist wieder hereinkommen
musste. Neben ihr war ein verspiegeltes Fenster in die
Wand eingefügt. Vermutlich gab es dahinter eine Art
Überwachungsraum. Der Polizist hatte mich demnach
unter Kontrolle. Ich versuchte ein möglichst unbeteilig-
tes Gesicht zu machen und sah auf die grosse Uhr ober-
halb des Fensters. Es war null Uhr sechsunddreissig.
Er kam zurück mit einem Handtuch und mit einer
Decke und mit einer Tasse Kaee, und er sagte: Sie
sehen ja ganz blass aus. Oder: Was ist Ihnen denn zu-
gestossen? Oder: Sie zittern ja am ganzen Leib. Oder
er sagte so etwas Ähnliches. Mit dem Handtuch sollte
ich mich trocknen, die Decke konnte ich mir über die
Schultern ziehen, der Kaee war wohl da, um mich zu
ermutigen. Der Polizist war geradezu fürsorglich. Er
legte das Blatt auf seinem Tisch zur Seite und auch den
Taschenrechner, setzte sich, schob die Tastatur an de-
ren Stelle in die Tischmitte und umfasste sie mit beiden
Händen. Sie waren breit mit dicken, behaarten Fingern;
es sind Pranken, dachte ich bei mir. Es hatte etwas Ver-
trauenerweckendes, wie sie beinahe zärtlich die viel zu
kleine Tastatur umfassten, aber natürlich auch etwas Be-
drohliches. Er sah mich auffordernd an.
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Es würde also nicht genügen, bloss dazusitzen und
zu schweigen. Er erwartete, dass ich ihm irgendeine
Geschichte präsentierte. Alle wollen sie immer eine
Geschichte hören, sonst nehmen sie einem die Decke
gleich wieder weg. Da ich weiterhin beharrlich schwieg,
räusperte er sich und ergri selbst das Wort.
Sie sind überfallen worden, sagte er. Er sprach lang-
sam, mit Pausen an den falschen Stellen, in den Pausen
gri er sich an die Nase.
Nein, nein, sagte ich. Nein.
Sie wurden angefahren, der Fahrer üchtete, viel-
leicht ein Betrunkener, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf.
Sie sind selbst betrunken.
Ich trinke nicht, sagte ich und setzte mich gerade
hin. Die Decke rutschte mir von den Schultern, ich zog
sie mir wieder über.
Eine Schlägerei?, sagte er und mass mich mit seinem
Blick. Es klang eher zweifelnd.
Nein, sagte ich, ich habe nur nach etwas gesucht.
Sie haben etwas verloren, sagte er.
Nein, sagte ich, das heisst ja, aber ich habe es wieder-
gefunden, deswegen bin ich nicht hier.
So, sagte er und wartete ein wenig. Ihre Frau hat sie
rausgeworfen. Er blickte auf meine zerkratzten Arme.
Sie hat vielleicht scharfe Fingernägel. Sie können es
mir er gri sich an die Nase ruhig sagen. Das kommt
öfter vor. Niemand spricht gern über so was.
Ich überlegte. Vielleicht hätte sich die Sache ja so
darstellen lassen. Aber dann schüttelte ich den Kopf.
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Sie ist gar nicht meine Frau, sagte ich. Und sie hat
mich auch nicht rausgeworfen. Die Kratzer sind von ei-
nem Dornengestrüpp.
Sie brauchen sie nicht in Schutz zu nehmen, sagte
der Polizist.
Ich nehme sie nicht in Schutz. Vielleicht würde ich es
tun, wenn ich wüsste, wie. Es geht um unsere Putzfrau,
Mira, so heisst sie, sie ist in meinem Büro, zusammen
mit einem Bekannten von ihr, jedenfalls kann ich da im
Moment nicht hin.
Warum wollen Sie denn mitten in der Nacht ins
Büro?
Es gibt da ein Zimmer, in dem ich wohne, sagte ich,
ein Hinterzimmer, genau genommen, fensterlos, mit ei-
nem schmalen Bett, neuerdings auch mit einer zusätzli-
chen Klappliege. Ich bewohne es seit längerer Zeit. Aber
schon für zwei Leute ist es viel zu klein, geschweige
denn für drei.
Sie wollen sie loswerden, sagte der Polizist. Oder Sie
wollen vielleicht ihren Bekannten loswerden.
Um Himmels willen, nein, sagte ich, keineswegs, sie
sollte sich nur gelegentlich etwas anderes suchen. Auch
der Bekannte, ja, der sollte sich auch etwas anderes su-
chen. Aber das ist alles nicht ganz einfach, sie hat hier
keine Aufenthaltsbewilligung, wie soll sie etwas nden?
Es ist alles in allem eine komplizierte Geschichte.
Soso, sagte der Polizist. Sie verstecken sie also bei sich.
Er begann jetzt, mit den Fingern auf seine Tastatur
zu tippen. Pranken wie ein Bär, aber wieselinke Finger,
so sagt man doch?
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Und wie kommen Sie dazu?
Es ist wirklich eine komplizierte Geschichte, mur-
melte ich.
Ach, sagte der Polizist, wissen Sie, fast alle, die hier-
herkommen, um uns was zu erzählen, halten ihre Ge-
schichten für furchtbar kompliziert. Gewöhnlich stellt
sich dann heraus, dass sie einfach, klar, übersichtlich
und leicht zu durchschauen sind. Wenigstens für uns.
Der Polizist wartete ab. Mir war gerade etwas warm
geworden, und meine Kleider begannen auf meinem
Leib zu trocknen, den Kaee hatte ich noch nicht ganz
ausgetrunken. Ich wollte gerne noch ein wenig sitzen
bleiben, wenigstens so lange, bis der Sprühregen nach-
gelassen hätte. Vielleicht würde ich ja auch noch eine
oder zwei Tassen Kaee bekommen. Irgendwie musste
ich das Gespräch in Gang halten. Ich hätte vielleicht
von der Jahresversammlung berichten können, um da-
mit der angedrohten Anzeige wegen Veruntreuung zu-
vorzukommen. Aber stattdessen redete ich von Mira,
deren Fall bei dem Beamten oensichtlich auf ein ge-
wisses polizeiliches Interesse gestossen war. Ich kann
mir das alles heute nicht mehr erklären. Es war viel-
leicht eine Art Geltungsdrang. Es war mitten in der
Nacht, und alles schien unwirklich, und ich bildete mir
ein, es wäre vollkommen egal, worüber ich redete. Ich
hatte mich getäuscht, besser wäre gewesen, ich hätte ge-
schwiegen.
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sich unterhalten
Ja, sagte ich zum Polizisten und räusperte mich. Also
das erste Mal habe ich Mira gesehen, als ich ganz gegen
meine Gewohnheit die Verbindungstür zwischen dem
Hinterzimmer und meinem Büro önete, noch bevor
sie mit ihrer Arbeit zu Ende war. Das muss so Ende Mai
gewesen sein. Unsere Putzfrauen wechselten immer, aber
diese hier arbeitete schon längere Zeit für uns. Trotzdem
hatte ich sie noch nie gesehen. Diesmal machte ich die
Tür also auf, ich weiss nicht mehr, warum. Vielleicht
hatte sie etwas gesungen, das mich rührte, das passiert
mir manchmal. Und dann hatte sie vielleicht mitten im
Lied aufgehört zu singen, wahrscheinlich, weil sie den
Putzeimer hinaustragen musste. Als ich die Tür önete,
war sie gerade hinausgegangen, das Büro war leer. Die
Frage ist also, warum ich die Tür nicht gleich wieder
zumachte, ich hätte genügend Zeit dafür gehabt.
Sie kam jeden Samstag und putzte mein Büro, im-
mer zur selben Zeit, und währenddessen blieb ich im
Hinterzimmer und sass auf meinem Bett oder an mei-
nem Tisch und horchte auf die Geräusche, die die Putz-
frau machte: das Knistern der Abfallsäcke, das Dröhnen
des Staubsaugers, ihr Gesumm und ihren Gesang in ei-
ner Sprache, die ich nicht verstand. Einmal im Monat
schrieb sie die Anzahl der Stunden, die sie gearbeitet
hatte, auf einen Zettel und liess ihn auf meinem Büro-
tisch liegen. Am folgenden Samstag zählte ich dann das
Geld, das wir ihr schuldeten, in einen Umschlag und
legte ihn auf den Tisch. Sie nahm das Geld an sich und
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hinterliess dann wiederum mir die unterschriebene
Quittung. Das war bis dahin unser einziger Kontakt
gewesen, wenn man das einen Kontakt nennen kann.
Mein Chef hatte sie eingestellt.
Diesmal önete ich also die Tür. Es roch nach Zi-
trone und Ammoniak. Mein Schreibtisch war poliert
und die Kiste darunter geleert. Das war immer das
Erste, was die Putzfrau am Samstag erledigte: die Kiste
mit dem Altpapier leeren. Ich hörte das Poltern, wenn
sie die Kiste auf ihren Rädern über die Schwelle in den
Korridor hinaus und zum Lift hin rollte. Irgendwo im
Keller steht der Sammelcontainer. Ganz zum Schluss
wischte sie den Boden und leerte dann den Putzeimer
draussen in den Ausguss.
Jetzt kam sie zurück. Summend und mit schlenkern-
den Armen und Händen erschien sie im Türrahmen
gegenüber. Sie erschrak, als sie mich sah, verstummte
augenblicklich und machte einen Schritt zurück. Und
auch ich war natürlich überrascht, ich hatte sie ja noch
nie gesehen, aber ich lächelte halb und murmelte etwas
Beschwichtigendes: Entschuldigen Sie bitte, ich wollte
Sie nicht erschrecken, etwas in dieser Art. Ich deutete
mit einer fahrigen Bewegung auf den Boden, er war
noch feucht, und man konnte noch nicht darüber ge-
hen: Alles schön sauber!, sagte ich laut und mit geküns-
teltem Lachen. Frisch geputzt! Vielen Dank!
Moment mal, sagte der Polizist. Warum erzählen Sie
mir das alles?
Sie haben danach gefragt, sagte ich.
Wonach habe ich Sie gefragt?
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Wie ich dazu gekommen bin, sagte ich, Mira bei mir
unterzubringen.
Ach so, sagte er und blickte zuerst mich an und dann
auf seinen Bildschirm und dann wieder zu mir. Ja, ge-
nau, Ihre Putzfrau. Und das gehört also alles dazu?
Natürlich. Darf ich jetzt weitermachen?
Hm, sagte der Polizist. Weiter sagte er nichts. Aber er
machte sich eine Notiz.
Sie war etwa so gross wie ich, fuhr ich fort, hager
und hakennasig, mit kurzgeschorenen Haaren und ra-
schen Augen, schmalhüftig und mager, aber mit kräfti-
gen Schultern. Ihre Schultern und ihre geröteten Arme
waren entblösst und glänzten vom Schweiss. Ich nahm
den wässrigen und leicht stechenden Duft wahr, der sich
im Raum ausbreitete, der nicht von den Putzmitteln
stammte und den ich auch schon das eine oder andere
Mal gerochen hatte, nachdem sie am Samstag gegangen
war, allerdings ohne zu wissen, woher er kam. Ich sog ihn
auf mit meiner Nase und hatte sofort den Wunsch, an
ihren Schultern zu riechen, aber ich hielt mich zurück.
Ihre Beine steckten in groben, weiten, hellen Hosen, ihre
Füsse in ausgetretenen, wildledernen Schuhen. Auch sie
sah mich an, aber mehr so wie einen Gegenstand unter
anderen, einen, den sie beim Putzen übersehen hatte.
Und dann blickte sie an mir vorbei und deutete auf die
Tür, in der ich stand, und auf das Hinterzimmer und
sagte etwas Undeutliches, das ich nicht verstand.
Nein, da brauchen Sie nicht zu putzen, sagte ich aufs
Geratewohl, und dann, weil ich ja gar nicht wusste, wo-
nach sie gefragt hatte: Na ja, ich wohne hier. Ich redete
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laut und mit ausfahrenden Gesten, als ob ich zu einer
Taubstummen spräche. Ich begann auch dem Polizisten
gegenüber zu gestikulieren, dabei rutschte mir wieder
die Decke von den Schultern, aber mir war nicht mehr
kalt.
Ich redete weiter, wahrscheinlich aus einer Verlegen-
heit heraus, ihr Geruch machte mich ganz nervös. Ich
dachte, sie würde mich sowieso nicht verstehen. Aber
darin täuschte ich mich. Ausserdem fühlte ich mich ihr
irgendwie überlegen, bloss weil sie eine Putzfrau war,
während ich doch immerhin an einem Tisch arbeitete.
Früher wohnte ich in der Stadt, sagte ich zu ihr, bei
meinem Vater, genau genommen. Das Büro liegt et-
was ausserhalb, erklärte ich dem Polizisten. Mein
Vater wohnt da immer noch. Und meinen Arbeits-
platz hatte ich zuerst oben bei meinem Chef, bis wir
dann dieses Büro hier samt Hinterzimmer dazumieten
konnten, oder so sagte ich erläuternd zum Polizis-
ten – Dr. Schneider, der Besitzer des Hauses, hat es uns
vielmehr zur Verfügung gestellt. In dem Hinterzimmer
übernachtete ich zuerst nur gelegentlich, ich legte ein-
fach eine Matratze hinein, für mehr war da gar kein
Platz. Der Vormieter hatte alle seine Sachen darin ste-
henlassen. Es muss so eine Art Archiv gewesen sein, das
ganze Zimmer war voller alter Akten über Gott weiss
was, ich sah sie mir gar nicht so genau an. Wahrschein-
lich war er Anwalt gewesen oder Baubiologe oder Fami-
lienhistoriker oder so etwas Ähnliches. Ich warf alles
weg, niemand kümmerte sich darum, und dann stellte
ich stattdessen ein paar von meinen Möbeln hinein.

Shortlist SCHWEIZER BUCHPREIS 2021

Thomas Duarte
Was der Fall ist

Roman

Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-03925-016-5
Seiten 301
Erschienen 31. August 2021
€ 27.80 / Fr. 32.00

Das Porträt eines modernen Antihelden, ein skurriles Erzählfeuerwerk

Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.

Thomas Duartes Debütroman ist ein skurriles Erzählfeuerwerk, eine melancholisch-humoristische Poetik des Scheiterns. Er wird bevölkert von kauzigen Figuren, die auf vielfältige Weise die Absurdität der Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft spiegeln.

Der Roman wurde 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debütmanuskript ausgezeichnet (-> Laudatio). 2021 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert (-> Laudatio). 2022 erhielt er den Literaturpreis des Kantons Bern.

Pressestimmen

Duartes Debüt ist ein hoch ironisch gebrochener Existenzialkrimi. Ein hintersinnig kluger und wunderbar schräger Roman.
— Alfred Schlienger, Schweiz am Wochenende
Mit Leichtigkeit, Hintersinn und Humor macht Duarte das Erzählen selbst zum Thema. (…) Er dreht und wendet Annahmen, was sinnvoll und was sinnlos, was erstrebenswert und was gescheitert ist, auf raffinierte Weise hin und her. Dasselbe tut er mit dem Bild seiner Protagonisten. Am Schluss erscheint der Erzähler als Betrüger, die Putzfrau als Lebenskünstlerin und der Polizist eher als Hüter der Nacht denn des Gesetzes.
— Martina Läubli, NZZ am Sonntag
Raffiniert gebaut ist dieser Roman, präzise, schnörkellos geschrieben. Ihn bevölkern skurrile Figuren, die an absurden bürokratischen Abläufen leiden, die uns beim Weiterlesen nah und näher auf den Pelz rücken, bis sie uns schliesslich gar vertraut vorkommen. Duarte schafft eine dichte Atmosphäre, die ein wenig an Melvilles »Bartleby«, Monty Pythons »Sinn des Lebens« und Franz Kafka erinnern mag. Gegens Romanende sagt der Protagonist: »Ich schweige. Es ist das, was ich von Anfang an hätte tun sollen.« Zum Glück hat er nicht geschwiegen, zum Glück hat Thomas Duarte diesen grossartigen Roman geschrieben.
— Raphael Zehnder, ProgrammZeitung
Ein subtiles, vielschichtiges Kammerspiel, das sich mit postmoderner Schwerelosigkeit moralischen Werturteilen entzieht und trotzdem hochaktuelle Bezüge zu unserer Gegenwart herstellt. Souverän beleuchtet das Buch die liberale Scheinheiligkeit im Lichte der zeitgeistigen Philanthropie und entlarvt ihre Sprachspiele, respektive Leerformeln, zu drängenden Themen wie Bürokratismus, Flucht oder Prekariat. Ohne Pathos verleiht der Autor damit seinen gesellschaftlich und psychisch an den Rand gedrängten Figuren eine autonome Stimme. Thomas Duarte hat uns mit »Was der Fall ist« einen virtuosen, eleganten, witzigen und sehr menschenfreundlichen Roman geschenkt.
— Tommy Egger, Laudatio zur Nominierung für den Schweizer Buchpreis
Ich war selten so uninteressiert an einem Buch und dann so amüsiert und auch gepackt. Das hat eine Spannung, einen Drive, und ich habe es quasi in einem Zug gelesen.
— Klara Obermüller