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Jacques Delamain
Warum die Vögel singen
Aus dem Französischen von Karl Wolfskehl
Herausgegeben und bearbeitet von Raael Winkler
Mit 30 Illustrationen
nach den handkolorierten Kupferstichen
von Balthasar Friedrich Leizel
Lenos Verlag
Der Autor
Jacques Delamain (1874–1953) war ein enthusiastischer Vogelkundler aus der Cha-
rente. Aus gutsituierter Familie stammend, widmete er sein Leben der Beobachtung
und Aufzucht von Vögeln. Nachdem sein Bruder Maurice den Verlag Stock übernom-
men hatte, veröentlichte er hier mehrere Schriften über die Vögel, in poetischer, ba-
rocker Sprache, jedoch stets präzise und mit dem Anspruch, genaue und detailreiche
Auskunft über das Leben seiner Forschungsobjekte zu geben.
Der Übersetzer
Karl Wolfskehl (1869–1948) war ein deutscher Schriftsteller und Übersetzer. Er über-
trug Texte aus dem Lateinischen, Englischen, Hebräischen, Italienischen und Franzö-
sischen. In München stand er Stefan George und dessen Kreis nahe, mit George gab
er die Zeitschrift Blätter für die Kunst heraus. Dieser nannte ihn einen der wenigen
»Urgeister«, die nach seiner eorie die schöpferische Kraft ganz aus sich selbst gewin-
nen. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 oh er zunächst über die Schweiz nach
Italien und wenig später von Frankreich aus nach Neuseeland, wo er bis zuletzt lebte.
Der Herausgeber
Raael Winkler (geb. 1949) ist promovierter Zoologe, langjähriger Kurator der Vo-
gelsammlung im Naturhistorischen Museum Basel und Autor. Er hat Karl Wolfskehls
Übersetzung im Hinblick auf die Vogelnamen modernisiert und mit einem Vorwort
versehen.
Titel der französischen Originalausgabe:
Pourquoi les oiseaux chantent
Copyright © 1928 by Éditions Stock
Die deutsche Übersetzung erschien erstmals 1930
im Bibliographischen Institut, Leipzig
Erste Auflage 2022
Copyright © 2022 by Lenos Verlag, Basel
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Illustrationen: Balthasar Friedrich Leizel
Titelbild: Rotschwanz (Hausrotschwanz), Rotkehlchen, Gartenrotschwanz,
Blaukehlchen (von oben nach unten)
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 021 9
Inhalt
Vorwort des Herausgebers 7
Warum die Vögel singen 13
Die Frühjahrswanderung 35
Freundschaft und Hass 49
Die Hochzeit 73
Die Meisenrunde 95
Der Fluss 107
Die Übergangszeiten 129
Die Herbstwanderung 143
Die zärtlichen Räuber –
Geschichte einer Familie von Wiesenweihen 165
Bildnachweis 219
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Vorwort des Herausgebers
Ob Lerchengesang oder wengekreisch, Vögel sind unüberhör-
bar. Ihre Lautäusserungen sind auch für Delamain der Aufhänger,
um das einheimische Vogelleben im Jahresverlauf darzustellen,
und zwar in einer ihm eigenen, romantischen Sprache. Wenn ein
heutiger Ornithologe das ema Vogelgesang angeht, schreibt er
nüchtern, dass die Vögel mit ihrem Gesang erstens ein Weibchen
anlocken, zweitens ihr Territorium behaupten und drittens artglei-
che Konkurrenten vertreiben. Diese Nüchternheit nden wir bei
Delamain nicht, sondern wir treen mit ihm auf einen Poeten, der
mit der Beobachtungsgabe eines Naturwissenschafters ausgerüstet
ist, der aber die Ergebnisse nicht in Tabellenform, sondern in ei-
ner bildhaften, stimmungsgeladenen und gefühlsbetonten Spra-
che wiedergibt. Diese Sprache hat der Übersetzer des Buches, Karl
Wolfskehl (1869–1948), sehr treend wiedergegeben. Das zeigt
sich etwa im Kapitel »Die Meisenrunde«, wo die gefühlsbetonte
und durchaus auch kräftige Ausdrucksweise, verbunden mit einer
gewissen Vermenschlichung tierischen Verhaltens, besonders gut
zum Ausdruck kommt. Er stellt hier unsere häugsten Meisenarten
vor, beschreibt aber nicht nur ihr Aussehen und ihr Verhalten, son-
dern auch ihren Charakter. So bezeichnet Delamain die Kohlmeise
als Königin des Meisenstammes, die sich durch ihre Kraft, ihren
Mut und ihre Mordlust auszeichnet, weil sie »in Gefangenschaft an
einem einzigen Tag ein ganzes Vogelhaus zu entvölkern vermag, in-
dem sie all ihren Genossen den Schädel zerschmettert«.
Seine Betrachtungen, wie sich die Vögel in ihrer Umgebung
ihren Artgenossen oder Feinden gegenüber verhalten, wie sie sich
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im Winter und während der Zugzeiten zurechtnden, ordnet er
in neun Kapitel, die sehr gut auch alle für sich allein gelesen wer-
den können. Neben dem Winter und der Brutzeit widmet er den
Übergangszeiten ein eigenes Kapitel. Das ist eher ungewöhnlich,
es sind die Zeiten zwischen Ende Winter und Anfang Brutzeit, wo
sich die Winterschwärme auflösen und die Paarbildung einsetzt,
und die Zeit im Sommer, wo die Jungen selbständig werden. Im
Sommer, sagt er, verstummen die Vögel, nur noch die Heuschrek-
ken zirpen, und »es ndet eine neue Verteilung statt«. Diese ganz
kurze Bemerkung über die neue Verteilung beinhaltet, dass nach
der Brutzeit eine neue Generation von Vögeln dazugekommen ist,
die ihren Platz beansprucht. Damit fasst der Autor das zusammen,
was wir heute als Dispersion der Jungvögel bezeichnen und was
Gegenstand der Populationsökologie ist. Auch mit anderen Feststel-
lungen nimmt er voraus, was später erforscht werden sollte. Zum
Beispiel die Beobachtung, dass Mauersegler abends in den Himmel
aufsteigen, »man könnte meinen, sie verbrächten die Nacht in der
Luft« diese Beobachtung ist rund zwanzig Jahre später Gegen-
stand intensiver Forschung. Mauersegler wurden mit einem Segel-
ugzeug und mit Radar verfolgt, bis feststand, dass sie tatsächlich in
der Luft übernachten.
Um 1930 steckte die Vogelzugforschung noch in den Kinder-
schuhen. Und doch stellt Delamain schon da die Frage, ob Vögel
sich nach dem Erdmagnetismus orientieren können, eine Tatsa-
che, die dann um 1965 bewiesen wurde. Das Phänomen, dass sich
gekägte Zugvögel zur Zugzeit »wie rasend gegen das ggitter
werfen«, wird heute Zugunruhe genannt und für Orientierungsver-
suche genutzt, indem die gecke, die am häugsten angeogen
wird, die Zugrichtung (im Herbst bei uns Südwesten) angibt. Die
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Beringung von Zugvögeln hatte zu Delamains Zeiten erst gerade
begonnen, und es lagen noch kaum Beringungsergebnisse vor, die
Auskunft über die Überwinterungsgebiete europäischer Langstrek-
kenzieher liefern konnten. So wundert es nicht, dass Delamain ne-
ben Afrika immer wieder auch Indien als Überwinterungsgebiet
erwähnt. Wir wissen aber unterdessen, dass praktisch alle unsere
Langstreckenzieher in Afrika und nicht in Indien überwintern. Ei-
nige von unseren Flussuferläufern besuchen gar Australien, schreibt
er. Ja, es gibt überwinternde Flussuferläufer in Australien, aber das
sind nicht unsere, sondern asiatische Brutvögel.
Das Verhalten ändert sich mit der Jahreszeit. Vögel, die im Win-
ter in Gruppen umherziehen und gemeinsam Nahrung suchen,
zeigen zur Brutzeit häug eine grosse Unverträglichkeit gegenüber
Artgenossen. Unverträglichkeit, ja Hass, so Delamain, zeigen die
Kleinvögel aber auch gegenüber dem Kuckuck. Und hier macht er
uns auf einen scheinbaren Widerspruch aufmerksam, der einem gar
nicht auffällt, wenn man nicht explizit darauf aufmerksam gemacht
wird: nämlich dass Singvögel den Kuckuck mit grossem Getue aus
ihrem Revier zu vertreiben suchen, dass sie aber sein Ei, wenn es
dann einmal in ihrem Nest liegt, wie ihre eigenen Eier ausbrüten
und den jungen Kuckuck anschliessend liebevoll aufziehen.
Das letzte Viertel des Buches ist einem Wiesenweihenpaar ge-
widmet, das er die ganze Brutzeit hindurch beobachtet und dessen
Verhalten er, mitsamt dem der Jungen, so akribisch und schön be-
schreibt, dass man das Kapitel heute als Masterarbeit in Ethologie
einreichen könnte. Das Wiesenweihenkapitel heisst »Die zärtlichen
Räuber«. Mit diesem Titel will er der damals üblichen Feindselig-
keit gegenüber Greifvögeln entgegentreten. Er bedauert, dass diese
Vögel immer seltener werden und dass sie nicht durch Gesetze vor
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der Ausrottung geschützt sind. Dabei nimmt er aber nicht nur die
Jäger aufs Korn, sondern in einem Satz voll tragischer Ironie auch
Forscher, die »stolz darauf« sind, »Hunderte von Weihen hingemor-
det zu haben, um zu ergründen, ob die fünfte Schwungfeder des
Wiesenweihs unweigerlich kürzer ist als die zweite«.
Im Gegensatz zu anderen Autoren von Vogelbüchern aus der-
selben Zeit, welche die Vogelwelt in nützliche und schädliche Arten
unterteilen, nimmt Delamain diesbezüglich eine neutrale Stellung
ein, er beobachtet und beschreibt die Vögel, ohne sie zu bewerten.
Raael Winkler, im Oktober 2021