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Jacques Delamain
Warum die Vögel singen
Aus dem Französischen von Karl Wolfskehl
Herausgegeben und bearbeitet von Raael Winkler
Mit 30 Illustrationen
nach den handkolorierten Kupferstichen
von Balthasar Friedrich Leizel
Lenos Verlag
Der Autor
Jacques Delamain (1874–1953) war ein enthusiastischer Vogelkundler aus der Cha-
rente. Aus gutsituierter Familie stammend, widmete er sein Leben der Beobachtung
und Aufzucht von Vögeln. Nachdem sein Bruder Maurice den Verlag Stock übernom-
men hatte, veröentlichte er hier mehrere Schriften über die Vögel, in poetischer, ba-
rocker Sprache, jedoch stets präzise und mit dem Anspruch, genaue und detailreiche
Auskunft über das Leben seiner Forschungsobjekte zu geben.
Der Übersetzer
Karl Wolfskehl (1869–1948) war ein deutscher Schriftsteller und Übersetzer. Er über-
trug Texte aus dem Lateinischen, Englischen, Hebräischen, Italienischen und Franzö-
sischen. In München stand er Stefan George und dessen Kreis nahe, mit George gab
er die Zeitschrift Blätter für die Kunst heraus. Dieser nannte ihn einen der wenigen
»Urgeister«, die nach seiner eorie die schöpferische Kraft ganz aus sich selbst gewin-
nen. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 oh er zunächst über die Schweiz nach
Italien und wenig später von Frankreich aus nach Neuseeland, wo er bis zuletzt lebte.
Der Herausgeber
Raael Winkler (geb. 1949) ist promovierter Zoologe, langjähriger Kurator der Vo-
gelsammlung im Naturhistorischen Museum Basel und Autor. Er hat Karl Wolfskehls
Übersetzung im Hinblick auf die Vogelnamen modernisiert und mit einem Vorwort
versehen.
Titel der französischen Originalausgabe:
Pourquoi les oiseaux chantent
Copyright © 1928 by Éditions Stock
Die deutsche Übersetzung erschien erstmals 1930
im Bibliographischen Institut, Leipzig
Erste Auflage 2022
Copyright © 2022 by Lenos Verlag, Basel
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Illustrationen: Balthasar Friedrich Leizel
Titelbild: Rotschwanz (Hausrotschwanz), Rotkehlchen, Gartenrotschwanz,
Blaukehlchen (von oben nach unten)
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 021 9
Inhalt
Vorwort des Herausgebers 7
Warum die Vögel singen 13
Die Frühjahrswanderung 35
Freundschaft und Hass 49
Die Hochzeit 73
Die Meisenrunde 95
Der Fluss 107
Die Übergangszeiten 129
Die Herbstwanderung 143
Die zärtlichen Räuber –
Geschichte einer Familie von Wiesenweihen 165
Bildnachweis 219
7
Vorwort des Herausgebers
Ob Lerchengesang oder wengekreisch, Vögel sind unüberhör-
bar. Ihre Lautäusserungen sind auch für Delamain der Aufhänger,
um das einheimische Vogelleben im Jahresverlauf darzustellen,
und zwar in einer ihm eigenen, romantischen Sprache. Wenn ein
heutiger Ornithologe das ema Vogelgesang angeht, schreibt er
nüchtern, dass die Vögel mit ihrem Gesang erstens ein Weibchen
anlocken, zweitens ihr Territorium behaupten und drittens artglei-
che Konkurrenten vertreiben. Diese Nüchternheit nden wir bei
Delamain nicht, sondern wir treen mit ihm auf einen Poeten, der
mit der Beobachtungsgabe eines Naturwissenschafters ausgerüstet
ist, der aber die Ergebnisse nicht in Tabellenform, sondern in ei-
ner bildhaften, stimmungsgeladenen und gefühlsbetonten Spra-
che wiedergibt. Diese Sprache hat der Übersetzer des Buches, Karl
Wolfskehl (1869–1948), sehr treend wiedergegeben. Das zeigt
sich etwa im Kapitel »Die Meisenrunde«, wo die gefühlsbetonte
und durchaus auch kräftige Ausdrucksweise, verbunden mit einer
gewissen Vermenschlichung tierischen Verhaltens, besonders gut
zum Ausdruck kommt. Er stellt hier unsere häugsten Meisenarten
vor, beschreibt aber nicht nur ihr Aussehen und ihr Verhalten, son-
dern auch ihren Charakter. So bezeichnet Delamain die Kohlmeise
als Königin des Meisenstammes, die sich durch ihre Kraft, ihren
Mut und ihre Mordlust auszeichnet, weil sie »in Gefangenschaft an
einem einzigen Tag ein ganzes Vogelhaus zu entvölkern vermag, in-
dem sie all ihren Genossen den Schädel zerschmettert«.
Seine Betrachtungen, wie sich die Vögel in ihrer Umgebung
ihren Artgenossen oder Feinden gegenüber verhalten, wie sie sich
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im Winter und während der Zugzeiten zurechtnden, ordnet er
in neun Kapitel, die sehr gut auch alle für sich allein gelesen wer-
den können. Neben dem Winter und der Brutzeit widmet er den
Übergangszeiten ein eigenes Kapitel. Das ist eher ungewöhnlich,
es sind die Zeiten zwischen Ende Winter und Anfang Brutzeit, wo
sich die Winterschwärme auflösen und die Paarbildung einsetzt,
und die Zeit im Sommer, wo die Jungen selbständig werden. Im
Sommer, sagt er, verstummen die Vögel, nur noch die Heuschrek-
ken zirpen, und »es ndet eine neue Verteilung statt«. Diese ganz
kurze Bemerkung über die neue Verteilung beinhaltet, dass nach
der Brutzeit eine neue Generation von Vögeln dazugekommen ist,
die ihren Platz beansprucht. Damit fasst der Autor das zusammen,
was wir heute als Dispersion der Jungvögel bezeichnen und was
Gegenstand der Populationsökologie ist. Auch mit anderen Feststel-
lungen nimmt er voraus, was später erforscht werden sollte. Zum
Beispiel die Beobachtung, dass Mauersegler abends in den Himmel
aufsteigen, »man könnte meinen, sie verbrächten die Nacht in der
Luft« diese Beobachtung ist rund zwanzig Jahre später Gegen-
stand intensiver Forschung. Mauersegler wurden mit einem Segel-
ugzeug und mit Radar verfolgt, bis feststand, dass sie tatsächlich in
der Luft übernachten.
Um 1930 steckte die Vogelzugforschung noch in den Kinder-
schuhen. Und doch stellt Delamain schon da die Frage, ob Vögel
sich nach dem Erdmagnetismus orientieren können, eine Tatsa-
che, die dann um 1965 bewiesen wurde. Das Phänomen, dass sich
gekägte Zugvögel zur Zugzeit »wie rasend gegen das ggitter
werfen«, wird heute Zugunruhe genannt und für Orientierungsver-
suche genutzt, indem die gecke, die am häugsten angeogen
wird, die Zugrichtung (im Herbst bei uns Südwesten) angibt. Die
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Beringung von Zugvögeln hatte zu Delamains Zeiten erst gerade
begonnen, und es lagen noch kaum Beringungsergebnisse vor, die
Auskunft über die Überwinterungsgebiete europäischer Langstrek-
kenzieher liefern konnten. So wundert es nicht, dass Delamain ne-
ben Afrika immer wieder auch Indien als Überwinterungsgebiet
erwähnt. Wir wissen aber unterdessen, dass praktisch alle unsere
Langstreckenzieher in Afrika und nicht in Indien überwintern. Ei-
nige von unseren Flussuferläufern besuchen gar Australien, schreibt
er. Ja, es gibt überwinternde Flussuferläufer in Australien, aber das
sind nicht unsere, sondern asiatische Brutvögel.
Das Verhalten ändert sich mit der Jahreszeit. Vögel, die im Win-
ter in Gruppen umherziehen und gemeinsam Nahrung suchen,
zeigen zur Brutzeit häug eine grosse Unverträglichkeit gegenüber
Artgenossen. Unverträglichkeit, ja Hass, so Delamain, zeigen die
Kleinvögel aber auch gegenüber dem Kuckuck. Und hier macht er
uns auf einen scheinbaren Widerspruch aufmerksam, der einem gar
nicht auffällt, wenn man nicht explizit darauf aufmerksam gemacht
wird: nämlich dass Singvögel den Kuckuck mit grossem Getue aus
ihrem Revier zu vertreiben suchen, dass sie aber sein Ei, wenn es
dann einmal in ihrem Nest liegt, wie ihre eigenen Eier ausbrüten
und den jungen Kuckuck anschliessend liebevoll aufziehen.
Das letzte Viertel des Buches ist einem Wiesenweihenpaar ge-
widmet, das er die ganze Brutzeit hindurch beobachtet und dessen
Verhalten er, mitsamt dem der Jungen, so akribisch und schön be-
schreibt, dass man das Kapitel heute als Masterarbeit in Ethologie
einreichen könnte. Das Wiesenweihenkapitel heisst »Die zärtlichen
Räuber«. Mit diesem Titel will er der damals üblichen Feindselig-
keit gegenüber Greifvögeln entgegentreten. Er bedauert, dass diese
Vögel immer seltener werden und dass sie nicht durch Gesetze vor
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der Ausrottung geschützt sind. Dabei nimmt er aber nicht nur die
Jäger aufs Korn, sondern in einem Satz voll tragischer Ironie auch
Forscher, die »stolz darauf« sind, »Hunderte von Weihen hingemor-
det zu haben, um zu ergründen, ob die fünfte Schwungfeder des
Wiesenweihs unweigerlich kürzer ist als die zweite«.
Im Gegensatz zu anderen Autoren von Vogelbüchern aus der-
selben Zeit, welche die Vogelwelt in nützliche und schädliche Arten
unterteilen, nimmt Delamain diesbezüglich eine neutrale Stellung
ein, er beobachtet und beschreibt die Vögel, ohne sie zu bewerten.
Raael Winkler, im Oktober 2021
12 Der wilde Stammhahn (Bankivahuhn, Süd- und Südostasien)
13 Der Haushahn
14 Die gehaubte Haushenne
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Warum die Vögel singen
Novembermorgen. Die Chöre der Vögel haben mit einem sanften
Gezwitscher eingesetzt. Am Waldesrand, im Torfmoor, wo noch
Nebelschwaden über den Wassergräben verziehen, lässt der seit ein
paar Tagen aus den nordischen Wäldern angelangte Trupp grüner
Zeisige aus den Erlen ein Prasseln metallischen Getönes sprühen.
Weiter weg, im geschützten Tal, erfüllt eine Starenschar den Pappel-
wipfel mit einem zugleich gesungenen, gesprochenen und gepe-
nen Geschwätz, zusammengesetzt aus allen Lauten der Natur, die
diese Mimen im schwarzen, weissgesprenkelten Mantel in ihrem
Hin und Her zwischen Ebene und Wald sich aufgelesen haben. Ein
Dutzend kleiner Girlitze, grün wie die Zeisige, aber mit kürzerem
Schnabel und winziger, lässt durch die Nadeln der Strandchten
Tonstrahlen rieseln, dünn, schrill, gleich einem Heuhupferzirpen.
An der besonnten Lehne des Kalksteinhügels verrät ein Geklingel
gerüttelter Glasperlen im Nussbaum den Trupp Grauammern, so
reglos wie braunes Laubwerk, das der Winter am Geäst übersehen
hat. Ein wenig später, bei den letzten kupferroten Scheinen, erhei-
tert ein anderer Chor, der klarste, der frischste vielleicht von allen,
der der Bluthänflinge, den sinkenden Tag.
Ein Vogel ist nie völlig schweigsam. Ein Geschöpf, gesellig,
nervös, immerdar auf dem Sprunge, von einem einzigen Flügel-
schlag in die Lüfte entführt, ein solches Geschöpf muss mit sei-
nesgleichen beständig durch die Weiten hin verkehren. Ferntragend
muss der Lockruf sein, er muss dichtes Gehölz durchschallen, den
Wind übertönen. Aus der Kehle mit den vielfachen, von mächtigen
Muskeln gelenkten Membranen dringen die Töne, bei jeder Art an-
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dere, und ein jeder Ton hat seinen eigenen Ausdruck. Der Lockruf
bringt die in den Stoppeln zerstreute Schar zusammen, fährt quer
durch das Windsbrausen an der Meeresküste, die wen und die
Seeschwalben zum gemeinsamen Schmaus zu laden, oder schrillt
gell und geheimnisvoll, damit nachts die Fühlung unter den Wan-
dernden gesichert bleibt. Schmetternd ertönt der Warnruf bei jäher
Überraschung, oder er kommt gedämpft heraus und üstert sich
gleichsam von Nachbar zu Nachbar beim Dräuen des Sperberkrei-
sens. Der Laut des Schrecks oder Zorns, den die aufgestörte Mut-
ter dem Eindringling entgegenwirft, lässt die Brut im Nestinnern
sich zusammenducken. Oder in einem Wirrwarr aus Fehde- und
Kampfgeschrei wird der am hellen Tag auf der Gabel eines dicken
Ulmenasts gesichtete Steinkauz von Meisen und Finken gezaust.
Noch mehr, taucht der Weih in weiter Ferne am Himmel auf, so
ist sein Weibchen, das die mit weissem Flaum bekleideten Jungen
zudeckte, bereits zu ihm aufgeogen; längst vor dem menschlichen
Ohr hat sie die schrille Tonwelle vernommen, die ihr ankündet, er
hält in einer seiner Krallen die zum Schmaus der Brut bestimmte
Feldmaus.
Gleich all diesen Schreien sind die Winterstimmen noch kein
richtiger Gesang, sondern der Ausdruck einfacher Erregungen,
Ausstrahlungen des Herdengeistes. Das Gemeinschaftserlebnis bö-
ser Tage hat die Vögel nach Arten vereint. Zusammen sind sie zur
Futterstelle geogen, haben im niedrigen Buschholz oder in den
dichten Fichtenkronen genächtigt. Der erste Sonnenstrahl am kal-
ten Morgen liess ihren Kehlen fröhliche Klänge entsprühen: Gefühl
des Wohlergehens, wenn die vom Bad noch nassen Flügel sich im
Lichte entfalten dürfen, die Lust, zusammenzusein, desselben Ge-
eders zu sein, desselben Lebens, derselben Seele.
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In diesem Gemeinschaftszustand gibt es keine individuelle
Kunstfertigkeit. Ebensowenig wie die vorübergehenden winterli-
chen Gruppierungen erzeugen die Dauersiedlungen zu irgendeiner
Jahreszeit grosse Sänger: die der Silbermöwen auf der Meeresklippe,
wo jede Vertiefung ein Trio brauner Eier enthält, die der wen
und Seeschwalben, die ihre Nester massenweise am Dünenhang
zusammenlegen, sie bringen nichts hervor wie Geschrei. Aus den
alten Kirchenmauern, wo die Sperlinge truppweise nisten, tönt nur
Gepiepe. Die Mehlschwalbe mit weissem Unterrücken, die ihre ge-
deckten Nester in Zehnerreihen an die Vordächer unserer Häuser
pappt, und ihre braune Base, die Uferschwalbe, welche die Dämme,
wo sie ihre Bruthöhlen gräbt, mit kleinen, schwarzen Löchern be-
sät beiden eignet nur ein helles Zwitschern. Denn der Herdengeist
tötet den Künstler. Der Buchnk muss mit der Schar seiner Win-
tergenossen gebrochen haben, bevor er im Februar seine klingende
Strophe wiederaufnimmt. Die Lerche wird sich nicht eher singend
in die Lüfte schwingen, als bis sie sich von ihren Wanderschwestern
getrennt hat.
An den schönsten Februarnachmittagen haben sich die Rot-
drosseln, diese kleinen Drosseln mit den rostroten Flanken, die um
die Zeit der Lese für den Winter von Nordeuropa und Asien zu uns
herüberkommen, reglos und unsichtbar in den Fichten versammelt,
die sie an ihre heimatlichen Wälder erinnern. Es ist ein Chor von
geschmeidigen und kristallklaren Stimmen. Aber wenn ein wenig
später, an einem Märztage, der Chor verstummt, dann verlängert
ihn eine pathetische und getragene, fünf-, sechsmal wiederholte
Note mit neuer Klangfarbe. Es ist die Grundmelodie zum Hoch-
zeitsgesang des Drosselmännchens. Im rosigen Abendlicht sitzt es,
getrennt von seinen im Buschholz zur Ruh gegangenen Gefährten,
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auf einem Akazienzweig, um die noch ein wenig rauhe Weise von
neuem vorzunehmen.
Selbst mitten im Winter wird die neue Kunde von gewissen
Arten unserer Standvögel durch die Feindseligkeit der Natur hin-
durch vorausgefühlt. Von Dezember an, wenn an lauen Morgen
der Westwind die Moose und Flechten belebt, schmettert die grosse
Misteldrossel ihre strahlende und kurze, wie ein Fehderuf tönende
Melodie hinein ins Sausen. Um die Weihnachtszeit verraten die
bald rollenden, bald schrillen und kurzen Pe des Kleibers die Er-
regung des schiefergrauen Körperchens, das mit seinen in die Rinde
gekrallten Zehen den Baumstamm knackend hinaufläuft. Die drei
abgezirkelten, schallenden und wie Hammerschlag auf hellklingen-
den Amboss tönenden Rufe der Kohlmeise sind dem taktierten Ge-
schrill der Blaumeise um einige Tage voraus: Kaum schon ein Sin-
gen ist das, und doch ist es inmitten der kalten Jahreszeit schon so
beladen mit allem, was die schönen Tage bringen, dass kein Lenz-
laut uns süsser scheinen könnte. Aus dem vom Schnee geblümten
und bepuderten Stechginsterbüschel quillt der überstürzte Triller
des Zaunkönigs so stark und so schmetternd, dass man erstaunt ist,
wenn ein winziger brauner Vogel zum Vorschein kommt, der auf
der Flucht mit seinen runden Flügelchen den gefrorenen Erdbo-
den bestreicht. Der entblätterte Hag hat seinen süssen, ein wenig
traurigen Wintersang: den der Heckenbraunelle. Die Lerche lässt
auf die gestern noch ganz weissen Brachen den frohen Sturzbach
ihrer Lieder hoch von oben herunterfallen, und wie eine unver-
meidliche und reizende Begleitung dazu moduliert ruhelos und hell
die Stimme des Rotkehlchens. Selbst die eisige Januarnacht hat ihr
Lied: den urhaften und wilden Kehrreim des grossen Waldkauzes,
der manchmal wie ein menschlicher Schmerzensschrei verlautet.
156 Der Zaunkönig mit seinem Nest
157 Das Goldhähnchen (Sommergoldhähnchen)
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Warum dies Singen im Winter, wenn wir die Natur entschlafen
glauben? Es ist so der Liebestrieb, der wohl schlummern kann, nie-
mals aber ganz entweichen, er ist wach geworden. Da sich diese Arten
dem Winter unserer Klimaten angepasst haben, so entgehen sie dem
Zwange der Wanderung in die Weite, welcher die geederten Reisen-
den hinstreut über die Kontinente. Für die einen, die Meisen etwa,
hat der winterliche Verband sich sehr rasch ausgelebt: Männchen und
Weibchen, bisher zu schweifendem Trupp verschmolzen, haben wie-
der ihr Leben zu zweien aufgenommen. Bei andern waren die Paare
niemals voneinander getrennt. Zweifellos ist die Stunde der Leiden-
schaft noch nicht gekommen, in der das Weibchen, ein Beben in den
Flügeln, ihren Gefährten zur Paarung lockt. Schon aber wob Freund-
schaft und Zärtlichkeit ein Band für die Gatten. Täglich gehen sie
miteinander auf Nahrungssuche, und wenn der Abend kommt, dann
gewähren ihnen der gleiche Wacholderbüschel, der gleiche hohle
Baumstamm, die gleiche Scholle Unterschlupf für die Nacht.
Nun aber ist sie gekommen, die Stunde der grossen Befeue-
rungskraft. Schüchtern zuerst und gleichsam zögernd, wird sie stets
gebieterischer mit der täglichen Zunahme von Linde und Licht.
Beide Geschlechter hatten bis dahin gleichen Lock- und Warnungs-
ruf, den gleichen Freudenton. Schweigsam sammeln die Weibchen
den Schwall des neuen Strömens in ihre Lebenskammer ist doch
bei ihnen alles dem nahen Vollbringen des Mutterwerks geweiht –,
bei den Männchen ammt dieses Strömen jetzt auf in üppigem Ge-
habe, in der Fülle und Schönheit der Stimme, in der Leuchtkraft
des Geeders, in seltsamem oder rasendem Getanz. Mit solchem
kündigt sich das Steigen der Begier, das Vorgefühl der Paarung.
Der Gesang ist nicht nur ein Preislied an die Vielgeliebte. Das
Männchen, ganz im Banne der einen jäh oder hehlings wirkenden
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Gewalt, die es hinaushebt über sich selbst, entlädt nun im Gesange
all die verwickelten und vielfältigen Erregungen, die es nicht mehr
in einen einfachen Schrei zusammenpressen kann: das Ja zum Ich,
zur eignen Kraft und eignen Schönheit, zu seiner Lebenslust und
seinem Platz an der Sonne. So erfüllt der Seidensänger beim ge-
ringsten Argwohn fremder Gegenwart das Schilf mit dem Krakeel
seiner gereizten und prahlerischen Strophe. Als Wächter seines Be-
zirks tut das Rotkehlchen in endlos abgewandelten Phrasen allen
kund und zu wissen, es sei der Besitzer dieses Reichs und habe vor,
Herr daselbst zu bleiben. Denn für den Vogel heisst singen auch:
einen Fehderuf erschallen lassen. Angesichts der scheuen Weibchen
beschimpfen sich die Nebenbuhler laut. Von einer Baumkrone zur
andern werfen sich die Finkenmännchen unaufhörlich ihren trium-
phalen Kehrreim an den Kopf, als begehrten sie des Gegners letzten
Atemzug. Tief drinnen im Hagedorn singen zwei Nachtigallen Aug
in Aug immer wieder einander an, als wollten sie sich das Geheim-
nis entreissen, dadurch der Gesang noch schöner wird. So steigt
über Wiesen und Wälder, schmetternd oder gedämpft, süsse oder
herb das Geprahle der Männchen, das von Ort zu Ort sich weiter-
panzt! An den Grenzmarken des von den einzelnen Arten einge-
nommenen Bezirks, wo der Kampf der Stimmen nachlässt unter
den spärlicher gewordenen Rivalen, verliert der Gesang seine Kraft
und seine Schönheit.
Und wahrhaftig, diese Schönheit ist nichts Urgegebenes.
Durch den Archaeopteryx, das geügelte echsenschwänzige Fos-
sil, Abkömmlinge der Saurier, bewahren die Vögel, welche in der
Silurperiode aus dem Schlamm der Sumpflande hervorgekrochen,
anfänglich das feste Land gewonnen, dann sich in die Lüfte erho-
ben haben, in ihrem Stimmton noch die Spuren vom Gequake

Jacques Delamain
Warum die Vögel singen

Aus dem Französischen von Karl Wolfskehl
Herausgegeben und bearbeitet von Raffael Winkler
Mit 30 Illustrationen nach den handkolorierten Kupferstichen von Balthasar Friedrich Leizel


Halbleinen, mit Lesebändchen
ISBN 978-3-03925-021-9
Seiten 219
Erschienen 15. März 2022
€ 29.50 / Fr. 35.00

Die Vögel sind wahrscheinlich die grössten Musiker, die unseren Planeten bewohnen.
— Olivier Messiaen

Warum singen die Vögel? Diese und viele weitere Fragen stellt Jacques Delamain in seinem Buch. Wir erfahren, wie sich eine Schar Meisen gegen ihre Feinde behauptet, oder erleben eine Familie von Wiesenweihen, die gemeinsam Flugübungen macht. Wir folgen dem Lauf des Flusses, der Frühjahrs- und Herbstwanderung der Vögel und erleben das harte Schicksal derjenigen, die im Winter in unseren Breitengraden verharren – bis der Frühling ihre Verwandten wieder zurückbringt.

In poetischer, manchmal barock anmutender Sprache, jedoch immer mit präzisem Blick präsentiert dieses Buch die Welt der Vögel. Dass Literatur und Wissenschaft keine Widersprüche sein müssen, das zeigt uns Jacques Delamain. Ein Text, der mehr als zu unterhalten vermag.

Delamains Wissensschatz erscheint erstmals seit 1930 wieder auf Deutsch; in bibliophilem Gewand mit Reproduktionen handkolorierter Kupferstiche von Balthasar Friedrich Leizel.

»Bei Delamain treffen wir auf einen Poeten, der mit der Beobachtungsgabe eines Naturwissenschaftlers ausgerüstet ist, der aber die Ergebnisse nicht in Tabellenform, sondern in einer bildhaften, stimmungsgeladenen und gefühlsbetonten Sprache wiedergibt.«
Raffael Winkler, Herausgeber

Pressestimmen

Wer noch kein Vogelfan ist, kann es mit diesem bezaubernden Buch werden.
— Alfred Schlienger, bz Basel