LENOS
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LENOS POCKET 128
www.lenos.ch
Lina Bögli, Nicolas Bouvier, Blaise Cendrars,
Ella Maillart, Annemarie Schwarzenbach,
Yvette Z’Graggen
Unterwegs
Geschichten vom Reisen
Lenos Verlag
LENOS POCKET 128
Erste Auflage 2009
Copyright © 2009 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Ella Maillart
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 728 5
Inhalt
Lina Bögli: Unterwegs nach Australien 7
Nicolas Bouvier: Nach Kabul 25
Ella Maillart: Karawane in Not 47
Blaise Cendrars: Auf der GELRIA nach Europa 63
Nicolas Bouvier: Sian 81
Yvette Z’Graggen: Brissago 1942 95
Ella Maillart: Die Grenze 103
Ella Maillart: Von Herat nach Bala Murghab 113
Annemarie Schwarzenbach: Der Weg zum Himmelsgebirge 129
Annemarie Schwarzenbach: Aden, eine Morgenvision 149
Die Autorinnen und Autoren 156
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Lina Bögli
Unterwegs nach Australien
Krakau, 2. Juli 1892
Meine liebe Elisabeth! Fürchte nicht etwa, dass ich verrückt
geworden bin, obwohl ich dir hiermit die absonderlichste
Idee mitteile, die je ein weibliches Menschenkind gefasst
hat. Höre und staune! Ich bin auf dem Punkt, eine Reise
um die Welt zu unternehmen, ganz allein, und sozusagen
ohne Geld! Du erinnerst dich wohl, dass ich dir vor kaum
zwei Jahren eine Karte mit dem folgenden Inhalt aus Ant-
werpen schrieb: »Wenn man mir alle Schätze von Peru an-
bieten würde unter der Bedingung, dass ich sie mir selbst
hole, rde ich mich höflichst dar bedanken; denn nie
im Leben werde ich mich mehr auf das Meer wagen.« Ja,
das habe ich geschrieben, und dabei war ich damals ganz
und gar aufrichtig. So ändert sich eben der Mensch, wenig-
stens der weibliche Mensch. Was ich damals für alle Schätze
Perus, für alle Schätze der Welt nicht getan tte, das tue
ich heute aus eigenem Antrieb umsonst.
Wer mir diese verrückte Idee in den Kopf gesetzt? Kein
Mensch hat je über dieses Thema mit mir gesprochen, und
wenn mir noch heute am Mittagstisch jemand eine solche
Abenteuerlichkeit zugemutet hätte, ich rde mich nicht
wenig über diesen Jemand geärgert haben, und doch hatte
ich, bevor es vier Uhr war, schon den ersten Schritt dazu
getan, d.h. ich hatte schon an eine Schiffsgesellschaft ge-
schrieben!
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Lass mich dir erzählen, wie das alles über mich gekom-
men ist. Ich kann nicht umhin, es als eine gung des
Schicksals zu betrachten. Ich bin heute ganz allein zu Haus,
und da es Sonntag ist, wollte ich mir einmal den Luxus
eines kleinen Nachmittagsschläfchens erlauben; doch kaum
hatte ich es mir auf dem Sofa bequem gemacht, als auch
schon ein wahrer Wirrwarr von Gedanken durch meinen
armen Kopf jagte und bald alle Schlaflust verscheuchte.
Was man doch nicht für absurdes Zeug zusammendenken
kann in fünf einsamen, faulen Minuten! Heiter können aber
diese Gedanken nicht gewesen sein, denn die Schlussfolge-
rung war, dass doch das Leben oft furchtbar leer und farb-
los sei. Für einen Mann mag es wohl noch erträglich sein,
denn er kann, wenn es ihm beliebt, alles gliche anstellen,
um Abwechslung in die Eintönigkeit zu bringen, er behält
doch seinen Platz in der Gesellschaft. Aber uns Frauen sind
die Schranken so eng gezogen, dass man sich nicht gehörig
hren kann, ohne dagegen anzuprallen. Ja, ein Mann zu
sein, das wäre Freiheit! Was ich wohl tun würde, wenn ich
ein Mann wäre? Gewiss grosse Reisen machen, um die Welt
und die Menschen kennenzulernen. Zum Reisen braucht
man zwar Geld, und ich könnte dann glicherweise auch
ein armer Mann sein. Aber was? Mit der Kraft und der Frei-
heit eines Mannes könnte ich dann die Welt auch ohne Geld
bereisen; Tausende von deutschen Wanderburschen haben
es getan, und ich habe von Engländern gelesen, die zum
Spass denn sie waren reich ohne Geld eine Weltreise
unternommen haben, sich auf den Schiffen als Kellner und
auf dem Land als Packträger oder so etwas durchzubringen
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gedachten. Ob sie ihre Pläne gänzlich durchgeführt, habe
ich zwar nicht gehört, aber es ist sehr wahrscheinlich; denn
welcher Engländer unternimmt etwas, ohne es durchzufüh-
ren? Nun, und warum sollte nicht ein mittelloser Schweizer
im Ernste tun, was ein reicher Engländer im Spass getan?
Halt, oder eine Schweizerin? Wie wäre es, wenn ich den
Versuch machte? Als Schiffsjunge oder als Packträger wäre
ich allerdings nicht sehr anstellig; aber ich besitze ungefähr
1400 Franken. Damit könnte ich die Seereise, so weit es
geht, bezahlen, und auf dem Land könnte ich gewiss über-
all, wo Menschen wohnen, mein Brot verdienen. Ginge es
nicht als Lehrerin, so könnte ich ja Hausdienst verrichten.
So ungefähr räsonierte ich, und je mehr ich darüber
nachdachte, desto leichter und einfacher kam mir die ganze
Sache vor. Ja wahrhaftig, ich wollte es versuchen, mir den
Weg um die weite, schöne Welt zu erarbeiten! Wer könnte
es eher tun als ich? Unter Millionen Mädchen bin ich das
eine, welches das tun kann, denn ich stehe ganz allein in der
Welt. Keine lieben Eltern rden sich um mich grämen.
Ich bin niemandem notwendig. Wenn ich elend werde, wird
niemand durch mich leiden, und wenn ich sterbe, wird nie-
mand ärmer oder unglücklicher sein. Also vorwärts! Frisch
gewagt ist halb gewonnen!
Als ich so weit war in meinem Gedankenlaufe, sprang
ich vom Sofa auf und fing an zu handeln. Ich schrieb gleich
an die Peninsular- und Oriental-Schiffsgesellschaft in
London, um mich nach der orientalischen Schiffahrt und
den Fahrpreisen zu erkundigen. Ich schickte gleich einen
Dienstboten mit dem Brief auf die Post, um mir ja keine
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Zeit zum Überlegen und Bereuen zu erlauben, denn Über-
legung macht mich leider meist zum Feigling. Daher muss
ich, wenn ich etwas vollbringen will, unüberlegt handeln.
Ich bin ausser den Dienstboten noch immer allein zu Hause.
Du bist daher die allererste, die von meinem »verrückten«
Plan in Kenntnis gesetzt wird. Was du darauf antworten
wirst, errate ich, und ich kann dir zum voraus sagen, dass
all deine Gegenreden nichts erreichen werden, denn ich bin
fest entschlossen, meiner Eingebung zu folgen. Adieu, du
sollst bald wieder von mir hören.
Krakau, 12. Juli 1892
Mein Koffer ist gepackt, und ich selbst bin reisefertig.
Heute abend verlasse ich mit dem Wiener Schnellzug das
liebe alte Krakau, aber nicht ohne die Hoffnung, es heute
über zehn Jahre wiederzusehen. Ich habe es mir nämlich in
den Kopf gesetzt, zehn Jahre auf Wanderschaft zu bleiben,
um mir Zeit zu nnen, Land und Leute gehörig kennenzu-
lernen. Man macht ja doch wohl nur einmal im Leben die
Reise um die Welt; da sollte man es doch so gründlich wie
glich tun. Warum ich mir gerade zehn Jahre gebe? Weil
es immer besser r mich ist, wenn ich mir ein ganz fe-
stes Ziel setze, und je genauer, desto besser. Deswegen setze
ich mir sogar den Tag meiner Rückkehr fest. Also pass auf:
Heute nach zehn Jahren werde ich, wenn es menschenmög-
lich ist, wieder am Krakauer Bahnhof, dem Ausgangspunkt
meiner Weltreise, ankommen. Der 12. Juli 1902 wird das
Ziel sein, nach dem ich in den nächsten zehn Jahren unauf-
rlich streben werde.
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Nächsten Sonntag wird der englisch-australische Damp-
fer »Ballarat«, mit dem ich zu fahren gedenke, in Brindisi
erwartet. Ich muss daher schon heute abreisen, um zeitig
genug zur Stelle zu sein. Nicht wahr, ich habe mir nicht
Gras unter den Füssen wachsen lassen? Sobald ich eine
Antwort aus London erhielt und imstande war, die Reise-
kosten zu berechnen, bestellte ich mir eine Kabine auf dem
ersten ostwärts ziehenden Dampfer. Meine 1400 Franken
reichen gerade aus, um mir die Reise, narlich nur zweiter
Klasse, bis nach Sydney, Australien, zu bezahlen. Tausend
Franken kostet die Schiffskarte von Brindisi nach Syd-
ney. Die übrigen 400 werden zu tigen Einkäufen und
der Reise von hier bis Brindisi verwendet. Einmal auf dem
Schiff, wird mir wohl wenig übrig bleiben, und ich werde
fast bettelarm das Leben in einem neuen Kontinent anfan-
gen müssen. Das klingt alles sehr riskiert und unvernünf-
tig, nicht wahr? Du wirst fragen, warum ich mir denn alle
Möglichkeit zur Umkehr abschneide, warum ich mir nicht
das kleinste Türchen offen lasse, durch das ich im aller-
schlechtesten Fall nach Europa entschlüpfen könnte. Eben
gerade das will ich nicht. Ich fürchte mich so sehr vor jener
speziell schweizerischen Krankheit, dem Heimweh, und
meiner eigenen Schwäche, dass ich alles aufbiete, um mir
den Rückzug unmöglich zu machen. Deswegen fahre ich
auch nicht über Amerika, wo es doch viel leichter wäre, Be-
kannte zu finden; denn Amerika ist mir zu nahe. Es wäre so
leicht, von dort zurückzukommen. Aber von Australien aus
wird es die nächsten Monate ganz unglich sein. Denke
nur, wie lange ich arbeiten muss, um mir 1400 Franken

Diverse
Unterwegs

Geschichten vom Reisen

Lenos Pocket 128
Paperback
ISBN 978-3-85787-728-5
Seiten 159
Erschienen August 2009
€ 9.80 / Fr. 9.80

Ausgaben
Paperback (2009)

Unterwegs sein, offen sein für das Fremde, das Ungewohnte, das Unerwartete und das Unverhoffte. Auf der Suche sein nach Abenteuern, nach Erkenntnissen über den Zustand der Welt und vor allem über sich selbst. Es gibt vielseitige, aufregende und berührende Entdeckungen zu machen auf den Reisen mit Lina Bögli, Nicolas Bouvier, Blaise Cendrars, Ella Maillart, Annemarie Schwarzenbach und Yvette Z’Graggen – auf der Spur der Verwirklichung ihrer Träume: in Afghanistan und im schweizerischen Brissago am Lago Maggiore, im chinesischen Sian, auf Schiffspassagen zwischen Brasilien, Cherbourg, Triest und Australien, im Auto über den Chaiber-Pass Richtung Kabul, mit der Kamelkarawane auf der unwegsamen Route nach Sinkiang in China oder auf der Suche nach der Königin von Saba in der Hafenstadt Aden. Immer sind Grenzen zu überwinden – zwischen Ländern und Kontinenten, in der Begegnung und der Kommunikation mit Menschen aus unvertrauten Kulturkreisen, aber auch in der Auseinandersetzung mit sich selbst, im Kampf gegen Krankheit und Verzweiflung, bei der Bewältigung von Angst und Trauer, auf der Suche nach Glück. »Das Lesen nimmt so gut wie das Reisen die Einseitigkeit aus dem Kopfe«, schrieb Jean Paul. Die in der Anthologie vereinten Reisegeschichten sind dafür der beste Beweis.