LENOS
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Frankreich im Jahr 2049. Der Fall Royer-Dumas bedeutet eine harte
Bewährungsprobe für die ehemalige Polizistin Hélène und ihren
Kollegen Nico: Der Schüler Milo und seine Eltern sind spurlos ver-
schwunden. Ein unvorstellbares Ereignis in einer harmonischen Ge-
sellschaft, die sich der absoluten Transparenz verschrieben hat.
Zwanzig Jahre zuvor hatte ein Mehrheitsbeschluss in den sozialen
Medien zu einer Revolution geführt. Städte wurden umgebaut, alle
Hausmauern durch Glas ersetzt. Konsequent geschaene Transpa-
renz sollte Sicherheit und Schutz für alle garantieren und sämtliche
Arten von Verbrechen und häuslicher Gewalt verhindern. Die ge-
meinsam gelebte soziale Kontrolle verfolgte das Ziel, für Glück und
Wohlbenden zu sorgen.
Hélène und Nico lassen sich in ihren intensiven Bemühungen um
Aufklärung des mysteriösen Verschwindens nicht beirren. Ihre Er-
mittlungen in Milos Schule und der wohlhabenden Nachbarschaft
der Familie führen in die Abgründe der Beziehungswelt der Men-
schen. Die Brüchigkeit des brutalen gläsernen Paradieses wird ent-
larvt.
Lenos Verlag
Lilia Hassaine
Tödliche Transparenz
Roman
Aus dem Französischen
von Anne omas
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des fran-
zösischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung
der französischen Botschaft in Berlin.
Titel der französischen Originalausgabe:
Panorama
Copyright © 2023 by Éditions Gallimard, Paris
Erste Auflage 2025
Copyright © der deutschen Übersetzung
2025 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: Kirill Neiezhmakov / Shutterstock
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 047 9
www.lenos.ch
»Die sichtbaren Dinge enden
nicht im Dunkel oder im Schwei-
gen, sondern sie verüchtigen
sich in dem, was sichtbarer als das
Sichtbare ist: in der Obszönität.«
Jean Baudrillard,
Die fatalen Strategien*
* Aus dem Französischen von Ulrike Bockskopf und Ronald Voul-
lié. München: Matthes & Seitz 1991, S. 12.
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Prolog
Hinter der Glaswand liegt eine Frau auf der Seite und
schläft. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich wie mor-
gendliche Dünung. Nico schmiegt sich von hinten an
sie und küsst ihr oenes Haar. Eine Blondine habe ich
bisher noch nicht in seinem Bett gesehen.
Nico hat beschlossen, zu vergessen und zu leben. Mir
gelingt das nicht, und ich frage mich immer noch, wie
die Dinge derart aus dem Ruder laufen konnten.
Es ist knapp ein Jahr her.
Eine Familie war verschwunden, hier, wo nie jemand
verschwindet.
Man hatte mich mit den Ermittlungen betraut, und
was ich im Laufe der Wochen entdeckt habe, hat all
meine Gewissheiten erschüttert. Es war nicht nur ein
banales Verbrechen, sondern eine unvermeidliche Tra-
gödie, ein Übel, das ein ganzes Viertel, eine ganze Stadt,
ein ganzes Land vergiftete, ein plötzlicher Ausbruch,
Gewalt, die wir eingeschlafen glaubten.
Aber ehe ich Ihnen diese Geschichte erzähle, muss ich
weiter ausholen. Denn man kann keines der Ereignisse
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vom 17. November 2049 verstehen, wenn man nicht
weiß, was zwanzig Jahre zuvor passiert ist,
als unsere Städte, ehemals Dschungel, zu Zoos wurden.
ERSTER TEIL
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I
2029
Die Szene spielt sich im Sendesaal von Radio France
ab. Gabrielle Boca, eine äußerst zielstrebige junge Frau,
tritt ans Rednerpult und wirft feierlich ihre Robe von
sich. Die Menge applaudiert. Hunderte Bürger, auch
ich bin darunter, wurden per Los ausgewählt, um diese
Rede zu hören, die live im Fernsehen und im Internet
übertragen wird. Es ist ein historischer Tag. An jenem
26. Oktober 2029 wird der Justiz der Prozess gemacht.
»Liebe Freunde, ich war die Erste, die Reue gezeigt
hat. Ich habe meinen Anwaltsausweis abgegeben, die
Robe abgelegt, um Verzeihung gebeten. Euch, die ihr
an die Institution Justiz geglaubt habt, euch, die man
zwar angehört hat, aber denen nicht zugehört wurde,
euch möchte ich noch einmal sagen: Die Justiz hat
Verrat begangen. Diese Justiz von früher, als Richter
und Staatsanwälte von den Mächtigen ernannt wur-
den, diese Justiz, in der die Unschuldsvermutung und
die Verjährung galten, diese Justiz hat versagt. Sie war
unfähig, die Schwächsten zu schützen, und hat sich in
Zugeständnissen und Eekthascherei verheddert. Wie
viele Verbrechen wurden ignoriert? Wie viele Geschä-
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digte mussten darunter leiden? Aufgrund unserer allzu
großen Nachgiebigkeit haben wir die Opfer dazu ver-
urteilt, lebenslang für die Täter zu büßen. Aber diese
Zeiten sind jetzt vorbei.«
Hinten im Saal ertönt Musik. Der Hauch einer Oboe
und der schmerzliche, seelenvolle Klang einer Geige.
Ich schließe die Augen. Immer schneller, immer lau-
ter schlägt ein Mann auf eine gespannte Tierhaut. Ich
meine, Pauken zu hören, mein Atem wird schneller,
ich bekomme Kopfschmerzen. Beim Dingdingding der
Zimbeln schalte ich ab. Ich erinnere mich an den Hass
bei Tag, die Rohheit bei Nacht, an Frauen mit Erin-
nyenügeln und an den bitteren Geschmack ihrer Ra-
che. Ich erinnere mich, dass ich wie gelähmt war. Sieben
Tage lang. Sieben Tage hat es gedauert.
Alles hatte damit begonnen, dass ein bekannter Inu-
encer mit einer Million Abonnenten namens Julian
Gomes seinen Onkel anzeigte. Er erzählte seinen Fol-
lowern, dass dieser Mann ihn als kleinen Jungen verge-
waltigt hatte und wie ein solches Geheimnis in seinem
Leben nachwirkte. Trotz des Medienechos, der Inter-
views, der Zeitungsartikel war das Verfahren eingestellt
worden: Die Tat war verjährt.
Julian Gomes postet eine Umfrage in seiner Commu-
nity. Soll er Selbstjustiz üben? Die Antwort lautet Ja,
zu 87 %. Am nächsten Morgen begibt er sich mit einer
GoPro zum Boulevard Arago 6 in Paris, erklimmt die
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sechs Etagen, die zwischen ihm und seinem Schicksal
liegen, klopft an die Tür seines Onkels und rammt ihm
ein Messer in den Hals. Julian richtet die Kamera auf
sich selbst und bricht in Tränen aus.
Nach seiner Verhaftung treen Supportnachrichten
aus aller Welt ein, die seine Freilassung fordern. Weil
die Regierung nicht reagiert, kommt es fast überall in
Frankreich zu Protesten. Fotos freigelassener Täter wer-
den hochgehalten, Gesichter von »Arschlöchern«, die
nie verurteilt wurden. Immer mehr Menschen teilen Er-
fahrungen: Alle klagen über den Justizapparat, bemän-
geln seine Behäbigkeit und Inezienz. Die Website des
Justizministeriums wird gehackt und in »Ministerium
der Scheinjustiz« umgetauft.
Eines Nachts wird der Pariser Justizpalast von ein paar
hundert Frauen gestürmt, sie sind Mitglieder eines Ver-
eins für Opfer häuslicher Gewalt; der Innenminister
ordnet eine Zwangsräumung an. Die Frauen weigern
sich, Folge zu leisten, und eine wird von einem Polizis-
ten niedergeknüppelt. Die Szene kommt ins Fernsehen
und heizt den Zorn der Demonstranten an. Hunderte
Jugendliche planen in den sozialen Medien gezielte An-
schläge. Sie wollen Julian GomesTat nachahmen, alle
zusammen, zur gleichen Zeit.
Der Hashtag »Revenge Week« Woche der Vergel-
tung – geht viral. Ein aufrührerisches Klima erfasst ganz
Frankreich. Opfer bestrafen Täter. Eine junge Ange-
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stellte aus Mulhouse stößt ihren Chef aus dem Fenster,
er hatte sie jahrelang belästigt. Ein Student aus Amiens
schubst seinen Nachbarn, einen ehemaligen Soldaten,
vor einen Zug, weil der seinen Hund misshandelt hatte.
Der Chef eines Konzerns, der eine Ölkatastrophe ver-
ursacht hatte, wird von militanten Umweltschützern
vergiftet. Gewalttätige Eltern, pädophile Priester, über-
grige Polizisten, alle »Schweine« auf freiem Fwer-
den nacheinander eliminiert. Die Verbrechen werden
gelmt, geteilt und von Hunderttausenden gelikt. In
Béziers geht ein alter Mann zur Polizei und zeigt sich
selbst an: Er hat seinerzeit als sportlicher Leiter eines
Fußballvereins Kinder begrapscht. Er weiß, dass seine
ehemaligen Schützlinge hinter ihm her sind, sie haben
sein Foto gepostet und wollen seine Adresse herauskrie-
gen. Er fürchtet um sein Leben und besteht darauf, in
Gewahrsam genommen zu werden. Die Polizisten bit-
ten ihn, später wiederzukommen, können nicht garan-
tieren, dass dann eine Zelle frei ist. Die Schockstarre ist
so groß, dass niemand – auch in meiner Einheit nicht –
es wagt, einen Finger zu rühren.
Der Staatspräsident der ebenfalls bedroht wird üch-
tet ins Fort de Brégançon und hinterlässt ein Macht-
vakuum.
Nach sieben Tagen Terror wird Julian Gomes freigelas-
sen.
Gabrielle Boca, die äußerst medienwirksame An-
wältin des Inuencers, gründet die Bewegung Bürger-
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transparenz, um denen zu helfen, die sich in der glei-
chen Lage benden wie ihr Mandant. Gemeinsam mit
anderen Reuigen aus Legislative und Exekutive schlägt
sie eine Amnestie für alle während der Revenge Week
begangenen Verbrechen vor, vorausgesetzt, die Gewalt
hört auf: »Es muss ein Ausnahmeverfahren eingeleitet
werden, um diejenigen zu verschonen, die in der Ver-
gangenheit nicht von der Justiz geschützt wurden. Die
einmaligen Rächer sollten angehört und erfasst werden,
denn in einer Demokratie sind und bleiben Racheakte
absolut inakzeptabel, dennoch schlage ich vor, dass wir
von Bestrafungen absehen. Wir sollten Nachsicht wal-
ten lassen mit diesen schuldig gewordenen Opfern, diesen
Rächern, die keine Gefahr für die Gesellschaft darstel-
len.«
Ihre Petition erhält in nicht einmal vierundzwanzig
Stunden drei Millionen Unterschriften. Angesichts
eines solchen Volksbegehrens geht Bürgertransparenz
noch weiter. Gabrielle Boca beruft online die »General-
stände« ein, damit die Bürger eine neue Regierungsform
entwerfen. Innerhalb von ein paar Monaten zerschlägt
die Bewegung Behörden und reduziert sie auf schlichte
Verwaltungsorgane. Gesetze werden nunmehr, genau
wie gerichtliche Entscheidungen, im Internet disku-
tiert und direkt vom Volk verabschiedet. Ministerielle
Unterlagen (außer die des Verteidigungsministeriums)
werden öentlich gemacht. Die als korrupt eingestufte
politische Klasse wird abgewählt.
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Als ich die Augen aufmache, ist die Rede zu Ende. Um
mich herum Erwachsene und Kinder mit den Farben
der Trikolore auf den Wangen. Viktor Jouanet, ein jun-
ger Architekt und aktives Mitglied der Bewegung, wird
von Gabrielle Boca nach vorn geholt. Er räuspert sich,
streicht sich mit einer Hand eine Haarsträhne aus der
Stirn. »Innerhalb weniger Monate haben wir eine Re-
volution angestoßen: Frankreich zu einer echten De-
mokratie machen, die Macht an das Volk zurückgeben.
Dennoch, wenn die Transparenz von Dauer sein soll,
muss sie vor allem für uns selbst gelten. Vergewaltigun-
gen, Misshandlungen, Missbrauch, Überfälle, sämtliche
gegen Menschen oder Tiere gerichteten Gewalttaten
haben eins gemeinsam: Sie geschehen hinter verschlos-
senen Türen, hinter Mauern, in den Schlafzimmern der
Häuser, den Aufzügen der Unternehmen. Geschlossene
Räume sind gefährlich. Mauern sind bedrohlich. Wir
alle sollten, und zwar zum Wohle aller, auf einen Teil
unserer Privatsphäre verzichten; der soziale Frieden
hängt davon ab.«
An jenem Tag besiegelt der Architekt mit der Zustim-
mung der Bürger neue Normen für den Städtebau. Im
19. Jahrhundert hatte Baron Haussmann zugunsten von
mehr Hygiene und Sicherheit das Stadtbild von Paris
verändert. Viktor Jouanets Umbauten streben nun eine
»moralische Sanierung« und eine »Sicherheitsoptimie-
rung« an. Die neuen Gebäude sind transparent. Kult-
stätten und denkmalgeschützte Objekte werden, sofern
möglich, renoviert: Steinmauern durch Glasscheiben er-
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setzt. Wohnungen, Schulen, Gefängnisse, Krankenhäu-
ser, Geschäfte werden abgerissen, stattdessen baut man
Vivarien, in denen jeder zum Garanten für die Sicher-
heit und das Glück seiner Nachbarn wird.
»Was haben wir eigentlich zu verbergen? Wenn wir uns
nichts vorzuwerfen haben, können wir doch genauso
gut alles zeigen, oder?«
Die Menge applaudiert und stimmt die Marseillaise an.

Prix Renaudot des lycéens

Lilia Hassaine
Tödliche Transparenz

Roman

Aus dem Französischen von Anne Thomas


Softcover
ISBN 978-3-03925-047-9
Seiten 249
Erschienen 2. September 2025
€ 26.00 / Fr. 28.00

Wenn die Utopie zur Hölle wird.
— France Info

Frankreich im Jahr 2049. Der Fall Royer-Dumas bedeutet eine harte Bewährungsprobe für die ehemalige Polizistin Hélène und ihren Kollegen Nico: Der Schüler Milo und seine Eltern sind spurlos verschwunden. Ein unvorstellbares Ereignis in einer harmonischen Gesellschaft, die sich der absoluten Transparenz verschrieben hat.
Zwanzig Jahre zuvor hatte ein Mehrheitsbeschluss in den sozialen Medien zu einer Revolution geführt. Städte wurden umgebaut, alle Hausmauern durch Glas ersetzt. Konsequent geschaffene Transparenz sollte Sicherheit und Schutz für alle garantieren und sämtliche Arten von Verbrechen und häuslicher Gewalt verhindern. Die gemeinsam gelebte soziale Kontrolle verfolgte das Ziel, für Glück und Wohlbefinden zu sorgen.
Hélène und Nico lassen sich in ihren intensiven Bemühungen um Aufklärung des mysteriösen Verschwindens nicht beirren. Ihre Ermittlungen in Milos Schule und der wohlhabenden Nachbarschaft der Familie führen in die Abgründe der Beziehungswelt der Menschen. Die Brüchigkeit des brutalen gläsernen Paradieses wird entlarvt.


Pressestimmen

Dieser faszinierende und intelligente Roman wirft einen kompromisslosen Blick auf unsere Fehler und Exzesse. Eiskalt und genial.
— Le Parisien
Ein exzellenter Zukunftsthriller, sanft wie eine Fabel und messerscharf wie ein Pamphlet.
— L’Obs
Lilia Hassaine findet für ihre Dystopie einen passgenauen, nüchternen Ton, der glaubwürdig zwischen heutiger Gewissheit und erahnter Zukunft operiert. Die Geschichte hat durchgehend Zug.
— Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Lilia Hassaine zeigt eindrücklich, wie angebliche Transparenz zu umfassender sozialer Kontrolle führt, die Druck auf die Menschen ausübt, zu diktatorischen Tendenzen, die in Gewalt, indirekter wie direkter, münden. Das ist nicht einfach Science-Fiction-Phantasie, sondern eine Reflexion aktueller Trends.
— Hanspeter Eggenberger, krimikritik.com
»Tödliche Transparenz« – mit dem schönen französischen Originaltitel »Panorama« – gehört zu der Kategorie Must read und ist auf jeden Fall als einer der diesjährigen Krimi-Höhepunkte einzustufen. … »T­ödliche Transparenz« ist tödlich erfrischend.
— Wolfgang Brylla, CrimeMag
»Tödliche Transparenz« erinnert an die Nachkriegs-Dystopien von George Orwell und Ray Bradbury und wandelt sie ins Optimistische ab.
— Tobias Gohlis
Gekonnt inszeniert Lilia Hassaine das Szenario ihres Buchs auf dem Grat zwischen dem, was wir heute schon tun, und dem, was noch passieren könnte.
— Sonja Hartl, Deutschlandfunk Kultur
Der Reiz des Romans liegt in der Vision eines solcherart zur Schau gestellten Lebens und in den Reflexionen, mit denen Hassaine ihre Idee hinterlegt. Da sind etwa die Rückbindungen an heutige Entwicklungen, bei denen Hassaine aufs Digitale zurückgreift.
— Angela Schader, Perlentaucher
Lilia Hassaine beschreibt ein Leben auf einem Präsentierteller und ohne Privatsphäre. Eine Welt des unerbittlichen Moralismus … Eine Welt, die zwar weitgehend ohne Gewalt ist, trotzdem mit neuen Formen des Stalkings, denn jeder kann jeden beobachten, stundenlang.
— Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau

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