LENOS
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Lenos Verlag
Annemarie
Schwarzenbach
Tod in Persien
Mit ausgewählten Fotografien
Herausgegeben und mit einem Essay
von Roger Perret
Erweiterte Neuausgabe
Erste Auflage 2023
Copyright © 1995/2023 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 022 6
www.lenos.ch
Ausgewählte Werke von Annemarie Schwarzenbach
Band 5
Herausgegeben von Roger Perret
Roger Perret, geboren 1950 in Zürich. Studium der Philosophie, Literatur-
kritik und Komparatistik in Zürich. Er befasst sich publizistisch vor allem
mit Aussenseiterfiguren in der Schweizer Literatur. Herausgeber der Werke
von Franco Beltrametti, Nicolas Bouvier, Alexander Xaver Gwerder, Anne-
marie von Matt, Hans Morgenthaler, Annemarie Schwarzenbach und Sonja
Sekula. Herausgeber (mit Ingo Starz) des Hörbuchs Wenn ich Schweiz sage
Schweizer Lyrik im Originalton von 1937 bis heute und von Moderne Poesie in der
Schweiz. Eine Anthologie. Roger Perret wurde für seine editorische Tätigkeit
mehrmals ausgezeichnet.
MIX
Papier
FSC
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C083411
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Tod in Persien
Barbara Hamilton-Wright vor dem Automobil von Annemarie Schwarzenbach auf der
Fahrt von Isfahan nach Schiras, 1935
Inhalt
1. Teil
Vorbemerkung 13
In Teheran 17
Aufstieg in das glückliche Tal 23
Die weissen Zelte unseres Lagers 27
Erinnerung an Moskau 29
Ende der Welt – 35
– und ein Mensch am Ende seiner Kraft 41
Der Engel (für Cathalene Crane) 45
Erinnerung: Persepolis 51
Nächte in Rhages oder der Anfang der Furcht 63
Dreimal in Persien … 69
Beginn des Schweigens 75
Ausgewählte Fotografien Persien 1933–1935
2. Teil: Der Versuch einer Liebe
Die Anklage 163
Jalé 167
Gespräch über das Glück 169
Man wird uns in den Arm fallen 171
Ein Gartenfest 175
Whisky, Fieber und singende Arbeiter 181
Kampf gegen die Furcht 185
Der Abschied 189
Der Engel und Jalés Tod (für Cathalene Crane) 193
… Nicht mehr viel Zeit 201
Anhang
Essay von Roger Perret 211
Bildnachweis 235
Zur Edition 237
1. Teil
13
Vorbemerkung
Dieses Buch wird dem Leser wenig Freude bereiten. Es wird
ihn nicht einmal trösten und aufrichten, wie traurige Bü-
cher es sehr oft vermögen, denn es ist eine verbreitete An-
sicht, dass Leiden eine moralische Kraft besitzen, wenn sie
nur auf rechte Weise ertragen werden. Ich habe gehört, dass
selbst der Tod erhebend sein kann, aber ich gebe zu, dass
ich daran nicht glaube: denn wie soll man sich über seine
Bitterkeit hinwegsetzen? Er ist eine zu unverständliche, zu
unmenschliche Gewalt …, und er verliert sie nur, wenn man
ihn erwartet als den einzigen uns zugestandenen und unwi-
derruflichen Weg aus unseren Irrwegen.
Ja, um Irrwege handelt es sich in diesem Buch, und
sein Thema ist die Hoffnungslosigkeit. Und wenn ein
Schriftsteller auch keine andere Absicht kennt, als die
Teilnahme seiner Leser zu erwecken, so ist doch eben diese
Absicht hier gar nicht erreichbar: denn wir können auf
Mitleid und Verständnis nur hoffen, wenn unsere Miss-
erfolge erklärlich, unsere Niederlagen mutig erkämpft und
unser Leiden die unvermeidliche Folge solch vernünftiger
Ursachen sind. Wenn wir schon zuweilen grundlos glück-
lich sind, so dürfen wir doch keinesfalls auf die gleiche
Weise unglücklich sein. Und in einer strengen Zeit wie
der heutigen muss es jedem leichtfallen, sich den richtigen
Feind und das Schicksal zu wählen, welches seinen Kräften
gebührt.
Der Held dieses kleinen Buches ist aber sowenig ein
Held, dass er seinen Feind nicht einmal benennen kann, und
er ist so schwach, dass er den Kampf aufgibt, scheinbar be-
vor seine ruhmlose Niederlage besiegelt ist.
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Aber das ist noch nicht das Schlimmste: Viel weniger
wird es der Leser verzeihen, dass nirgends deutlich ausge-
sprochen wird, warum ein Mensch sich bis nach Persien, in
ein fernes und exotisches Land, treiben lässt, nur um dort
namenlosen Anfechtungen zu erliegen. Wohl ist mehr als
einmal von Umwegen, Auswegen und Irrwegen die Rede,
und wer heute in einem europäischen Land lebt, weiss, wie
viele Menschen der ungeheuren Spannung nicht gewach-
sen sind einer Spannung, die vom persönlichen Konflikt
zwischen Ruhebedürfnis und Entscheidung, von der einfa-
chen und übermächtigen materiellen Not bis zu den allge-
meinsten und dennoch brennendsten Fragen der Politik, der
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zukunft reicht
und keinen billig entlässt. Wenn junge Menschen trotzdem
billig zu entkommen versuchen mögen sie ihre Flucht
auch noch so gewissenhaft auslegen –, so tragen sie doch das
Kainsmal des Bruderverrats an der Stirn.
So ungefähr steht es um das Mädchen, von dem diese
Aufzeichnungen stammen. Es wurde mir klar, als ich das
Manuskript fertig in den Händen hielt, dass ich eine deut-
liche, uns allen zugängliche Vorgeschichte konstruieren
müsste: Nur so würde ich den Leser befriedigen und dem
Verleger ein brauchbares Buch anbieten können. Aber ge-
rade das konnte ich nicht tun, ohne das eigentliche Thema
zu verfälschen es wäre eine unerlaubte Konzession an un-
sere geistigen und moralischen Bedürfnisse gewesen.
Denn die Hoffnungslosigkeit, die schreckliche Ver-
geblichkeit jeder Auflehnung, die hier niedergeschrieben
wurde, hat mit dem Kainsmal der Flucht, die am Anfang
stehen mag, nichts mehr gemein. Nein, hier gelten unsere
Massstäbe und Erklärungen nicht mehr, hier ist einfach ein
Mensch mit seiner Kraft am Ende …
15
Ganz nahe grenzt das Unmenschliche an das Über-
menschliche – und Asiens desperate Grösse ist übermensch-
lich: »Nicht einmal feindlich, nur zu gross.« Was bedeu-
tet es dort, wenn ein Mensch stirbt? Und wir kennen doch
keinen hilfloseren Aufschrei als dieses »Ein Mensch stirbt!«.
Nein, keine Verfälschung soll mich entlasten und euch er-
leichtern: Die Gefahr ist nicht greifbar, die Furcht namen-
los das erst macht sie schrecklich –, und es gibt Wege, von
deren Schrecklichkeit keine Rückkehr mehr möglich ist.
Warum sonst sterben?
Uns ist der Tod nicht natürlich, er erfüllt uns mit Rat-
losigkeit. Aber die Asiaten haben ihn in ihre Religionen
einbezogen als das Nichts, als das wahre Sein, als die wahre
Kraft. Sie erwarten ihn ohne Spannung; unser Leben hin-
gegen ist nicht vorstellbar ohne die Spannung, die sein ei-
gentliches Element ist. Entrissen seiner Sphäre, entrissen
unseren vertrauten Tröstungen atmendem Antlitz, schla-
gendem Herzen, lieblich wechselvoller Landschaft –, muss
man sich endlich preisgeben den grossen Höhenwinden, die
auch unsere letzten Hoffnungen in Fetzen reissen. Wohin
sich wenden? Ringsum nur Kahlheit, basaltgraue Felsränge,
lepragelbe Wüsten, tote Mondtäler, Kreidebäche und Sil-
berströme, in denen verendete Fische abwärts treiben. Wo-
hin? Oh Ratlosigkeit, gelähmter Flügel der Seele! Da dringt
nicht einmal der Ablauf von Tag und Nacht in unser Be-
wusstsein, obwohl der Tag glanzvoll ist und schattenlos,
und die Nacht erleuchtet von kalten Gestirnen.
Man mag sich manchmal noch an Schmerzen klammern,
an bitteres Heimweh und bittere Reue, aber man kennt ja
die eigene Schuld nicht mehr; vergeblich besinnt man sich
auf den Anfang (»Wer hat mich bis hier herauf geführt?«).
Noch einmal anklagen dürfen, noch einmal an einen ande-
16
ren Menschen sich wenden, noch einmal lieben! Man stürzt
sich in die meerweite, meergleiche Täuschung, man glaubt
und betet, und vergisst, wenn man in das geliebte Antlitz
schaut, die dunkle Furcht. Aber was vermag man gegen sie?
Ach, noch einmal ohne ihre Beklemmung erwachen, ein-
mal nicht allein und ihr preisgegeben sein! Den glücklichen
Atem der Welt spüren!
Ach, noch einmal leben!
17
In Teheran
In Teheran war die Hitze so gross, dass sie in den Mauern
zu brüten schien wie in runden Backöfen und am Abend
daraus hervordrang und die engen Gassen und die neuen,
breiten, schattenlosen Strassen füllte, ohne dass ein Luft-
hauch von aussen ein wenig Nachtkühle hereintrug. In den
Gärten von Schimran blieb es kühler. Verliess man sie, so
wurde man von einem weissen und zitternden Licht gleich-
sam überfallen, die Gebirgswand des Tauschal erhob sich in
hellgrauer Durchsichtigkeit, denn wie Schleier lag davor die
Hitze, verschleiert war auch der viel zu weisse Himmel, und
in weissen Dunst gehüllt die Ebene. Sie war vor einem Mo-
nat noch hellgrün, gelb und erdbraun gewesen, von Wiesen,
Getreideäckern und gepflügten Feldern. Jetzt war sie bare
Wüste, und hinter Teheran, wo die Ruinen der alten Stadt
Rhages liegen, ein auf- und niederwallendes Staubmeer.
Dort, auf der Strasse nach Ghom, zogen des Nachts noch
immer glockenschlagend die Kamelkarawanen …
Ghom ist eine heilige Stadt. Fährt man von Teheran nach
Isfahan, so sieht man von der Strasse aus, über einem brei-
ten Wasser, ihre goldene Moschee, aber man macht einen
Umweg um die Stadt und kann ihre Basare und Höfe nicht
betreten. Eine andere Goldkuppel findet sich in Schah-
Abdul-Azim, dem Oasendorf neben den Ruinen und die
goldenste und heiligste ist die der Stadt Mesched, weit im
Nordosten, an der uralten Strasse von Samarkand.
Als vor einigen Wochen der Schah das Tragen der – nach
ihm selbst benannten Kula Pahlewi verbot und an deren
Stelle das Tragen europäischer Hüte empfahl, den Frauen aber
erlaubte, den Tschador abzulegen und unverschleiert sogar
18
auf der Strasse zu erscheinen, da hörte man da und dort von
Unruhen, besonders in den heiligen Städten. Die Kula war
zwar eine äusserst unscheinbare, ja hässliche Schirmmütze
gewesen, die ihren Trägern das Aussehen von Missetätern
und Strolchen gab – aber man hatte, immerhin, den Schirm
in den Nacken drehen und so beim Verrichten des Gebets
vorschriftsmässig den Boden mit der Stirn berühren können,
ohne das Haupt zu entblössen. Das war mit einem europäi-
schen Filz, einem Strohhütchen, einer Melone schlechthin
unmöglich – und deshalb glaubten die Mullahs ihre Stunde
gekommen und predigten in heimlichen Versammlungen
und in den Moscheehöfen in aller Öffentlichkeit.
Man las in den Zeitungen, mit welchem Jubel die Be-
völkerung die zivilisatorische Neuerung begrüsst habe, und
Minister und Provinzgouverneure gaben Diners, bei denen
die geladenen Gattinnen ohne Tschador erscheinen mussten:
Am Eingang drängte sich die Menge, um das Schauspiel der
ankommenden Droschken zu sehen, denen die tief beschäm-
ten und verwirrten Damen entstiegen. Während der Mahl-
zeit entfernten die Diener draussen in der Kleiderablage die
Kulas der Eingeladenen, die dann um nicht barhäuptig
nach Hause zu gehen beim Verlassen des gastlichen Da-
ches einen der bereitliegenden Faranghihüte erstanden. Das
war eine musterhafte, geradezu westliche Organisation!
Nicht anders hatte Peter der Grosse den Bojaren die asiati-
schen Bärte abgenommen! Diese Bärte haben sich in Persien
länger gehalten dafür dürfen die Diplomaten Irans fortan
einen Zweispitz tragen, den der fortschrittstaumelnde We-
sten wiederum erst seit der Französischen Revolution und
gleichzeitig mit den Menschenrechten eingeführt hat: man
sehe hieraus, was mehr Lebensdauer besitzt. In Ungarn müs-
sen die Magyaren, um im Parlament sitzen zu dürfen und
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ihren Patriotismus zu beweisen, lange Schnurrbärte wachsen
lassen und die Enden gehörig wichsen, damit sie kühn auf-
gezwirbelt verharren. Aber wo sollte der Schah ein Vorbild
zur Einführung der guten alten Menschenrechte finden?
Wegen der Kula Pahlewi musste der Basar von Teheran
während drei Tagen geschlossen bleiben. Wurde in Mesched
wirklich die heilige Moschee beschossen? Man hört, dass die
Soldaten sich weigerten, auf ihre Glaubensgenossen und auf
das Heiligtum zu schiessen, und dass man sie durch Arme-
nier und Israeliten ersetzte. Man nennt die Zahlen der Ge-
töteten.
Es waren die heissesten Tage des persischen Sommers.
Einige Gärten in Schimran, von allzu hohen Mauern um-
schlossen, von allzu dichtem Grün erfüllt, wurden dumpf
und heiss wie Treibhäuser. Moskitos schwärmten über fau-
lenden Teichen. Ich bekam zum zweiten Mal Malariafieber.
Des Nachts kühlte die Luft draussen ein wenig ab, aber
das Fieber stieg. Als ich den Garten zum ersten Mal wie-
der verliess, war die Umgebung von Teheran verbrannt. In
dem einförmigen Lepra-Gelb lagen die Gärten wie dunkle
Inseln. Vor mir auf dem Feldweg ging ein junger Offizier,
die Schuhe und Gamaschen weiss von Staub. Er trug eine
Handtasche und eine Schachtel mit seinem Helm. Ich hielt
an und liess ihn einsteigen. Er lächelte, der Schweiss rann
über sein verbranntes Gesicht. Wir fuhren zwischen den ver-
dorrten Feldern, über denen die Luft zitterte, und durch den
kleinen Basar von Dezaschub, der stockfinster schien wie
helle Flecke darin die Gesichter der Händler, die Kinder, die
weissen Frauentücher. Der Platz von Tädschrisch war gross
und leer, bis auf die Droschken mit ihren mageren weissen
Pferden, die betäubt unter der Sonne standen. Ich sah den
Offizier über den leeren Platz, durch das flimmernde, von
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Staub gesättigte Licht davongehen. Am anderen Ende des
Platzes sah ich einen Gendarmen auftauchen und mit dem
Arm ein Zeichen machen, welches offenbar mir galt. Aber
sicher erwartete er nicht, dass ich darauf eingehen würde:
Bei dieser Hitze hatte jeder gerade genug mit sich selbst zu
tun …
Dann durch das grosse Tor in einen Garten einbiegen.
Dunkelheit und Schatten schlagen wie Wellen über mir zu-
sammen. Geruch von Kühle, Erde, Laub, eine Allee und die
Baumwurzel, die in den Weg vorspringt und den Wagen
zur Seite schleudert, wenn man zu schnell in die Kurve fah-
ren will. Im dritten Gang bis vor das Haus hinauf! Ich lasse
den Wagen im Schatten stehen, steige aus, laufe über die
weisse Terrasse, an den Doppeltüren aus feinem Moskito-
draht vorüber. Aus dem Wohnzimmer hört man Klavier.
Zadikka übt also noch, denke ich, hier ist alles beim alten –
und atme auf, nach dem namenlosen Schrecken der Fahrt
durch das offene, von der Sonne bis zum Sterben ermattete
und verwandelte Land.
Zadikka ist dreizehn Jahre alt. Sie ist eines der schönsten
Geschöpfe dieser Welt. Ein Band, wie ein Reif um die Stirn,
hält ihr dunkles Haar zurück: zugleich altmodische Klein-
mädchen-Frisur und Nubierköpfchen. Grosse, sanfte, gold-
farbige Tieraugen in einem zartbraunen Gesicht. Der An-
satz der Nase ist breit, es ist, als atme Zadikka immer mit
geöffneten Nüstern. Sie schnuppert begierig, und zärtlich,
schmeichelnd, kindlich-entzückt ist ihre Stimme. Wie die
Köpfchen von Echnatons vollendet anmutigen Töchtern, so
hat auch Zadikka einen blütenhaft geöffneten, leicht vor-
geschobenen Mund, ein Kinn voll kindlich-trotziger Ent-
schlossenheit, einen sehr dünnen Hals, einen wie in leich-
tem Stolz und leichtem Kummer gebogenen Nacken. Sie ist
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kindlicher als ihre Jahre, doch weit über ihre Jahre hinaus
ernst, aufmerksam, verschlossen und zärtlich. Man betrach-
tet sie immer aufs neue mit Hingerissenheit.
Zadikkas älteste Schwester liegt neben mir unter einem
grossen Baum. Man hat uns Kissen und eiskaltes Wasser in
beschlagenen Gläsern gebracht.
»Ich gehe fort«, sage ich.
»Zu deinen englischen Freunden?«
»Ja. In ihr Lager im Lahr-Tal.«
»Wann?«
»Morgen.«
Wir schweigen eine Weile. Man hörte Rufe vom Tennis-
platz her, und das trockene Aufschlagen der Bälle.
»Wenn du dort oben wieder Fieber bekommst?«
Ich sah sie an. Sie hatte die Ellbogen aufgestützt, und ihr
Haar fiel wie eine Fahne über ihr Gesicht. Sie war schön, aber
sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer kleinen Halbschwe-
ster. Ich dachte daran, dass sie tscherkessisches und arabisches
Blut hatte. Ich betrachtete ihr viel zu blasses, von Schwäche
gezeichnetes Gesicht und den fiebrigen Glanz der Augen.
»Und du?« fragte ich.
»Ich mess mich nicht mehr«, sagte sie, »ich habe doch
immer Temperatur. Aber bei mir ist es etwas anderes. Bei
mir lässt sich nichts dagegen machen.«
»Das Klima ist schlecht für dich«, sagte ich.
Sie zuckte die Achseln. »Für uns alle«, sagte sie, »aber
siehst du, ich kann doch nicht ins Lahr-Tal hinaufsteigen!
Ich würde nicht einmal die Reise überstehen.«
»Sollte man es nicht wenigstens versuchen?«
Sie fuhr mit der Hand leicht über meinen Mund. »Lass
das«, sagte sie, »du wirst dich dort oben wunderbar fühlen!«
23
Aufstieg in das glückliche Tal
In Abala warteten die Maultiere. Es war acht Uhr vormit-
tags, die Sonne glitt über den Pass hinunter, uns entgegen.
Hinter uns lag die Strasse, die durch die dumpfe Wüsten-
Ebene von Teheran läuft, dann das erstarrte Hügelmeer
hinan und auf und ab durch seine gelben Dünen bis zur
Passhöhe, von wo sie sich jäh in erschreckenden Kurven
fallen lässt in den Kessel von Rudahänd. Zwei Stunden im
Auto, aber nun war alles weit entfernt, nun verschwand al-
les – vor uns ein neuer Tag!
Unser Weg führte zuerst durch ein Tal, das zwischen
Hügeln eng eingebettet lag: Das Grün seiner Bachufer hatte
nicht genug Raum und quoll wie über die Ränder eines
Korbs, bis es mit den Feldern der Abhänge zusammentraf.
Es gab einen Hain von Nussbäumen, bald darauf Reben.
Dann begann der Pass. Ich sah Claude vorausgehen,
den Tropenhelm in den Nacken geschoben. Die Maultiere
griffen mit ihren kleinen Hufen geduldig in das Geröll.
Der Pass führte hoch hinauf, oben gab es Wind und ra-
sche Wolken, und über der weit entfernten Ebene lösten
sich die Wolken auf, und man sah nichts als das Meer von
Himmel und armer Erde, die sich erstickten Atems um-
armten. Wir wandten uns um: Da lag, jenseits einer Tal-
furche, einer jener ausserordentlichen Gebirgszüge, die aus
Sand und nur aus Sand sich aufbauen, steile, breite, ständig
rieselnde Halden, die an Schneehalden erinnern: jeden Au-
genblick könnte ein Brett sich lösen und zu Tal fahren, oder
das unheimliche Rieseln sich zur Lawine verdichten. Aber
den Sand krönt ein Felsenrang, silbern und unbeweglich im
blauen Himmel.
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Wir stiegen von der Passhöhe hinab, in das Tal, welches
fast ein Abgrund war zwischen zwei Gebirgen. Unten gab
es nichts, es war ein totes Tal, weit entfernt von der Welt,
weit entfernt von Pflanzen und Bäumen nur Stein statt
dessen, und Glut, die sich darin festsog mit tausend Füssen.
Graue Vipern, graue Eidechsen, leblos und zart aufgerollt,
nur ihre Augen lebten: schwarze Nadelköpfchen, und ein
Zünglein …
Auch in den toten Mondtälern gibt es wohl da oder dort
eine Quelle. Was wir fanden, war eine kreisrunde Grube,
darin ein flacher Wasserspiegel, winzig bewegt wie von ei-
nes Vogels Herzschlag durch den dünnen Wasserstrahl im
Sand.
Wir tranken, auf die Hände gestützt. Neben uns standen
im Halbschlaf die Maultiere, und auf der steinigen Halde
warteten Schafe, im Kreis, alle Köpfe nach innen gedreht
und gesenkt, ihren eigenen Schatten suchend. Sie warteten
auf das Ende des Tages.
Wie im Schlaf begannen wir den Aufstieg zum zweiten
Pass. Jetzt sangen nicht einmal mehr die Treiber, obwohl ihr
Gesang dem schlafsüchtigen Schritt der Maultierkarawanen
im mittäglichen Bergwind erstaunlich gleicht.
Wir sind hoch über der Baumgrenze. Über uns Felsen,
die sich in den Himmel stürzen wie Uferfelsen ins Meer.
Und plötzlich sehen wir dort Kamele, Fabeltieren ähnlich,
mit gereckten Hälsen sonderbar parallel den schmalen Gras-
bändern entlang schreiten. Sie raufen Gras im Takt und he-
ben die Langhälse wieder im Takt. Sie bleiben stehen und
sind so gross und drohend über uns, dass wir fürchten, sie
würden alsbald plump durch den Himmel auf uns niederfal-
len. Statt dessen traben sie abwärts, mit schwankenden Hök-
kern, schlenkernden Beinen, und genau auf der Passhöhe
25
begegnen wir uns. Da taucht hinter ihnen, ein Zauberbild,
der Kegel des Demawend auf.
Nun gehen wir immer dem Demawend entgegen. Der
Pass senkt sich sanft, führt durch eine Steinschlucht und
läuft hinaus in den breiten Talgrund. Um ihn zu durchque-
ren, brauchen wir eine Stunde; der Demawend an seinem
Ende wird nicht kleiner, er ist wie der Mond, ein glatter
Kegel, von wo aus man ihn auch betrachtet. Im Winter ist
er weiss: von überirdischer Wolken-Weisse. Jetzt, im Juli,
ist er gestreift wie ein Zebra. Man erkennt oben den leich-
ten Schwall von Schwefeldämpfen, die dem uralten Krater
des Bikni-Berges entsteigen. Die Assyrer nannten ihn so,
als sie aufschrieben, dass das neue Volk der »Fernen Meder«
sich bis zu seinem Fuss ausbreite aber sie wussten nichts
davon, dass er ein Feuerspeier war. Seit dreitausend Jahren
schon ist er erloschen! Seit Menschengedenken!
Dieses weite Becken ist noch nicht das Lahr-Tal. Viele
Täler, solche mit Namen, andere namenlos, münden mit ih-
ren schaumigen Bächen hier ein rückwärts verlieren sie
sich in blauen Gebirgszügen. Im Grasgrund, den wir durch-
queren, lagern Nomaden. Ihre schwarzen Zelte aus Ziegen-
haar sind die gleichen wie in den Wüsten Mesopotamiens,
im Kurdengebirge, im fruchtbaren Syrien, in Palästina; ich
sehe den Weg vor mir, den ich gemacht habe: durch die
alten Länder Vorderasiens An seinem Ende dieser Tal-
grund! Verbrannt, gelb! Die schwarzen Ziegen und gelben
Fettschwänze ziehen darüber hinweg, eine flockige Masse,
und das Geräusch ihrer tausend trippelnden Füsse hört sich
an wie Windrauschen. Anders ist das Rascheln der abertau-
send Heuschrecken man geht über die trockenen Halme,
ihre pergamentenen Flügel und Leiber, über Lebendiges,
was an eine rasch um sich greifende Feuersbrunst erinnert.
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Mein Maultier strauchelt und fällt. Der Pustin gleitet
über den Hals hinunter, ich springe auf die Füsse. Habe ich
geschlafen? Fluchen der Treiber. Wir gehen …
Acht Stunden sind vorbei, als wir den Rand des Kessels
und einen Engpass erreichen, ein Tor zwischen Felstürmen.
Hinter der Wegbiegung, im Tal, stehen die weissen Zelte.

Annemarie Schwarzenbach
Tod in Persien

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Roger Perret


Klappenbroschur (Erweiterte Neuausgabe mit Fotos) (mit 80 Fotos)
ISBN 978-3-03925-022-6
Seiten 238
Erschienen 16. Januar 2023
€ 28.70 / Fr. 33.00

Reisebericht, Erzählung und Tagebuch über eine lesbische Liebe

Kein anderes Land übte auf Annemarie Schwarzenbach einen solchen Sog aus wie Persien. Es ist die Chiffre für ihr Leben und Schreiben. Schicksalhaft trieb es sie immer wieder in dieses »ferne und exotische Land«, so auch Mitte der 1930er Jahre, als der vorliegende Text entstand. Der Grundkonflikt der Autorin zwischen gesellschaftlichem Engagement und privater Glückssuche kommt in Persiens »übermenschlicher« Grösse und Fremdheit zum Ausdruck. So sind die ungemein dichten Landschaftsbeschreibungen oft von der quälenden Selbstentfremdung der Erzählerin durchdrungen, und die düstere Szenerie verdunkelt auch die menschlichen Beziehungen.

Die Aufzeichnungen über den »Versuch« einer lesbischen Liebe sind Tagebuch, Erzählung und Reisebericht zugleich. Tod in Persien ist Autobiographie und Fiktion, bekennt und verschweigt vieles. Es ist das Zeugnis einer Begegnung mit dem Fremden, unfassbar und abgründig.

»Ich habe auf alle Arten in Persien zu leben versucht, es ist mir nicht gelungen.« (Annemarie Schwarzenbach)

Pressestimmen

In diesem Tagebuch lässt Annemarie Schwarzenbach noch einmal tief in ihr Inneres blicken, zeigt ihre Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und ihre Ängste, denen sie zeitlebens nie entrinnen konnte.
— Annabelle
Entgegen ihrer Behauptung, es handele sich um einen »unpersönlichen« Text, lässt die Autorin den Blick mehr und mehr vom Äusseren ins Innere schweifen, von der Bläue des Persischen Golfs ins Schattenreich der empfindlichen Seele.
— Neue Zürcher Zeitung
Gäbe es das Genre des Fieber-Romans, müsste man sich nicht überlegen, ob es sich um ein Tagebuch, eine Reportage oder ein Märchen handelt. In dieser trockenen Hitze, dem Hin- und Herpendeln zwischen Überreiztheit und Gleichgültigkeit, den Lücken und Leerstellen, in seiner flackernden, bisweilen surrealen Bildlichkeit ähnelt der Text dem Fieber so sehr, dass man sagen könnte, er fieberte mit dem Körper der Ich-Erzählerin.
— Frankfurter Rundschau