LENOS
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LP 208
www.lenos.ch
Guido Bachmann
Sommerweide
Roman
Lenos Verlag
Der Autor
Guido Bachmann, geboren 1940 in Luzern, studierte Musikgeschichte
und Theaterwissenschaft in Bern. Lebte bis zu seinem Tod 2003 als
freier Schriftsteller und Schauspieler in St. Gallen.
Sein literarisches Werk, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde, u. a.
1990 mit dem Basler Literaturpreis und 1998 mit dem Buchpreis der
Stadt Bern, umfasst Romane und Novellen, die alle im Lenos Verlag
erschienen sind, darunter Gilgamesch, Der Basilisk, Dionysos und Die
Wirklichkeitsmaschine sowie die autobiographischen Werke lebenslänglich
und bedingt entlassen.
Für seinen Roman Sommerweide wurde Guido Bachmann 2003 der
Buchpreis des Kantons Bern zugesprochen.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Struktur
-
beitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
LP 208
Erste Auflage 2019
Für die Taschenbuchausgabe durchgesehen
Copyright © 2002 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag Basel
Umschlag: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: skeeze/Pixabay
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 808 4
Für Urs und Armando
Erster Teil
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In der psychiatrischen Klinik Sommerweide, umgeben
von Wiesen und Wäldern, erinnerte sich Matthias, an ei
-
nem Papierkorb aus Peddigrohr flechtend, wieder jenes
Tages, als er, von Ostende aus, an Bord der Leopold III. ge
-
gangen war, um mit diesem schäbigen Schiff Dover anzu-
laufen; aber wann diese Reise genau stattgefunden hatte,
vermochte Matthias nicht zu sagen. Auch seine Psychia
-
terin konnte die kurze Zeit, zwölf Tage, die zwischen der
Ankunft ihres Patienten Matthias Sichelmann in England
und seiner Festnahme in der Westminster Abbey lagen,
nicht rekonstruieren; denn Matthias behauptete immerzu,
nach dem überstürzten Verlassen des Hotels Swiss Cottage,
4 Adamson Rd, London NW3, für unermesslich lange
Zeit Schleusenwärter der Schleuse Gaswerk Ost gewesen
zu sein, und ausserdem habe er damals mit gentechnischen
Manipulationen in Megalopolis, nicht etwa London, son
-
dern, wohlverstanden, in Megalopolis, die weltberühmte
Blutwegschleckschnecke eigens für des Erzbischofs fürch
-
terlichen Rivalen, nämlich für den Staatspräsidenten
höchstselbst, gezüchtet.
Es war ihm also möglich, seine Reise nach Dover auch
heute, am frühen Vorabend des Johannistages, an dem
nach Einbruch der Dämmerung mancherorts Johannis
-
feuer entzündet werden, über deren Flammen Jugendli-
che, abergläubisch genug, zu welchem Zweck auch immer,
ihre Sprünge setzen, heraufzubeschwören. Sein Reisetag,
damals, zu Olims Zeiten, wie er sich ausdrückte, war eben
-
falls auf den Vortag des Johannisfestes gefallen; genauer:
Er hatte in Great Mongeham das viktorianische Haus sei
-
ner Mutter am frühen Abend erreicht. Auch in ihrem Gar-
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ten war ein Holzstapel, wenngleich ein viel grösserer als
im Park der Klinik Sommerweide, aufgeschichtet worden.
Sibylle Springer hatte angeordnet, es müsse abends ein
kleines, für die Anwesenden ungefährliches Feuer entzün
-
det werden, weil sie sich, besonders was Matthias betraf,
etwas davon versprach; denn Matthias erwähnte das Johan
-
nisfeuer im Garten seiner Mutter während jedes Gesprä-
ches mit Sibylle.
So hatte denn die besagte Fahrt nach Dover, eine halbe
Stunde später nach Deal und endlich nach dem erwähnten
nahe gelegenen Great Mongeham zum Old Schoolhouse,
das seine Mutter, eine ehemalige Zahnärztin, bewohnte,
ebenfalls an einem schon sommerlich heissen 23. Juni
stattgefunden.
Ohne seine obere Prothese, die er wie immer, wenn er
während der Ergotherapie an einem seiner riesigen Papier
-
körbe flocht, herausgenommen hatte, murmelte er unver-
ständliche Worte, denen Schwester Monika Brunswiler
(Matthias, der dazu neigte, Namen zu verhunzen, nannte
sie Brunzwiler), seine Therapeutin, keinen Sinn abzuge
-
winnen vermochte. Ins Gaumenteil dieser oberen Prothese
(unten waren seine Zähne echt) hatte jemand, wer auch
immer, die Initialen MH eingeritzt: unüblich genug, wie
sich Schwester Monika sagen musste.
Er sah sich, unentwegt flechtend, was er ausserordentlich
flink tat, neben drei deutschen Knaben an der Reling ste
-
hen; wilde Knaben, bemerkte er damals vor undenklichen
Zeiten, Knaben, die zuweilen flüsterten oder mit den ge
-
brochenen Stimmen ihrer anfälligen Jahre heiser und ver-
schwörerisch lachten. Einer rief im Diskant: »Schaut mal
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dieses Ameisengerippe«, und deutete auf eine Amerikane-
rin, die mühsam, wiewohl tapfer, in einen violetten Kübel
kotzte. Matthias hatte Zahnschmerzen, und er spürte, dass
er kurz vor einem Asthmaanfall stand. Er stiess die Zunge
gegen die Zähne und stellte erbittert fest, dass sie, obwohl
nicht kariös, wieder bedenklich wackelten, weil sie, fortge
-
schrittener Parodontitis wegen, nur noch locker mit dem
Fleisch verwachsen waren. Er wollte seiner Mutter das ent
-
zündete Zahnfleisch und die wackelnden Zähne vorführen,
genüsslich vorführen, geradezu grausam vorführen, weil er
ihr, die doch Zahnärztin gewesen war, die Schuld an seinem
Zustand zuwies; denn sie hatte ihn, Matthias, als er zwölf
gewesen war, böswillig verlassen; sie hatte ihn verlassen,
sie, Mrs Fiona Victoria St. John-Smythe Sichelmann, hatte
ihn verlassen, um mit einem gewissen Professor Doktor
Hugo Dorn, Biologe, nach Great Mongeham in das von
ihrem Vater geerbte Haus durchzubrennen; dass sie auch
ihren Mann, Jakob Sichelmann, der fünfundzwanzig Jahre
älter war als sie, verlassen hatte daran dachte Matthias
nie. Er fürchtete sich vor der Erscheinung seines Vaters;
eigentliche Angst aber kannte er nicht, weil er niemals ge
-
schlagen worden war. Allerdings war ihm der Reichtum
Sichelmanns, eines weltberühmten Antiquars, von Jahr zu
Jahr verdächtiger: vor allem nach dem Erhalt der Villa in
Berlin – ein monströses Geschenk des Vaters.
Der Ärmelkanal kam ihm wie geschmolzenes Blei vor.
Zuweilen blitzten Schaumkronen auf, wenn die Sonne,
im späten Vormittag stehend, schwarz gefranste Wolken
durchbrach. Ihm war, als höre er Glockengeläut, unend
-
lich viele Glocken, die in seinem Schädel dröhnten. Eherne
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Töne, draussen und drinnen. Kreischende Möwen folg-
ten dem Schiff. In der Snackbar, später, ass er Gänseleber,
wunderbar weich, verschmähte das Toastbrot und trank
in gierigen Schlucken belgisches Bier. Sein Nacken, wenn
er das Glas mit beiden Händen ansetzte, zitterte stark. Er
hatte am Vorabend, von Dresden aus reisend, in Basel ei
-
nen Pater besuchen wollen, der im Internat Biologie und
Philosophie unterrichtet hatte. Seltsam, dass dieser Pater,
er hiess Adalbert, den Existenzphilosophen Heidegger
hoch verehrte. Matthias verdankte Adalbert, der im In
-
ternat den Spitznamen Erzbischof geführt hatte, den Stu-
dienplatz an der Freien Universität Berlin, wo er zuerst
drei Semester Philosophie und danach fünf Semester Bio
-
logie belegt hatte, bevor er die FU überstürzt und ohne
Abschluss verliess. Pater Adalbert indessen, als ehemali
-
ger Rektor des Internats, er hatte sein Lehramt im Kol-
legium quittiert, nun privat lebend, war nicht anzutref-
fen gewesen, und Matthias trank in der Schweizerhof-Bar
beim Bahnhof SBB einige Scotches, bevor er den Zug nach
Ostende im Französischen Bahnhof kurz vor Mitternacht
bestieg. Die Abteile überfüllt. Er liess sich zu Boden glei
-
ten und sass wie betäubt im Gang vor der Toilette, deren
Tür auf- und zuschlug. Es fiel ihm ein, dass er sich nicht
mit einem Whiskyvorrat eingedeckt hatte, und er begann
schon nach Mülhausen zu zittern, bis ihm dann der Schaff
-
ner bedeutete, er müsse in einem Coupé Platz nehmen.
Er setzte sich. Ihm war schlecht. Gestank im Abteil. Der
Zug rumpelte. Die Fahrgäste dösten. Es wurde Tag. Dunst
überm Land. In der Nähe Gents sagte eine Frau beiläufig,
dass Karl V. am 24. Februar 1500 in Gent geboren worden
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sei. Matthias horchte auf. Schon als Internatsschüler hatte
er ein Faible für die Habsburger gehabt. Und ausserdem:
Auch er, Matthias, hatte an einem 24. Februar Geburtstag.
Seine Mutter hatte ihn, da der 24. Februar Matthiastag
war, auf den Namen Matthias taufen lassen. Sein Geburts
-
tag sei auch sein Namenstag, wollte er der Frau sagen, liess
es aber sein und keuchte dann asthmatisch. Er hatte keine
Medikamente dabei, weder Albuterol noch Terbutalin, die
gemeinhin schon nach wenigen Minuten Erleichterung
verschafften. Der Name Matthias schien ihm immer ver
-
hängnisvoller; denn Matthias, immerhin, soll, durch das
Los bestimmt, an die Stelle des Judas Ischariot getreten
sein, der sich nach dem Liebeskuss, im Garten Gethse
-
mane dem Rabbi Jesus gegeben, erhängt hatte.
Er verliess die Snackbar und ging an Oberdeck. Papp
-
becher auf den Planken. Die Reling verrostet. Marode. Si-
cherheitshalber hatte er eine Flasche Bier mitgenommen.
Die Gänseleber stiess ihm sauer auf. In der Schweiz, fiel
ihm ein, war der Verzehr von Gänseleber verboten. Er
musste plötzlich lachen. Dann schwindelte ihn wieder. Das
Glockengeläut tönte nun auch im Leib. Funken stoben auf
und vermischten sich mit Wasser. Er zitterte nicht mehr,
als er später im Bug stand und die Kreidekliffe, Dover vor
-
gelagert, sie ragten weiss empor, ausmachen konnte. Eine
alte Hafenstadt, die schon viertausend Jahre zuvor erbaut
worden war. Das eigentliche Wachstum indessen setzte
erst zur Zeit der Römer ein, und Dover, damals Dubris,
wurde wichtigster Hafen der Kolonie Britannien. Das
heutige Dover Castle, von den östlichen Höhen der Kliffe
aus gut zu überblicken, wurde von Wilhelm dem Eroberer
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im elften Jahrhundert auf den früheren sächsischen, römi-
schen und eisenzeitlichen Bauten errichtet. Nach der Er-
oberung durch die Normannen erklärten die Machthaber
Dover Castle zu einem der Cinque Ports; eine Gruppe von
fünf Befestigungen, die Matthias, ein Kenner Kents, alle
benennen konnte.
Kaum schnupperte er die nahe Stadt, überfiel ihn Ver
-
langen nach Whisky. Schweiss brach aus zuerst auf der
Stirn, dann am ganzen Körper. Nach der Passkontrolle
trank er am Büfett einen Johnnie Walker, klaubte verär
-
gert das Eis aus dem Glas und fuhr etwa eine halbe Stunde
später mit der Eisenbahn durch das satte Grün der Graf
-
schaft Kent Deal entgegen. Weidende Schafe, pelziges
Rückenmeer. Zuweilen, in zuckendem Zickzack, liefen
wilde Kaninchen über offene Felder.
Ein mürrischer Taxichauffeur fuhr ihn zum Queen’s
Hotel. Bei seiner Mutter war er nicht angemeldet; aber er
wusste, dass sie sich im Old Schoolhouse in Great Monge
-
ham aufhielt. Hugo Dorn, mit dem sie, wie man sagt,
durchgebrannt war, er hatte nach der Wiedervereinigung
Deutschlands als ordentlicher Professor für Mikrobiologie
an der Technischen Universität Dresden habilitiert, kam
als Rivale wiederum in Frage. Dorn und Fiona standen,
wie Matthias herausgefunden hatte, wenngleich nur tele
-
fonisch, abermals in Kontakt. Er, Matthias, wollte etwas
unternehmen. Das Endgültige. Der Mutter beispielshalber
Rizinussamen verabreichen. Ein verheerendes Gift. Das
giftigste Gift sozusagen: Er hatte es in Dresden präpa
-
riert winzige Pillen, stecknadelkopfklein. Nachdem er
Dorn in der Berliner Philharmonie kennengelernt hatte,
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man gab Bruckner und Mahler, war er ihm nach Dresden
gefolgt und ein halbes Jahr in seiner Wohnung geblieben,
wo er seltsamen religiösen Praktiken verfiel, denen er die
ganze Zeit oblag. Mixtur aus Magie und Muff. Private Va
-
riationen des Raja-Joga etwa. Lotossitz. Oder das Anstim-
men von hochheiligen Silben. Die vergebliche Anrufung
der zweiundsiebzig Genien. Dank seines phänomenalen
Gedächtnisses beherrschte er Sanskrit, das ihm die Mutter
noch zu den guten Zeiten beigebracht hatte, recht gut.
Die alte Frau an der Rezeption, eine Verwandte der
greisen Besitzerin, an einem rosa Kinderstrümpfchen strik
-
kend, erkannte ihn sofort, weil Matthias, da er es hasste,
bei seiner Mutter zu übernachten, meistens im Queen’s
Quartier nahm. Er fragte nach dem schwarzen Kater, den
er Hermes nannte. Er sei munter und gesund und jage
Mäuse, sagte ihm die Frau, ohne von ihrer Strickarbeit
hochzusehen. Im ersten Stock dann lief ihm Hermes ent
-
gegen und stupste den Kopf zutraulich an sein Schienbein.
Hermes flitzte ins Zimmer und sprang auf das Fenster
-
brett, wo er sich laut schnurrend das schwarze Fell und die
weissen Pfoten leckte und danach ausgiebig gähnte. Die
schweren, dunklen Möbel waren viktorianisch und verlie
-
hen dem Zimmer etwas Bombastisches. Sein Grossvater,
Sir Archibald St. John-Smythe, hatte das Old Schoolhouse
mit solchen Möbeln vollgestopft, die er zum Teil aus In
-
dien mitgebracht hatte, das er, mutig genug, erst lange
nach der Unabhängigkeitserklärung verlassen hatte, ob
-
wohl er dort als Exekutant von Aufständischen berüchtigt
gewesen war. Er zog mit Fiona nach England zurück, als
sie zwölf Jahre zählte. Sie hatte sehr unter ihrem Vater zu
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leiden, der sie nachgerade ins Studium der Zahnmedizin
hineinprügelte. Er hatte einen zinnoberroten Kopf, trank
eine Flasche Whisky täglich und rauchte ununterbrochen
Shag aus kurzen Pfeifen. So machte er ganz bewusst auf
britischen Landedelmann und wurde dadurch zur eigenen
Karikatur.
Ohne die Reisetasche ausgepackt zu haben, ging Mat
-
thias in die Bar. Johnny, der Barmixer, reichte ihm un-
aufgefordert einen doppelten Single Malt. Er war dürr
und zeigte keine Regung in seinem faltigen Intriganten-
gesicht, als er, ein Glas hebend, das er, um es auf den Glanz
zu prüfen, gegen einen einfallenden Sonnenstrahl hielt,
mit schleppendem Slang sagte, es sei ein schöner Tag, ob
es nicht so sei, worauf Matthias meinte, ja, in der Tat, es
sei ein lieblicher Tag. Johnny, die Gläser pingelig polie
-
rend, wies darauf hin, dass in Deal während des eben an-
gebrochenen Wochenendes ein carnival stattfinde. Grosser
Umzug. Und es marschiere auch die Girl Piper’s Band mit
Dudelsackpfeifen ausserdem seien Schönheitsköniginnen
zu bewundern, sowie die Chatham Marines Unit Band;
und morgen Samstag werde ausserdem, was aber Mister
Sichelmann (er sagte Säickelmän) wohl kaum interessiere,
im Astor Theatre eine baby show durchgeführt first class:
babies between six months and twelve months and so on. Des
-
wegen wohl der rosa Babystrumpf, an dem die verschro-
bene Tante der Besitzerin strickte.
Am Nachmittag, es klarte bei steifer Brise auf, ging
Matthias über die High Street und kaufte in der Take-
away-Bude eines verfetteten Chinesen Crevetten, Pilze
und Reis, ein gutes Gemisch, das er, nachdem er sich am
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Strand auf die rund abgeschliffenen Steine gesetzt hatte,
aus der duftenden Tunke klaubte und von Hand verzehrte,
als die Flut schon ziemlich hoch stand. Die flache Bran
-
dung schob Kies vor sich her, der dann, beim schäumenden
Abfliessen grollend, wieder mitgerissen wurde. Das Was
-
ser hatte die Farbe von Milchkaffee. Vor dem blassblauen
Himmel strichen Möwen hart am Wind. Hineintauchen,
dachte er, hineintauchen und schwimmen, weit hinaus
-
schwimmen, um schwimmend endgültig zu versinken.
Später betrat er eine Bar und trank Guinness. Das bittere
Bier, beinahe schwärzlich und mit einem Schaum weich
und weiss wie Schlagsahne, schmeckte ihm. Dann nahm er
eine feingearbeitete, mit Lapislazuli besetzte silberne Pil
-
lendose, eine indische Arbeit, die ihm seine Mutter einst
geschenkt hatte, aus der Rocktasche. Er schüttelte die
Dose vor dem Ohr und wurde blass dabei, und nachdem
er die Dose mit den winzig gedrehten Pillen darin rasch
wieder eingesteckt hatte, straffte er die Schultern, verliess
die Bar, suchte ein Taxi und liess sich vom selben mürri
-
schen Chauffeur, der ihn zum Queen’s gebracht hatte, nach
Great Mongeham zum Old Schoolhouse, dem von Sir Ar
-
chibald geerbten viktorianischen Sitz seiner Mutter, fah-
ren, die das Landhaus, im Stil des Gothic Revival erbaut,
nach dem Tod ihres Vaters und der Trennung von Dorn
(der angeblichen Trennung, musste sich Matthias wieder
einhämmern), allein bewohnte. Das Haus aus dem neun
-
zehnten Jahrhundert war, wie gesagt, dem gotischen Stil
nachempfunden und stand gut verborgen in einem park-
ähnlichen, allerdings ziemlich verwilderten Garten, der
an eine halbzerfallene romanische Kirche und einen Fried
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hof mit schiefen und verwitterten und moosbewachsenen
Grabsteinen grenzte, die sich in der Erde zu verstecken
schienen. Er stiess das Tor so ungestüm auf, dass der rechte
Flügel gegen den Strunk einer vor Jahren gefällten Ulme
prallte, und ging sofort, als triebe ihn etwas zur Eile, die
alte Mauer aus achatgelbem Feldstein entlang, wo Johan
-
nisbeerstauden mit roten Früchten wuchsen, von denen er
einige abriss und zwischen den Fingern zerdrückte, die rot
blieben, als wären sie blutbesudelt. Hinter Haselnusssträu
-
chern und Nussbäumen, früher einmal als Windschutz ge-
pflanzt, sah er ein Gerstenfeld. Weiter dem Rasen zu, der
nun wirklich nicht teppichgleich gemäht und gehätschelt
wirkte, wuchsen Zinnien, Petunien und Nelken in den
Beeten. Auf dem Rasen vor der Bank bemerkte er zu seiner
Verblüffung einen hohen Holzstapel, der, so frisch wirkte
er, kurz zuvor aufgeschichtet worden sein musste.
»Heute abend«, sagte Schwester Monika Brunswiler mit
milder Stimme, »entfachen wir ein Johannisfeuer
Und Matthias nuschelnd: »Ein was bitte?«
»Ein Johannisfeuer
»Warum zum Teufel ein Johannisfeuer?«
»Frau Doktor Springer hat es angeordnet.«
»Einst, vor langer, langer Zeit, bin ich im Garten mei
-
ner Mutter durch ein Johannisfeuer gesprungen, durch
die Flammen durch, müssen Sie wissen, aber Sie wissen
nichts.«
»Ich weiss.«
»Was wissen Sie?«
»Dass ich nichts weiss.«
  1. Geburtstag am 28.1.2020

Guido Bachmann
Sommerweide

Roman

E-Book
ISBN 978-3-85787-974-6
Seiten ca. 272
Erschienen 5. September 2019
€ 14.99

Törleß war nichts dagegen.
— Frankfurter Allgemeine Zeitung

Matthias Sichelmann ist seit knapp einem Jahr Insasse der psychiatrischen Klinik Sommerweide. Diagnose: schizophrene Psychose, bedingt durch Alkoholmissbrauch. Im Gespräch mit der Therapeutin entfaltet sich nach und nach die Geschichte des Sohnes aus wohlhabendem Elternhaus: Mit zwölf von der Mutter verlassen, vom Vater ins Internat abgeschoben und aus schlechtem Gewissen mit Geld überschüttet, beginnt der begabte Schüler zu trinken. Das Studium der Philosophie und Biologie bricht er ab. Im Zustand der Volltrunkenheit provoziert er den Eklat mit der Mutter, die am nächsten Tag tot aufgefunden wird. Matthias verliert darüber den Verstand und lebt fortan in seiner eigenen Welt. Die exzentrischen Figuren seiner Phantasiestadt Megalopolis sind der Spiegel der Realität, der Schlüssel zu den tatsächlichen Ereignissen. Erneut erweist sich Guido Bachmann als Erzähler, der mit Verknüpfungen von Wahn und Wirklichkeit in den Bann zieht.

Pressestimmen

Sein Werk belohnt jeden, der einmal jenseits des Zauns des Üblichen und Eingeschliffenen verweilen möchte.
— Frankfurter Rundschau