LENOS
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Lenos Verlag
Nicolas Bouvier
Skorpionsch
Aus dem Fransischen übersetzt
und mit einem Anhang versehen
von Stefan Zweifel
Der Übersetzer
Stefan Zweifel, geboren 1967 in Zürich. Studium der Philosophie, Kom-
paratistik und Ägyptologie in Zürich. Übersetzte zusammen mit Mi-
chael Pfister Justine und Juliette in zehn Bänden von Marquis de Sade
sowie Werke von Boris Vian, Alfred Jarry und Jacques Chessex. Dar-
über hinaus Kurator, Journalist und Literaturkritiker (seit 2007 im Lite-
raturclub des Schweizer Fernsehens). Wurde 2009 mit dem Berliner Preis
r Literaturkritik und 2011 mit dem Anerkennungspreis für Überset-
zungen der Dialog-Werkstatt Zug ausgezeichnet. Lebt in Zürich.
Der Übersetzer dankt der Bibliothèque de Genève und Barbara Prout
von der Manuskriptabteilung, wo Nicolas Bouviers Archiv betreut wird,
sowie Eliane Bouvier für ihre Grossherzigkeit.
Titel der französischen Originalausgabe:
Le Poisson-Scorpion
Copyright © 1981 by Nicolas Bouvier
Erste Auflage 2011
Copyright © der deutschen Übersetzung
2011 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagbild: Bibliothèque de Genève, Jean-Jacques Rifaud
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 418 5
Inhalt
I. Kap der Jungfrau 13
II. Der Zöllner 17
III. Galle 25
IV. Die hundertsiebzehnte Kammer 29
V. Die Hauptstadt 37
VI. Der Bus 49
VII. Schweigezone 53
VIII. Indigo Street 67
IX. Vier Körner Nieswurz 73
X. Skorpionfisch 77
XI. Saat des Sonderbaren 91
XII. Heute Abend in diesem Theater 97
XIII. Von einem, der klein war … 101
XIV. Huldigung an Fleming 105
XV. Kirke 111
XVI. Padre 121
XVII. Der Herr Gesellschafter 137
XVIII. Die Erinnerung kehrt zurück 141
XIX. Heute Morgen … 149
XX. Der letzte Zauberer 151
Fragmente aus der Schweigezone
oder Ceylon, eine Anti-Reise 159
Bilddokumente 160
Ausbruch aus der Schweigezone:
Nicolas Bouviers Ringen um Form 171
Kürzel der benutzten Vorlagen 183
Schreib-Exorzismen aus Nicolas Bouviers Nachlass 185
Magie und Musik. Anmerkungen zur Übersetzung 227
Skorpionsch
Für Eliane
Thomas
Manuel
und für Claude Debussy,
diese uralte Geschichte
Man kann doch nicht dauernd
kommen und gehen
und einfach schweigen.
Kenneth White
13
I
Kap der Jungfrau
Das Eine wurde von der Hitze geboren. In ihm
erwachte die Liebe, erster Same des Denkens.
Rigveda
Die Sonne und ich waren schon lange wach, da erinnerte
ich mich, dass heute mein Geburtstag war, und daran, dass
ich am Abend zuvor, als ich durch den letzten Basar kam,
eine Melone gekauft hatte. Die machte ich mir zum Ge-
schenk, schmatzte sie bis zur Schale ab und wusch mein
verschmiertes Gesicht mit dem bisschen Tee, der in meiner
Kürbisflasche übrig geblieben war.
Geschlafen hatte ich, fest und tief, gleich neben dem
Auto unter einem einsamen Buddhabaum, dahinter gelbe
Dünenhügel, die die Adamsbrücke rten, und die Ma-
serung des Meeres, von weissen Schäfchen überzogen.
Die
Fahrt durch Indien hinunter ein Wunder. Heute also
würde ich diesen Kontinent, den ich so sehr liebte, ver-
lassen. Der Morgen war voller Vorzeichen und leichter
als eine Luftblase. Auf all seine Anträge gab es nur eine
Antwort: Ja. Wie mit fremder Hand packte ich meine
Sachen und betrachtete die schmalen schwarzen Silhou-
etten in ihren karmesinroten Lumpen, wie sie sich rund
um eine kleine Mühle r Zuckerrohr zu schaffen mach-
ten, ein Steinwurf nur von meinem Biwak. Ein Mädchen
in einem Sarong von gleichem Rot brachte ihnen gerade
14
ihr Essen. Da machte ich mit meiner Hand ein Dach, um
ihre prächtigen Bste, nackt, im Gleissen des Lichts zu
sehen. Trotz der Brandung hörte ich, wie sich warme Stim-
men überschlugen, und das Knirschen lzerner Walzen.
Die Zeit war aufgehoben. In diesem lieblichen Geflirr von
Stimmen, Glitzern und bunttanzenden Schatten lag eine
erhabene und üchtige Vollkommenheit, eine Musik, die
mir vertraut war. Leier des Orpheus, Flöte von Krishna.
Sie erklingt, wenn die Welt in ihrer durchsichtigen und
schlichten Urmlichkeit erscheint. Wer sie rt, und sei
es ein einziges Mal, bleibt für immer verwundet.
Sechzig Kilometer vor dem Kap bricht die Strasse ein-
fach so mitten im Sand ab, als wäre alles gesagt. Da ge-
wahrt man einen Holzverhau, der nicht wirklich wie ein
Bahnhof ausschaut und auch in keinem Führer erwähnt
wird. Davor ein kleiner Zug in Decauville-Spur, ganz aus
hartem Holz und Messing und wie ein alter Kochkessel
von den Händen, Hintern und kleinen Zigarren der Rei-
senden dumpf und dunkel gescheuert. Ganz schwarz auch
meine Nachbarn: Parias, die als Gastarbeiter zu den Pflan-
zungen der Insel hinunterfuhren, zwischen ihren Bündeln
aus beblümtem Baumwolltuch kauernd, das Gesicht von
ihren gestelzten Beinen eingerahmt. Da ich kaum Raum
brauchte und keines ihrer Pakete zerdrückte, fragte mich
der Kühnste von ihnen auf Englisch, ob ich ein Inder aus
Nepal sei. Grosses, grosses Indien siebzehn Alphabete,
mehr als dreihundert Dialekte –, wer will sich da noch
auskennen. Glänzend braun war ich, salzig wie ein Fla-
denbrot, ein wenig schrumpelig auch von der Gelbsucht.
Noch bevor ich antworten konnte, hatten sie mich bereits
15
vergessen. Sie setzten alle das gleiche geheuchelte und ge-
fügige Lächeln auf, wegen der Grenze, die näher kam und
die sie mit ihren abgelaufenen Papieren passieren mussten,
schwarz gehandelt und von Schweiss gegerbt. Bei der End-
station am Kap der Jungfrau strebten sie in Viererkolon-
nen Baracken entgegen, die in der Mittagshitze dampften.
Ich stand mit ihnen an, um meinen Pass abstempeln zu
lassen. Den Hals ausrenkend, sah ich im blauen Schat-
ten eines Hangars, wie ein tamilischer Pfleger damit be-
schäftigt war, die Herde mit einer skalierten Spritze zu
impfen, dickbäuchig wie ein Schoppen. Bei jedem Kun-
den wechselte er die Nadel und verabreichte dem Opfer
seine Dosis. Ohne Spritze kein Visum. Ich brauchte zwar
keine mehr, aber lieber eine Impfung zu viel als ein Wort-
gefecht mit einem dindischen Funktionär. Sei’s wegen
der Farbe meiner Augen, sei’s aus Angst, ich nnte mich
nachher beschweren, der Pfleger meinte es gut mit mir:
die dreifache Dosis. Ob Serum oder Geld, wer hat, dem
wird gegeben. Mindestens zehn Jahre immun! Wogegen?,
daran verschwendete ich keinen Gedanken. Ich hatte zwei
Jahre Reiserouten in den Venen, und das Glück machte
mich zum Gecken. Ich musste noch viel lernen. Sanft und
sachte.
Die Prospekte versprechen, das Eiland sei ein Smaragd
am Hals des Subkontinents. Einstiges Arkadien viktoriani-
scher Hochzeitsreisen. Paradies für Insektenforscher. Preis-
günstige Gelegenheit, um den »Grünen Blitz« zu sehen.
Mag sein. Aber dreitausend Jahre vor Baedeker war
man, wie früheste Rituale der Arier bezeugen, weit mehr
auf der Hut. Die Insel ist ein Hort r Magier, Zaube-
16
rer, Dämonen. Eine russgeschwärzte Gemme, unter dem
Einuss schlimmer Planeten aus der Tiefe des Ozeans ge-
schwemmt. Fällt ihr Name in einer Beschwörung, wird er
behutsam eingeleitet und von folgender Formel gefolgt:
Ihr Gifte der Muräne
Des Ichneumons
Und des Skorpions
Gegen Süden gewandt
Dreimal mach ich euch zu Wasser.
Das werden wir ja sehen.
17
II
Der Zöllner
Die Erdstrasse nach Murunkan schlängelt sich zwischen
Bewässerungsbecken hindurch, die noch von den alten Dy-
nastien angelegt worden sind. Die Bäume, die diese kuriose
Komposition aus Zisternen und Schleusen einst in Besitz
nahmen, sind längst abgestorben, und heute winken ihre
glattpolierten Skelette über dem schwarzen Gewässer. Da
und dort flirrt der malvenfarbene Fleck einer Bougainvillea
im Mittagsdunst. Etwas wenig für ein Landschaftsgemälde:
weithin verstreute Spiegelflächen, zersplittert und trüb, in
Schweigen versunken, das wirkt mehr wie eine Gedächtnis-
lücke oder wie ein Finger, den man an unsichtbare Lippen
legt.
Wegen der Fahrrinnen rollte ich nur langsam voran. Auf
den bemoosten Steinen hoben Wasserschildkröten ihre plat-
ten Schädel, um dem Wagen nachzuschauen. Die Strasse
lag fast ganz verlassen da. Binnen einer Stunde begegnete
ich nur gerade einem abgemergelten Bauern, der auf dem
Randstreifen dahintrottete, die Zehen zum Fächer gespreizt,
eine grüne Frucht auf dem Kopf, deren Geruch so grässlich
und deren Wuchs so gewaltig war, dass man sich fragte,
ob es sich um plumpes Blendwerk oder um ein Theater-
requisit handelt. Hatte ich mich verfahren? Ich wollte ge-
rade wenden, da sah ich durch den Schleier von Schweiss,
der in meinen Augen brannte, einen silbernen Blitz, lang-
hin, er ging von einer mächtigen Silhouette aus, die mitten

Prix Schiller 1982

Nicolas Bouvier
Skorpionfisch

Aus dem Französischen von Stefan Zweifel


LP 247
Paperback (2. Auflage)
ISBN 978-3-85787-847-3
Seiten 232
Erscheint 15. Januar 2025
€ 18.00 / Fr. 18.00 *
* voraussichtlicher Verkaufspreis

Eine Meditation über unsere Wahrnehmung der Welt.
— The New York Times

Im Anschluss an die Reise von Genf nach Afghanistan (Die Erfahrung der Welt) durchquert Nicolas Bouvier in seinem Fiat Topolino den indischen Subkontinent und lässt sich im März 1955 vorübergehend auf Ceylon nieder. Unverhofft wird die Etappe zum Moment des Innehaltens. Er ist einsam und geschwächt, zudem träge vom feuchtheissen Klima der Insel, doch seine Sinne für die Wahrnehmung der Umgebung sind geschärft: Die Reise wird zur geistigen Gratwanderung eines Mannes, der – hin- und hergeworfen zwischen Faszination und Schrecken – die magischen Phänomene der Schatten- und Insektenwelt Ceylons zu erfassen sucht. In der lichtdurchfluteten Sprache Bouviers verwandelt sich die tropisch-dumpfe Schwere in ein schillerndes Wunder.

Skorpionfisch ist die fesselnde Auseinandersetzung eines weitgereisten, scharfsinnigen Schriftstellers mit den Grundsätzen menschlichen Daseins, eine »Meditation über unsere Wahrnehmung der Welt« (The New York Times). Neue Dokumente, Briefe und Fotos geben unerwartete Einblicke in die Entstehung dieser hochverdichteten Prosa: Das verlangt auch nach einer neuen Übersetzung.

Pressestimmen

Magisch, wie Bouvier sich der Fremde, auch in sich selbst, ausliefert. Er findet eine so klare und durchlässige, zugleich poetische Sprache, dass man denkt: Eindrücklicher wurde aus den Niederungen der Erfahrung von Fremde nie berichtet.
— Roger Willemsen
Dass ich auf einer Reise durch Sri Lanka nach Galle wollte, hatte ausschliesslich mit diesem Buch zu tun. Für mich war es von der ersten Lektüre an ein Faszinosum gewesen. Bouvier errichtet auf der exotischen Topographie einer traumverlorenen Hafenstadt den flirrenden Spiegel eines Ichs, das sich immer mehr abhandenkommt. Es ist ein Reisebuch mit aberhundert phantastischen Details und zugleich ein Antireisebuch mit seinem Autor im immobilen Zentrum eines Mahlstroms aus Assoziationen und Erinnerungen.
— Joachim Sartorius, Frankfurter Allgemeine Zeitung

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