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LP 200
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Lenos Verlag
Ghassan Kanafani
Rückkehr nach Haifa
Roman aus Palästina
Aus dem Arabischen
von Hartmut Fähndrich
Der Autor
Ghassan Kanafani wurde 1936 in Akka geboren. 1948 wurde seine Familie
durch die Besetzung der Israelis vertrieben. Als Flüchtling lebte Kanafani zu-
nächst im Libanon, später während längerer Zeit in Damaskus, wo er seine
Schulbildung abschloss und einige Jahre als Lehrer arbeitete. 1956 ging er
als Sport- und Zeichenlehrer nach Kuwait. 1960 zog er nach Beirut, wo er in
der Folgezeit bei mehreren Zeitungen arbeitete und schliesslich Sprecher von
George Habaschs Volksfront für die Befreiung Palästinas war. 1972 wurde er
in Beirut durch eine Bombe getötet, die an seinem Wagen angebracht war.
Der Übersetzer
Hartmut Fähndrich, geboren 1944 in Tübingen. Studierte Vergleichende Lite
-
raturwissenschaft und Islamwissenschaft in Deutschland und in den Vereinig-
ten Staaten. 1978 bis 2014 Lehrtätigkeit an der ETH Zürich. Übersetzte zahl-
reiche Werke aus dem Arabischen ins Deutsche und wurde dar mehrfach
ausgezeichnet. Lebt in Bern.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag
r die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Titel der arabischen Originalausgabe:
Âid ilâ Haifâ
in: Ghassân Kanafânî, al-Ât
-
âr al-kâmila I. ar-riwâyât
© 1972 by Anni Kanafani,
The Ghassan Kanafani Cultural Foundation, Beirut
LP 200
Zweite Auflage 2018
Für die Taschenbuchausgabe überarbeitet
© 1986 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 800 8
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Rückkehr nach Haifa
1. Kapitel
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Als Said S., im Auto von Jerusalem her kommend, die
Anhöhen oberhalb Haifas erreicht hatte, spürte er, wie
ihm etwas die Zunge band; er konnte nicht mehr re
-
den und spürte, wie der Kummer in ihm hochstieg.
Für einen Augenblick überfiel ihn der Gedanke um
-
zukehren, und ohne dass er sie anschaute, wusste er,
dass sie lautlos zu weinen begonnen hatte. Plötzlich
war da das Meer zu ren genau wie damals. Nein,
die Erinnerung kehrte nicht nach und nach zurück;
sie stürzte in seinen Kopf wie eine steinerne Wand, die
in sich zusammenfällt und sich als Haufen auftürmt.
Plötzlich waren die Gegenstände und die Ereignisse
da, fielen übereinander und füllten seinen rper. Und
er sagte sich, seine Frau, Safija, empfinde dasselbe und
weine deshalb.
Seit der Abfahrt aus Ramallah am Morgen hatten
er und sie pausenlos gesprochen. Die Felder waren vor
dem Autofenster an seinem Blick vorbeigeglitten. Die
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Hitze war unerträglich. Seine Stirn hatte geglüht; auch
der Asphalt unter den Rädern seines Autos hatte ge
-
brannt. Über ihm stand die Sonne, die schreckliche
Junisonne. Sie übergoss die Erde mit dem Pech ihres
Zorns.
Unterwegs hatte er geredet und geredet und gere
-
det. Er hatte seiner Frau von allem erzählt. Vom Krieg;
von der Niederlage; vom Mandelbaumtor, das die Pla
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nierraupen niedergerissen hatten; vom Feind, der in-
nerhalb von Stunden bis zum Fluss, zum Kanal und
zu den Höhen oberhalb von Damaskus gelangt war;
vom Waffenstillstand; vom Radio; von der Plünderung
von Sachen und beln durch die Soldaten; von der
Ausgangssperre; von seinem Vetter, den in Kuwait die
Unruhe verzehrte; von seinem Nachbarn, der einige
Sachen zusammenpackte und floh; von den drei ara
-
bischen Soldaten, die allein zwei Tage lang auf einem
Hügel in der Nähe des Auguste-Viktoria-Krankenhau
-
ses mpften; von den Männern, die ihre Uniformen
auszogen und in den Strassen von Jerusalem kämpften;
von dem Bauern, den sie gleich hinrichteten, als sie ihn
in der Nähe des grössten Hotels von Ramallah sahen.
Er erzählte seiner Frau noch vieles andere; unterwegs
unterhielten sie sich pausenlos. Und jetzt, da sie am
Stadtrand von Haifa angelangt waren, schwiegen sie
beide, und beide stellten in diesem Augenblick fest,
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dass sie mit keinem Wort über das gesprochen hatten,
weswegen sie hergekommen waren.
Das also ist Haifa – nach zwanzig Jahren.
Am Mittag des 30. Juni 1967 bahnte sich der asch
-
graue Fiat mit weissem jordanischem Nummernschild
seinen Weg in Richtung Norden, durch das Ackerland,
das zwanzig Jahre zuvor Ibn-Amer-Ebene geheissen
hatte, kletterte die Küstenstrasse empor und fuhr von
den her in Haifa ein. Als er die Strasse überquerte
und in die Hauptstrasse einbog, stürzte die Wand ein,
und die Strasse verlor sich hinter einem Schleier von
Tränen.
»Das ist Haifa, Safija«, sagte er zu seiner Frau.
Das Lenkrad lag schwer in seinen Händen, die
mehr schwitzten als zuvor. Er dachte daran, seiner Frau
zu sagen: Ich kenne es, dieses Haifa, aber es will mich
nicht kennen. Doch er besann sich; und nach kurzer
Zeit kam ihm ein anderer Gedanke.
»Weisst du«, sagte er, »zwanzig Jahre stelle ich mir
jetzt vor, dass das Mandelbaumtor geöffnet wird
Aber nie, gar nie habe ich mir vorgestellt, es könnte
von der anderen Seite geöffnet werden. Das ist mir nie
-
mals in den Sinn gekommen. Deshalb schien es mir,
als sie es geöffnet haben, schrecklich, blödsinnig und
weitgehend auch zutiefst erniedrigend. Ich wäre wohl
nicht ganz bei Trost, wenn ich dir sagen würde, dass
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alle Tore nur von einer bestimmten Seite geöffnet wer-
den dürften; und wenn sie von der anderen Seite ge-
öffnet werden, muss man sie weiterhin als geschlossen
betrachten. Aber das ist die Wahrheit!«
Er wandte sich zu seiner Frau; doch diese hatte
nicht zugert. Sie war ganz in die Betrachtung des
Weges versunken. Mal schaute sie nach rechts, wo
sich, so weit der Blick reichte, Felder ausdehnten; mal
nach links, wo das Meer, welches mehr als zwanzig
Jahre fern war, ganz in der Nähe rauschte. Plötzlich
sagte sie: »Ich hätte nie gedacht, dass ich es nochmals
sehen würde.«
»Du siehst es nicht, sie zeigen es dir.«
Jetzt gingen ihr die Nerven durch; es geschah zum
ersten Mal.
»Was soll diese Philosophie«, rief sie, »die du schon
den ganzen Tag von dir gibst? Die Tore und der Traum
und anderes mehr. Was ist los mit dir?«
»Was ist los mit mir?«
Er zitterte, als er sich selbst diese Frage stellte. Doch
er nahm sich zusammen und sagte ruhig zu ihr: »Gleich
nach Abschluss der Besetzung haben sie die Grenzen
geöffnet – sofort danach. Das gab es noch bei keinem
Krieg in der Geschichte. Du kennst ja die leidvolle
Geschichte, die sich im April 1948 ereignete und noch
jetzt. Warum also? Wegen deinen oder meinen schwar
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zen Augen? Mitnichten! Das ist ein Teil des Krieges.
Sie sagen uns: Bitte sehr, schaut her, wir sind besser und
fortschrittlicher als ihr. Ihr müsst es akzeptieren, un
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sere Diener und Bewunderer zu sein Aber du hast
selbst gesehen, nichts hat sich geändert … Wir wären
in der Lage gewesen, es viel besser zu machen …«
»Warum bist du dann hergekommen?«
Er schaute sie bitter an, und sie schwieg.
Sie wusste es. Warum fragte sie also? Sie war es
gewesen, die ihn aufgefordert hatte zu gehen. Zwanzig
Jahre lang hatte sie es vermieden, davon zu sprechen,
zwanzig Jahre. Dann brach die Vergangenheit hervor
wie ein Vulkan …
Als er sein Auto mitten durch Haifa lenkte, lag
über der Stadt noch immer der Geruch des Krieges,
irgendwie, rätselhaft, erregend, beunruhigend. Die
Gesichter erschienen ihm brutal und wild, und nach
kurzem merkte er, dass er sein Auto durch ein Haifa
lenkte, in dessen Strassen er keine Veränderung wahr
-
nahm. Er kannte sie Stein r Stein, Kreuzung um
Kreuzung. Wie oft war er mit seinem grünen Ford,
Baujahr 1946, durch diese Strassen gefahren. Sie wa
-
ren ihm vertraut, und jetzt hatte er nicht das Gehl,
zwanzig Jahre lang nicht hiergewesen zu sein, jetzt, da
er wie ehemals sein Auto lenkte, als wäre er nicht diese
zwanzig bitteren Jahre weg gewesen!

Ghassan Kanafani
Rückkehr nach Haifa

Roman aus Palästina

Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich


LP 200
Paperback
ISBN 978-3-85787-800-8
Seiten 96
Erschienen 7. August 2018
€ 12.00 / Fr. 13.00

Eines der Meisterwerke von Ghassan Kanafani, einem der bedeutendsten arabischen Schriftsteller der Moderne.
— Basler Zeitung

1948 ergreifen während gewaltsamer Auseinandersetzungen in Haifa Tausende Palästinenser die Flucht. Ein Ehepaar wird durch unglückliche Umstände von ihrem fünf Monate alten Sohn getrennt. Sie versuchen erfolglos, zu ihrem Haus und dem Kind zurückzukehren, und bald wird die Grenze zum neu ausgerufenen Staat Israel geschlossen. Erst zwanzig Jahre später betreten sie Haifa wieder. Ihr Sohn Chaled lebt noch in ihrem Haus, doch er trägt eine israelische Uniform und heisst Dov. Er wurde von jüdischen Einwanderern adoptiert. Eine Rückkehr zu seinen leiblichen Eltern lehnt er ab, da er sich seinen Adoptiveltern und Israel mehr verpflichtet fühlt als Blutsbanden.

Ghassan Kanafani wirft existentielle Fragen auf: Hat die Abstammung oder die Erziehung grössere Bedeutung? Was bedeutet Heimat? Ähnlich wie in Brechts Kaukasischem Kreidekreis geht es darum, wem das Kind gehört. Und nicht zuletzt zeigt er beide Seiten als Betrogene und Opfer der israelischen und der internationalen Politik.

Pressestimmen

Ein intimes Drama, das die Zerrissenheit und die Wut des palästinensischen Volkes rückhaltlos darstellt und zugleich auf erstaunliche Weise die Komplexität des Geschehenen kenntlich macht.
— Ulrich Rüdenauer, Süddeutsche Zeitung
Die Geschichte lässt niemanden kalt. … Der Kurzroman ist eines der Meisterwerke von Ghassan Kanafani, einem der bedeutendsten arabischen Schriftsteller der Moderne.
— Basler Zeitung
Ghassan Kanafani lässt auf knapp 100 Seiten einen Vulkan explodieren. Atemlos und beeindruckend!
— Lesen
Kanafani gelingt es, uns teilhaben zu lassen am Schicksal des palästinensischen Volkes in einem Einzelschicksal. (…) Die Erzählung ist berührend, weil sie kurz und knapp tiefsitzende menschliche Fragen berührt. Da sie nachdenklich werden lässt, da sie beide Seiten beleuchtet, da sie anhand von individuellen Schicksalen das grosse Ganze des Konflikts beleuchtet. Und da sie die Wichtigkeit des Dialogs zeigt.
— Almut Scheller-Mahmoud, Literatur-Garage