LENOS
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Lenos Verlag
Mahi Binebine
Rue du Pardon
Roman
Aus dem Französischen
von Christiane Kayser
Die Übersetzerin
Christiane Kayser, geboren 1954 in Esch-sur-Alzette, Luxemburg,
übersetzt aus dem Französischen, u. a. Tahar Ben Jelloun, Jean
Vautrin, Tonino Benacquista, Boualem Sansal und Fouad Laroui. Sie
lebt teils in Berlin und teils in einem Dorf südlich von Toulouse.
Sie engagiert sich ausserdem seit vielen Jahren in der Entwicklungs-
zusammenarbeit in verschiedenen Ländern Afrikas. Mitgründung
des Pole Institute in Goma, D. R. Kongo, Begleitung der Afrika-
arbeit des Zivilen Friedensdienstes beim Evangelischen Entwick-
lungsdienst (EED), später Brot für die Welt. Sie ist Mitherausge-
berin des Mapinduzi Journal und der Reihe Building Peace / Construire
la Paix.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms
des Institut français.
Titel der französischen Originalausgabe:
Rue du Pardon
Copyright © 2019 by Editions Stock
Erste Auflage 2021
Copyright © der deutschen Übersetzung
2021 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: Gabriel Boisdron
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 006 6
Für Abdellah, der zu früh von uns gegangen ist
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1
Mit meiner Dreikäsehöhe balancierte ich auf ei-
nem wackligen Hocker vor dem Spiegel im Bad
und erhaschte einen Blick auf den Anflug von Au
-
genbrauen, den oberen Teil meiner Stirn und den
Gummi, der meine widerspenstigen Locken bän
-
digte. Ausserhalb meines Sichtfelds wucherte meine
dichte Wildfangmähne, die meine Mutter verab
-
scheute. Sobald ich mich ihr näherte, bewegte sich
ihre Hand wie von einem Magneten angezogen zu
der wilden Mähne, den Glutbüscheln, die sie ver
-
geblich zu glätten versuchte. Was wie Zärtlichkeit
wirkte, war in Wahrheit der tägliche Kampf mei
-
ner Erzeugerin gegen die natürliche Unordnung
der Dinge. Doch die starrköpfige und eigensinnige
Natur behauptete immer wieder ihr Recht. Sobald
ich aus dem Haus trat, entledigte ich mich meines
Stirnbands und wurde wieder zum kleinen, molli
-
gen Wuschelkopf aus der Rue du Pardon. Ich habe
mich oft gefragt, warum meine Mutter sich so sehr
an meinem Haar störte. Sah sie einen Fluch darin?
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Die Vorboten meiner künftigen Verdammnis? Viel-
leicht. Jedenfalls sah sie mich an wie eine Ausser-
irdische von einem unbekannten Planeten, die hier
gestrandet ist. Sie konnte noch so viel unter ihren
Vorfahren wie denen meines Vaters nachforschen, sie
fand nicht den Hauch eines Ahnen, von dem ich ei
-
nen solchen Wuschelkopf geerbt haben könnte, der
noch dazu blond war!
Ich meinerseits fühlte mich ebenfalls nicht zu
diesem Stamm zugehörig, in den ich hineingeboren
worden war und bei dem ich eine schwierige und
bedrückende Kindheit durchlebt hatte. Abgesehen
vom gewalttätigen und heimtückischen Charakter
meiner Eltern war ihre Welt stumpf, trist, phantasie
-
los und tödlich langweilig. Der einzige heitere Tupfer
in meiner Umgebung bestand in den mit Goldfaden
auf einen Gebetsteppich gestickten Koransprüchen
an der Wand des Wohnzimmers. Noch bevor ich
lesen lernte, liebte ich es bereits, meine Pupillen
durch die auf dem samtenen Hintergrund ineinan
-
der verschlungenen Arabesken zu verwirren. Der
Rest wurde von der Farbe Grau bestimmt: Wände,
Behänge, Gesichter, Mobiliar. Bis hin zum Fell der
Katze. Ein verstaubtes Grau in allen Tönen der De
-
pression. Passend zum Dekor herrschte bei uns von
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morgens bis abends düsteres Schweigen. Hätte Vater
die Spatzen zum Schweigen bringen können, nichts
hätte ihn davon abgehalten. Was Musikhören betraf,
war nicht daran zu denken. Vater stellte das Radio
nur zu den genauen Zeiten der Nachrichtensendun
-
gen an. Dann leierte eine tiefe Stimme monoton die
Einzelheiten der glorreichen königlichen Taten her
-
unter, wie immer gefolgt von einem Einheitsbrei aus
Katastrophen, Kriegen und Schiffbrüchen.
Jedoch hatte ich mich wie es Kinder so gut
mit ihren Eltern können – an die Meinen angepasst,
an die Dürftigkeit ihrer Empfindungen und an ihre
Hässlichkeit. Durch eine geheimnisvolle Alche
-
mie hatte ich eine Blase geschaffen, in die ich mich
flüchtete, sobald die Umgebung toxisch wurde. Im
Schutz meiner Blase liess ich mich vom Atem der
Engel hinwegtragen. Es wird Sie überraschen, dass
ein Schwarm als Schmetterlinge verkleideter Engel
ein kleines Mädchen in seiner Luftblase hoch in den
Himmel ziehen kann. Ich verstehe Ihr Erstaunen.
Doch ich versichere Ihnen, genau wie ich Sie sehe,
sah ich jene himmlischen Kreaturen auffliegen, be
-
schwingt von den wunderbaren Geschichten, die
mir Serghinia erzählte. Sie sagte, deren Mission auf
Erden sei, den Weg für die Künstler zu bereiten.
10
Habe ich Ihnen eigentlich erklärt, dass ich eine
Künstlerin bin?
Seit meiner frühesten Kindheit konnte ich die
Sprache der Engel entziffern; deshalb verschaffte
ich mir mit eigenen Mitteln Zutritt zum Reich der
Träume und der Schmetterlinge. Ein bezaubern
-
des und verzaubertes Reich aus Funken, Schauern,
Lachgrübchen und allen Farben des Regenbogens.
Inmitten der trockenen, strengen Starre meines
Umfelds fand ich dort die Anmut der Rundung, den
Tanz der Spirale, die zarte Eleganz, das Feingefühl
und die Feinsinnigkeit der Wesen, die sich auf Ze
-
henspitzen bewegen.
Eine Göttin regierte dieses Land: unsere Nach
-
barin Serghinia. Später werde ich Ihnen die fabel-
hafte Geschichte dieser Künstlerin erzählen, in de-
ren Haus ich wie ich heute ohne Angst bekennen
kann das Glück gefunden habe. Diese Frau war
meine Familie, meine Freundin, meine Zuflucht.
Vor dem Spiegel im Bad von Serghinias gepflegter
Wohnung konnte ich auf Zehenspitzen meine etwas
abstehenden Ohrläppchen sehen, geschmückt mit
massiven silbernen Ohrreifen, die mir meine Mut
-
ter verbot ausserhalb der Feiertage zu tragen. Das
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schonungslose Spiegelbild zeugte vom Ausmass
der Katastrophe: ein mit schreiend rotem Lippen
-
stift verschmiertes Gesichtchen, glänzend, kein Teil
meiner sonst so weissen Haut ungeschminkt; Huren
-
rot, wie es meine Mutter genannt hätte, einer dieser
zinnoberroten Töne, die mich auf Serghinias vollen
Lippen so faszinierten. Das Wort »Hure« bekam ei
-
nen besonderen Charakter in meinen jungfräulichen
Ohren, wenn meine Mutter es aussprach. Hu-re.
Das knallte wie die Eleganz einer befreiten Frau,
das verlangte nach der Freiheit, öffentlich in einer
hautengen seidenen Dschellaba mit dem Hintern zu
wackeln, das hielt die brennende Fahne der Aufleh
-
nung hoch in den Himmel.
Doch ganz unten am Ende des Spiegels, wo die weis
-
sen Kacheln an der halboffenen Tür aufhören, sah
ich während ich die Augen wegen meiner sündigen
Schminke weit aufriss Serghinias strahlendes Ge
-
sicht. Unter theatralisch gerunzelten Augenbrauen
grollten ihre leuchtenden Augen kaum, verziehen
schon halb. Sie kam mit ausgebreiteten Armen auf
mich zu, beunruhigt, da sie einen Sturz befürchtete.
»Mein Täubchen, dieser Hocker ist wacklig! Am
Ende fällst du noch runter!«
12
Blitzschnell wurde mein schmächtiger Körper
von ihrer fülligen Figur umarmt.
»Lass mich dir zeigen, wie man zu einer Prin
-
zessin wird, Liebes. Lippenstift ist, wie der Name
schon sagt, ausschliesslich dazu da, die Lippen zu
färben. Nicht die Stirn oder deine von Natur aus ro
-
sigen Wangen und noch weniger deine jetzt blutig
wirkenden Augenlider, mit denen du aussiehst wie
eine direkt aus einer Horrorgeschichte eingeflogene
Hexe. Du bist doch keine Hexe, nicht wahr, Lieb
-
ling? Also gib dir Mühe wie mit Aïda und Sonia
beim Ausmalen. Übermale unter keinen Umständen
die Ränder. Verstanden?«
»Ja, Mamyta.«
»Gut. Wasch dein Gesicht mit viel Wasser ab, und
bring es mir schnell, damit ich es verschlingen kann!«
Aïda und Sonia, die Zwillingstöchter von Serghi
-
nia, hatten sie Mamyta getauft. Ich nannte sie auch
gerne so, aber mit Varianten: Mami, Mya, Maya,
Mamyta. Jede Silbe dieses Spitznamens beinhaltete
ihren Teil Zärtlichkeit. Es roch gut nach dem Mo
-
schus ihrer beruhigenden Brüste, ihren Lachsalven
und den schallenden Küssen, die eine so schöne Spur
auf unseren Wangen hinterliessen.
13
Hätte mich unglücklicherweise meine Mutter in
diesem Zustand überrascht, vor dem Spiegel auf ei
-
nem wackligen Hocker im Bad, die Gandura in die
Hose gestopft, das Antlitz mit scharlachroter Sünde
verschmiert, wäre es das Ende der Welt gewesen:
eine ordentliche Tracht Prügel, durchsetzt mit end
-
losem Schreien und Jammern, und dann vor allem
als Nachtisch das von mir am meisten gefürchtete
Versprechen: »Warte nur, bis dein Vater nach Hause
kommt!«
Ich mochte meinen Vater nicht. Ich mochte seine
blutunterlaufenen Augen nicht, wenn der Zorn ihn
übermannte. Es waren nicht so sehr die Schläge, die
mir Angst machten, eher der Rest … Ich hasste sein
dunkles Zimmer, seinen Atem, seinen kratzigen
Bart, seine riesigen Hände und den Rest. Den
ganzen Rest.
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2
Bei den Künstlern, die ihren Körper als Arbeits-
instrument nutzen, ist Schönheit nicht unbedingt
erforderlich. Mamyta kann man kaum als Huri
bezeichnen. Beim genaueren Betrachten ihrer Ge
-
sichtszüge kann man, ohne auf Widerspruch zu
stossen, behaupten, dass unsereins ästhetisch gese
-
hen unter dem nationalen Durchschnitt liegt. Ihre
spiralförmigen Augen mit dick aufgetragener Wim
-
perntusche, ihre kurze Stupsnase, ihr riesiger, mit
fleischigen Lippen versehener Mund und ihre alt
-
modischen Tattoos auf Stirn und Kinn gehören auf
keinen Fall zu einer Odaliske. Weit entfernt. Jedoch
bildet das alles zusammen in einem einzigen freude
-
strahlenden Antlitz ein sehr angenehmes harmoni-
sches Ganzes. Wenn man ihre massiven Goldzähne
dazunimmt, die bei jedem Lachen wie ein Feuerwerk
blitzen, ihren hundert Kilo schweren, milchigen, in
einen Satinkaftan gezwängten Leib, ihre raubkat
-
zenhafte Art, bei der jeder Teil des Körpers selbstän-
dig, ungebunden, wie vom Rest losgelöst scheint,
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kann man auch behaupten, diese Kreatur mit einem
Schönheitsmal auf der Wange habe zweifellos ein
gewisses Etwas.
In Wirklichkeit gibt es zwei auf den ersten Blick
widersprüchliche Seiten von Mamyta: die der trans
-
parenten Hausfrau, die man morgens in einer der
Querstrassen zur Rue du Pardon im Suk antreffen
könnte, mit ihrem Einkaufskorb aus Palmblättern,
oder die ganz einfach über die Grand-Place schlen
-
dert; dann gibt es die andere Seite, die der Diva
im schillernden Kaftan, die einen abends auf einer
Hochzeitsfeier erregt, bei einer Beschneidung oder
bei einem dieser privaten Abende, die Männer auf
der Terrasse eines Cafés in ihrer Melancholie flüchtig
erwähnen.
Da ich meine Kindheit und einen Teil meiner
Jugend bei Mamyta verbrachte, hatte ich das Pri
-
vileg, am Wunder dieser Metamorphosen teilzuha-
ben. Zuerst als gewöhnliche Zuschauerin, staunend
wie ein Kind vor einer bunten Trommel am Festtag,
dann später in der ersten Reihe, als sie mir die Ehre
erwies, mich in ihre Truppe aufzunehmen, um mich
vor meiner Familie zu retten …
Meine Geschichte ist wirklich seltsam. Unwahr
-
scheinlich und tragisch wie so oft die Geschichten

Prix Méditerranée

Mahi Binebine
Rue du Pardon

Roman

Aus dem Französischen von Christiane Kayser


E-Book
ISBN 978-3-85787-987-6
Seiten ca. 158
Erschienen 20. Januar 2021
€ 14.99

Eine Ode an die Moderne und den Kampf für die Freiheit.
— Afrique Magazine

In der ärmlichen Rue du Pardon in Marrakesch ist Hayat aufgewachsen, die Erzählerin in Mahi Binebines neuestem Roman. Wegen ihrer blonden Haare wird sie verachtet, und auch in ihrer Familie erfährt sie Gewalt. Hayat flüchtet und gewinnt dank Mamyta, der grössten orientalischen Tänzerin Marokkos, ein neues Leben. Mamyta ist eine Art Geisha – Sängerin, Tänzerin, Liebhaberin. Eine freie Frau in einer Gesellschaft, in der vieles verboten ist. Sie tanzt an Festen und in den beliebten Kabaretts. Verunglimpft und bewundert zugleich, sind ihre Lieder eine Mischung aus Unanständigem und Heiligem.

Wenn man Mahi Binebine liest, glaubt man, diese stolzen Frauen vor sich tanzen zu sehen, und wird verzaubert.

Pressestimmen

Eine zärtliche und komische Geschichte … Mahi Binebine erweist die­sen freien, starken, liebenswerten Frauen, die Tabus und Verbote brech­en, die schönste Hommage.
— Jeune Afrique
Magisch, sinnlich und sündig.
— Christoph Keller im »Literaturclub«, Schweizer Fernsehen