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Lenos Verlag
Annemarie Schwarzenbach
Romane I
Lyrische Novelle
Flucht nach oben
Tod in Persien
Herausgegeben von
Roger Perret
Sonderausgabe 2014
Copyright © 1988 (Lyrische Novelle), 1999 (Flucht nach oben),
1995 (Tod in Persien) by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 449 9
Die Autorin
Annemarie Schwarzenbach wurde 1908 in rich geboren. Stu-
dium der Geschichte in Zürich und Paris. Ab 1930 enge Freund-
schaft mit Erika und Klaus Mann. 1931 Promotion. 1931 bis
1933 als freie Schriftstellerin zeitweise in Berlin. Erstmals Mor-
phiumkonsum. 1933 bis 1934 Vorderasienreisen. 1935 kurze, un-
glückliche Ehe mit dem französischen Diplomaten Claude Clarac
in Persien. 1936 bis 1938 (Foto-)Reportagen im Zusammenhang
mit Reisen in die USA, nach Danzig, Moskau, Wien, Prag. Ent-
ziehungskuren in der Schweiz. 1939 Reise mit Ella Maillart nach
Afghanistan. 1940 Aufenthalt in den USA. 1941 bis 1942 in Bel-
gisch-Kongo. Die Journalistin, Schriftstellerin und Fotoreporterin
starb 1942 in Sils.
Inhalt
Lyrische Novelle 7
Flucht nach oben 93
Tod in Persien 305
Lyrische Novelle
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1
Diese Stadt ist so klein, man kennt nach einem einzi-
gen Spaziergang jeden Winkel. Auch einen alten, sehr
bschen Hof hinter der Kirche habe ich schon ent-
deckt und den besten Friseur des Ortes, der in einer
gepflasterten Nebenstrasse wohnt. Als ich von seinem
Laden aus einige Schritte weiterging, war ich plötzlich
am Ausgang, es gab nur noch einige Backsteinvillen,
und die Strasse war sandig und sah aus wie ein Feld-
weg. Dahinter begann gleich der Wald. Ich kehrte
um, kam wieder an der Kirche vorbei und kannte
mich ganz gut aus. Durch den alten Hof gelangt man
in die Hauptstrasse, und jetzt trete ich in das Café
»Zum roten Adler«, um hier ein wenig zu schreiben.
In meinem Hotelzimmer komme ich immer wieder
in Versuchung, mich auf mein Bett zu werfen und die
kurzen Stunden des Tages untätig hinzubringen. Es
kostet mich grosse Überwindung zu schreiben, denn
ich habe Fieber, und mein Kopf dröhnt wie unter
Hammerschlägen.
Ich glaube, wenn ich hier einen Menschen kennen
rde, wäre ich gleich am Ende meiner Beherrschung.
Aber ich spreche kein Wort und gehe so umher, ohne
mir über meine Empfindungen klar zu werden.
Das Lokal kommt mir ziemlich merkwürdig
vor. Eigentlich ist es eine Konditorei mit Glaskä-
sten, ausgestellten Kuchen und einer Verkäuferin
in schwarzem Wollkleid mit weisser Schürze. In
der Ecke steht ein hellblauer Kachelofen, und die
10
Sofas sind mit steilen, gepolsterten ckenlehnen
den Wänden entlang aufgestellt. Ein junger Hund
läuft kläffend umher, ein ungepflegtes und armse-
liges Tierchen. Eine grauhaarige Frau versucht ihn
zu streicheln, aber er entwischt ihr mit ängstlich
gebogenem Rücken. Die Alte geht ihm nach, lockt
ihn mit einem Stück Zucker und spricht laut und
unentwegt zu ihm.
Ich glaube, sie ist geisteskrank. Niemand im Lokal
scheint sie zu beachten.
Jetzt habe ich erst zwei Seiten geschrieben, und
schon beginnen die Schmerzen wieder. Es sind Stiche
in der rechten Seite, sie hören sofort auf, wenn ich
mich hinlege oder wenn ich starken Alkohol trinke.
Ich will mich aber nicht niederlegen, ich nnte jetzt
so gut schreiben, und es entmutigt mich sehr, in mei-
ner Einsamkeit untätig zu sein.
Die irrsinnige Alte ist weggegangen, ich rde
gern sehen, wie sie über die Strasse geht und ob sie
auch draussen laut vor sich hinredet wie die grauhaa-
rigen Bettlerinnen in Paris. –
Früher konnte ich Geisteskranke nicht von Be-
trunkenen unterscheiden, ich beobachtete sie mit
einer Art von ehrfürchtigem Grauen. Jetzt habe ich
vor Betrunkenen keine Angst mehr. Ich war selber oft
betrunken, es ist ein schöner und trauriger Zustand,
man wird sich klar über Dinge, die man sich sonst
niemals eingestehen rde, über Empfindungen, die
man zu verbergen trachtet und die doch nicht das
Schlechteste in uns sind. –
11
Ich fühle mich jetzt ein wenig besser. Ich werde
r das, was ich heute schreibe, um die Nachsicht
des Lesers bitten müssen. Aber Sibylle sagte mir,
dass nichts, auch nicht die bittersten Erlebnisse und
die verlorensten Stunden meines Lebens gänzlich
unfruchtbar werden dürfen. Darum liegt mir so viel
daran, selbst in diesem unfähigen Zustand mich mei-
ner Schwäche zu überlassen und sie später einmal der
Kritik zu unterziehen, an der mir einzig gelegen ist:
ob es mir gelingen kann, einmal in irgendeinem Sinn
von Sibylle ernst genommen zu werden.
2
Am schmerzlichsten ist es mir, dass ich weggefahren
bin, ohne von meinem Freund Magnus Abschied ge-
nommen zu haben. Er ist krank, jetzt liegt er schon
seit drei Wochen, und ich habe ihn sehr vernachläs-
sigt. Ich sah ihn vor einigen Tagen, da ging es ihm
ziemlich schlecht. Er lag im Hinterraum seines Ate-
liers, der Arzt war gerade bei ihm und schüttelte mir
die Hand. Er untersuchte ihn schweigend, betrach-
tete die Fieberkurve und gab dem kleinen Portiers-
sohn Anweisungen. Der Portierssohn ist ein blasser
und magerer Bursche von etwa achtzehn Jahren,
er kocht für Magnus und hat jetzt schon die ganze
Pflege übernommen. Wenn Besuch kommt, führt er
ihn selbst in das Atelier und verschwindet dann in
der che. Dort bleibt er, bis Magnus ihn ruft. Er
12
ist ihm sehr ergeben Der Arzt gab ihm ein Re-
zept und schickte ihn in die Apotheke. »Ein braver
Junge«, sagte er zu mir. Und Magnus lächelte, und
meine Zugehörigkeit wurde einfach übersehen. Der
Arzt ging fort, und ich wartete, bis der Junge aus der
Apotheke zurück war.
»Hast du noch Geld?« fragte ich Magnus.
»Haben wir noch Geld?« fragte Magnus den Jun-
gen. Der antwortete: »Du hast mir gestern zehn Mark
gegeben, damit reichen wir vorläufig.«
Sie sagten sich du.
Ich ging dann weg, und ein paar Tage später
schickte mir Magnus eine Einladung zum englischen
Botschafter, die er r mich bekommen hatte, und
schrieb mir einen Brief dazu. Seither habe ich nichts
mehr von ihm gehört.
3
Früher hatte ich immer das Bedürfnis, mich allen
Menschen zu erklären, um mit allen im Einverständ-
nis leben zu können. Und ich hasste doch alle Ge-
schwätzigkeit. Ich weiss aber nicht, ob ich sie hasste,
weil ich ihr immer wieder verfiel, oder weil ich ein-
sah, wie vergeblich alle Versuche sind, sich selbst den
besten Freunden verständlich zu machen.
Ich sage »früher« und meine damit die Zeit, die
drei Monate zurückliegt. Ich habe mich immer ge-
gen alle äusseren Periodisierungen gewehrt, weil ich
13
aufgedrängte Disziplin verabscheute. Jetzt muss ich
mich an Freiwilligkeit gewöhnen, und es ist, als sei
ich in einer einzigen Nacht erwachsen geworden. In
dieser Nacht hätte ich Sibylle im Walltheater sehen
nnen, ich hatte ja die Wahl. Aber ich bin dann
weggefahren. Und vor dieser Nacht hätte ich es hier
keinen Tag ausgehalten. Ich wusste nichts vom Al-
leinsein. Ich halte es sogar aus, von meinen Freunden
missverstanden zu werden. Es war tatsächlich bisher
mein einziger Wunsch, mich ihres Wohlwollens zu
versichern, und ich verschwendete dar meine ganze
Liebenswürdigkeit. Und noch viel mehr.
Damit bin ich jetzt zu Ende. Wer weiss, was dar-
aus entsteht.
4
Es ist schade um die Menschen, sagt Strindberg. Vor
einigen Monaten sass ich mit einem Dichter zusam-
men in einem Berliner Kaffeehaus, wir redeten begei-
stert und begeisterten uns immer mehr an unserem
gegenseitigen Einverständnis. Er war viele Jahre älter
als ich, ich hätte beinahe sein Sohn sein können. Er
beugte sich über den kleinen Tisch und hielt meine
Hände fest, er schleuderte mir seine Ekstase, seinen
Optimismus, seine rauschähnliche Freude wie Flam-
men entgegen. »Sie sind die Jugend«, sagte er, »die
einzige Jugend, der ich die Zukunft und den Sieg
über uns nicht missgönne –«
Lyrische Novelle – Flucht nach oben – Tod in Persien

Herausgegeben von Roger Perret


Softcover
ISBN 978-3-85787-449-9
Seiten 429
Erschienen Februar 2014
€ 18.00 / Fr. 22.50

Ausgaben
Softcover (2014)

Die Lyrische Novelle zieht als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Der Text erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch Annemarie Schwarzenbach bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte »hätte man eingestehen müssen«, dass der Held »kein Jüngling, sondern ein Mädchen« sei.

Flucht nach oben ist »bestürzend jung und individualistisch, ganz unschweizerisch mondän im Gehabe und kosmopolitisch im Milieu« (Carl Seelig), seine Protagonisten gehören zu den »Abseitsstehenden«, die immer und überall fremd sind. Ein in der Schweizer Literatur der Zwischenkriegszeit einzigartiges Dokument einer frühexistentialistischen Welterfahrung.

Tagebuch, Erzählung, Reisebericht, Aufzeichnungen über den »Versuch« einer – lesbischen – Liebe: Tod in Persien ist Autobiographie und Fiktion zugleich, bekennt und verschweigt viel. Es ist das Zeugnis einer Begegnung mit dem Fremden, unfassbar und abgründig.


Pressestimmen

Es lohnt sich, sich mit Annemarie Schwarzenbach zu beschäftigen.
— Elke Heidenreich

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