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Lenos Verlag
Peter Gisi
Mutters Krieg
Roman
Erste Auflage 2022
Copyright © 2022 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto vorn: Java, 1931. Hanneke schaut in die Kamera,
neben ihr Corrie, dahinter ihre Mutter mit Jan in den Armen,
der noch vor dem Krieg an einer Kinderkrankheit sterben wird.
Foto aus Familienbesitz
Umschlagfoto hinten: Pixabay
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 019 6
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Der Autor und der Verlag danken dem Fachausschuss Literatur
BS/BL für die Förderung dieses Romanprojektes.
Für Judith,
ohne die ich dieses Buch nie hätte schreiben können
Mais la terre, c’est nous.
Robert Desnos
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1.
Um die Mittagszeit fahre ich mit dem Zug auf dem
Weg nach Zürich an der Limmat vorbei, vorbei
an jener sanft geschwungenen Biegung nach dem
Bahnhof Dietikon, in der der Fluss sich zu entblös
-
sen scheint. Die Farbe des Wassers ist braun, ein
aufgeschwollenes tropisches Braun unter dem grau
-
schwarzen Himmel. Ich schliesse die Augen, um
mich kurz vor der Sitzung in Zürich zu entspan
-
nen. Für den Fluss öffne ich die Augen. Das braune
Flusswasser nahe dem Zug ein Wachtraum zwischen
Schlaf und Schlaf.
Abends, kurz nach sieben, auf dem Weg zurück
nach Basel, ist der Fluss silbern. Fliessendes Silber
im grünen Beet. Jemand muss den Fluss in einen
Fisch verwandelt haben.
2.
Warmer Regen frühmorgens im Hinterhof hier an
der Schönaustrasse, dunkler, schwüler Mai zwischen
dem hohen Gras, den Hortensien, dem Jasmin, den
Säulen-Hainbuchen in meiner Strasse, unter den
Purpureschen und Flaumeichen eine Strasse weiter,
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den Japanischen Schnurbäumen in der Schwarz-
waldallee. Regen und Mai zeichnen Ornamente ins
Matthäus- und Rosentalquartier des Kleinbasel,
organische Flechtwerke aus Blumen, Bäumen, den
Fliederwolken. Vereinzelte Palmen in Vorgärten in
den menschenleeren Strassen nahe dem Rhein. – Ein
Tiger würde hier nicht auffallen, er wäre gut getarnt,
seine weissgoldenen Streifen geschmeidig zwischen
den Rhododendronbüschen.
Ich erinnere mich ans Planschbecken auf dem
Winkelriedplatz, der an die Sempacherstrasse an
-
stösst. Ein Kinderbad für die ganz Kleinen in ei-
ner städtischen Anlage. Die Erinnerung an den
Schmerz, wenn das Ventil des Autopneuschlau
-
ches meine Haut aufritzte. Kinderschmerz. Grosser
Gummischlauch um meinen Bauch, schwarz wie
die glänzende Haut von Seelöwen. Wir konnten
auch rücklings auf dem nach Sommer riechenden
Gummi liegen, dann ritzte das messerscharfe Ven
-
til die Rückenhaut auf. Mutter konnte in Indone-
sien nicht im Fluss hinter dem elterlichen Haus
schwimmen, wegen der Krokodile. Vater schwamm
ohnehin nie besonders gern. Fünf abgezählte Bah
-
nen für die Gesundheit, höchstens. Nicht kopfvoran
in die jadegrünen Tiefen des Naturbades von Ban
-
dung, wie es Mutter so oft getan haben muss, im
schattigen Teil unter den Palmen. Dort, wo die
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Wasserschlangen schwimmen und der kühle Erd-
geruch vom schlammigen Grund her in die Nase
steigt.
3.
In der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März 1942
landet die 16. Japanische Armee auf vier nördlichen
Stränden von Java. Sie überrennt in knapp zehn Ta
-
gen die niederländischen Verteidigungslinien. Die
Kaiserlich Japanische Armee ist in der Luft, auf dem
Wasser und auf dem Boden den niederländischen
und alliierten Verteidigern haushoch überlegen. Am
8. März, um neun Uhr morgens, verkündet Gene
-
ral ter Poorten über Funk die Kapitulation auf Java.
Danach ziehen die siegreichen japanischen Einhei
-
ten in den Städten ein. Paraden mit Marschmusik
durch leergefegte Strassen, die Zivilbevölkerung
versucht sich zu verbergen.
Mutter ist zwölf. Sie erinnert sich, wie die Ja
-
paner in den ersten Tagen der Besatzung zwei ihrer
koreanischen Hilfssoldaten öffentlich hingerichtet
haben. Um klarzumachen, welche neue Ordnung ab
jetzt gelten würde. Die Koreaner wurden pro forma
beschuldigt, sich an niederländischen Frauen ver
-
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griffen zu haben. In Wahrheit hatten sie die Frauen
kaum anzuschauen gewagt. Ganz anders als die ja
-
panische Soldateska. Es gibt viele Geschichten von
Frauen, die damals als kleine Mädchen zuschauen
mussten, wie ihre Mutter vergewaltigt wurde. Oder
die ältere Schwester. Fünf kahlgeschorene, ungewa
-
schene »Jappen« mit schweren Nagelschuhen, die
sich laut grunzend über die dreizehnjährige Els her
-
machten.
Die beiden Koreaner wurden auf dem Markt
-
platz mit Bambusstöcken zu Tode geschlagen, dort,
in jenem traumatischen März 1942. Die ganze Be
-
völkerung von Bandung wurde gezwungen zuzu-
schauen. Starke, durchtrainierte Männer zu schla-
gen, bis sie tot sind, braucht Zeit. Mutter bemerkt
lakonisch, ja, am Schluss brauchten die Japaner
dann ihre Säbel. Vor den Niederländern hatten die
Japaner etwas mehr Respekt als vor ihren koreani
-
schen Hilfssoldaten. Aber es war eine Schande, dass
sie sich ergeben hatten. Sich nicht ums Leben ge
-
bracht hatten aus Scham. Im Universum von Japan
ist es das Äusserste an Erniedrigung, lebend in die
Hände des Feindes zu fallen, eine Schande, schlim
-
mer als der Tod.
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4.
Mutter kann einen Löffel Salz essen, ohne mit der
Wimper zu zucken. Ihre Geschmackspapillen sind
beschädigt vom Vitaminmangel im Lager. Wenn
ich als kleines Kind mit einem blutigen Knie zu
ihr gehe, schaut sie kurz von ihrem Buch auf und
liest dann wortlos weiter. Ich bin mit dem Trotti
-
nett aus der Kurve geflogen im Margarethenpark
und mit dem Knie auf dem Teerbelag aufgeschla
-
gen. Es ist ein bisschen wie fliegen, mit dem Trotti-
nett den Hügelweg steil hinabzusausen, unten hals-
brecherisch den Bäumen auszuweichen, es bis zur
Kurve zu schaffen, wo ich dann viel zu viel Fahrt
habe. Schwarze Steinchen im Blut auf dem Knie,
die Hände aufgeschürft. Kinderschmerz. Gerechte
Strafe für die eigene Vermessenheit. Und ganz allein
im leeren Park, Mutter weg in einem Buch.
5.
Vater hat mir oft von seinen für ihn schockieren
-
den Erlebnissen mit Mutter erzählt. Einmal habe er
beim Abendessen einen Bissen einer faulen Tomate
wieder ausgespuckt. Und zack! hatte er einen Faust
-
14
schlag im Gesicht. Schneidender Sarkasmus in Mut-
ters Stimme: »Du bist so verwöhnt. Uns im Lager
hätte das, was du gerade gemacht hast, das Leben
gekostet. Auch in einer faulen Tomate sind viel
-
leicht noch Vitamine.« Er habe diese Wutausbrü-
che nie begreifen können. Vater fügte hinzu: »Das
Konzentrationslager ist noch irgendwo in Mutter
gegenwärtig.«
Wollte ich als Kind auch ins Lager? Nein, das
nicht. Dort gab es keine Bücher. Das
WC war ein
offener, in der Hitze stinkender Graben, über den
man sich zusammen mit anderen hocken musste,
und es gab kein
WC-Papier. Jeden Morgen ohne et-
was im Magen zum Appell antreten, sich stunden-
lang nicht rühren dürfen, während die Japaner mit
ihren Bajonetten zählten und brüllten. Dort gab es
keine Freunde und Freundinnen. Mutter, ein Kind,
war schmutzig und hatte Hunger, Hunger, Hunger.
6.
Mutter war in zwei Lagern auf Java. Das erste Lager,
in dem sie überleben musste, war in Bandung, im
Inneren der Insel, das zweite hiess Struiswijk und
war in Batavia, dem heutigen Jakarta.
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Die Lager waren in Basel genauso präsent wie
später in den Niederlanden, in Rijswijk, wohin
sie mit uns drei Kindern nach der Scheidung von
unserem Vater gezogen war. Hätte man die Tapete
von der Wand gekratzt, die Holzwand einer Bara
-
cke wäre sichtbar geworden. Mutters Lager, Mutters
Krieg, Mutters Hunger, Mutters Einsamkeit. Alles
versteckt im Kleiderkasten in Basel, wo zwischen
den wollenen Sachen die weissen Mottenkugeln
süsslich rochen.
Einmal war ich nachmittags allein zu Hause, weil
ich nicht in den Kindergarten musste. Ich war im
-
mer auf Entdeckungstouren, endlose Expeditionen
in unserer kleinen Basler Vierzimmerwohnung. An
diesem Nachmittag machte ich eine Entdeckung.
Ich fand heraus, dass ich ein einzelnes Holzklötz
-
chen aus dem Parkettboden herauslösen konnte.
Mit der nötigen Geduld und etwas wissenschaftli
-
cher Neugier. Es war, als hätte ich den Eingang zu
einer geheimen Höhle im Margarethenpark gefun
-
den. Wir hatten keine grossen Tannen- oder Tropen-
holzriemen, sondern eine feingemusterte Ordnung
kleiner, geschnittener Hölzchen. Das Erlebnis, dass
diese scheinbar unbewegliche Ordnung des festen
Bodens in der grossen Stube sich auflösen liess. Ein
Gefühl von grosser Lust, wie sich nach dem ersten
Klötzchen das Nachbarhölzchen ebenso heben liess.
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Und so weiter. Bis die halbe Stube eine offene Flä-
che aus grauem Beton war, der teure Bodenbelag auf
einem Haufen daneben. Aufbrechen, untersuchen,
fühlen, fühlen der rohe Beton viel spürbarer als das
glatte Holz. Unter dem Holz der Beton. Eine Wirk
-
lichkeit, wie eigene Hände zu haben. Ich war stolz
auf mich. Es war etwas von mir selber, etwas für
mich selber, das ich freigelegt hatte. Ich erwartete
für meine Arbeit Anerkennung. Der Wutausbruch
meiner Eltern konnte mich nicht überzeugen, dass
ich etwas Falsches gemacht hätte.
Graben nach einem Schatz, dem Schatz im Sil
-
bersee, er muss unter dem Teppich in der Diele sein.
Ich rolle den Teppich auf die Seite, die grobe Wolle
in meinen Händen, die dicke Schicht Staub unter
dem Teppich, wie ein zweiter Teppich, dann kommt
das harte, glatte Holz des Parketts; ich grabe wei
-
ter, reisse die Klötzchen weg, der graue Betonboden
wird fühlbar. Wenn ich weitergraben könnte, würde
ich ihn aufbrechen, den Schatz im Silbersee finden,
oder eine Kiste mit Juwelen auf dem Boden des
Meeres. Ich tauche tief hinab ins Meer aus Teppich
-
wolle, Staub, Holz, Beton. Haifische greifen mich an
im blauen Wasser, ich habe aber einen gusseisernen
Helm an. Der Schatz ist in unserer Wohnung, ich
weiss es, tief unter der Meeresoberfläche aus roter
Teppichwolle.
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Die dicke Schicht Staub auf dem Parkett, die
zum Vorschein kommt, ist beinahe essbar. Wie die
ausgespuckten Kaugummistücke auf der Strasse.
Auf dem Trottinett mache ich Jagd auf Kaugum
-
mis. Auch noch die härtesten Stücke klaube ich vom
Asphalt in unserer Strasse und in der Unterführung
zum Bahnhof. Glücklich beim Rest von Geschmack
nach Zucker oder Himbeere. Schon die grossen Stü
-
cke der Kaumasse an sich sind genug attraktiv, um
sie sich in den Mund zu stecken. Im Winter die
ganz hart gewordenen Klumpen wieder knetbar zu
machen, mit Zunge, Gaumen, Zähnen zu spüren,
wie der Kaugummi weicher, wärmer wird. Dazu
kommt, dass ich die Kaugummis selber auf der
Strasse entdecken kann. Wie Fünfrappenstücke, ihr
Geschmack von Kupfer und Asphalt.
7.
Im Sommer 2011 reiste ich in die Niederlande, aus
-
gerüstet mit einem japanischen Aufnahmegerät, um
Mutters Geschichte aufzuzeichnen. Dies, nachdem
ich meine Kindheitserinnerungen aufgeschrieben
hatte. Zum Glück hatte ich den digitalen Rekor
-
der dabei, sonst wäre ich weggespült worden. Die-
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ses Gefühl, ausgelöscht zu werden, weniger durch
die Geschichten von Mutter selber als durch die Art
und Weise ihres Erzählens, das ist schwierig zu be
-
schreiben. Die Stimmung war diffus, die Gefühle so
tief … Ich löste mich wie ein Stück Zucker in Mut
-
ters Welt auf, wie immer.
In Mutters Apartment in der Altersresidenz in
Amersfoort war es im August 2011 so kalt wie im
Winter 1942/43 in Warschau. Gleichzeitig waren
wir auf Java. Ich klammerte mich an mein japani
-
sches Aufnahmegerät wie ein Schiffbrüchiger an
eine Schiffsplanke.
Mutters ohnmächtige Wut auf die Japaner im La
-
ger war, auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach
dem Krieg, wie ein Ozean im Zimmer. Ein Ozean,
in dem ich als Kind ertrunken war – und auch jetzt,
mit Mitte fünfzig, wurde ich von ihren Gefühlen
hinaus aufs Meer gespült, das gegen das grosse Pan
-
oramafenster ihrer Alterswohnung brandete.
Mutter
Nach der japanischen Kapitulation, im August 1945,
brach in Indonesien der Unabhängigkeitskrieg aus, das
war rampok, das war Morden, Morden, Morden. Ex
-
treme Gewalt, ein Zustand von absoluter Rechtlosigkeit.
Ich war gerade sechzehn geworden und hatte überhaupt
kein Gefühl von Befreiung. Der eine Krieg löste einfach
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den anderen ab. Die Indonesier waren traumatisiert von
der japanischen Besatzung. Mehr als dreieinhalb Jahre
Zwangsarbeit, Ausbeutung und Hungersnot. Die Japaner
waren und sind Rassisten. Die hatten die grösste Verach
-
tung für alle anderen asiatischen Völker.
Die Javaner sind ein Volk mit einer grossen Toleranz,
aber wenn es denn mal kracht, dann richtig. Ich bin keine
Psychologin, aber so war es eigentlich immer. In Indone
-
sien war die Bevölkerung im Allgemeinen sehr friedlich
und introvertiert, aber wenn es zu einem Ausbruch kam,
dann ging sie an die Decke. Zu der Zeit gerade nach dem
Weltkrieg war es so, dass die Indonesier noch keine Armee
hatten, das war ein rechtloser Zustand, und dann wurden
auch viele alte Rechnungen beglichen und Familienfeh
-
den ausgetragen. Der Nachbar hatte eine Kuh, deswegen
wurde er ermordet.
Einmal ging ich auf die Suche nach meiner früheren
Freundin aus der Zeit vor dem Krieg. Es war ein indone
-
sisches Mädchen, und ich kannte auch ihre Familie. Sie
wohnten in einem Dorf, nicht weit weg von Batavia. Ich
bin mit dem Velo hingeradelt. Wie gesagt, ich hatte sie seit
fünf Jahren nicht mehr gesehen. Als ich in das Dorf kam,
sah ich schon von weitem, dass etwas Schlimmes gesche
-
hen war, und eigentlich hätte ich nicht weitergehen sollen.
Über dem Haus der Familie war eine enorme schwarze
Wolke aus Fliegen. Ich ging in das Haus hinein und sah
die ganze Familie geköpft in der Küche liegen. Die Köpfe
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waren in den Dorfbrunnen geworfen worden. So war das
auf dem Land. Das hatte sicher keinen politischen Hinter
-
grund, das war einfach eine Familienrivalität, die ausge-
tragen wurde.
8.
Als kleines Kind wäre ich am liebsten ganz lange
still gestanden im Eingang des Warenhauses. Die
Warmluft schien von überall her zu blasen. Vom Bo
-
den, von den Seiten und von oben herab. Glück, das
in den Haaren zu spüren ist, das unter der Wind
-
jacke nach Brust und Schultern greift, das von un-
ten her die Hosenbeine bläht, Waden und Schenkel
heiss berührt. In der frühen Winterdämmerung mit
Mutter in der Stadt einkaufen. Es gab da ein grosses
Warenhaus beim Marktplatz in der Mitte der Stadt
und das Warenhaus Rheinbrücke auf der anderen
Seite des Flusses. Ein Vorhang aus warmer Luft,
durch den ich in die verheissungsvolle Warenwelt
eintreten konnte. Stadt, Mutter, Wärme und Win
-
terdämmerung waren für einen Moment ganz dicht
beisammen.
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9.
Auch im Kindergarten war es warm. Einmal kam
ich morgens zu spät, wagte mich bis an die Tür.
Dahinter der für mich jetzt verschlossene, feindli
-
che Kreis von Kindern mit der Kindergärtnerin. In
Panik flüchtete ich die grosse Treppe wieder hinun
-
ter. Aber sie hatten mich gehört und kamen heraus,
um zu schauen, was da los war. Ich strauchelte, fiel
kopfvoran die Treppe hinunter. Da lag ich auf der
Türmatte am Fuss der Treppe, voller Scham, und
schaute die mächtige Treppe hinauf, wo die ganze
Gruppe beisammenstand und auf den Unglückli
-
chen herabblickte.
Oft sassen wir auf Bänkchen im Kreis. Einmal
machten wir ein Spiel, in dem jeder von uns etwas
pantomimisch darstellen sollte. Als ich an der Reihe
war, fiel mir nichts anderes ein, als zu versuchen, den
Kreis gewaltsam zu sprengen. Als ob ich mich be
-
engt fühlte und etwas Spektakuläres von mir erwar-
tet würde. Ich trat den Papierkorb aus Bast um, der
beinahe so hoch war wie ich. Der Abfall, Massen von
bunten Papierschnipseln, flog in die Runde. Entset
-
zen, Aufruhr, Strafe. Ich fühlte mich ganz gut, trotz
der Strafe. Das war ich, der da mit aller Kraft trat,
das war der schwere Korb, der ein paar Meter weit
flog. Sportliche Leistung.
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Einmal sassen wir im Kreis, als ein Junge zu
weinen begann. Warum er das tat, weiss ich nicht
mehr, es war aber nicht wegen eines körperlichen
Schmerzes. Die Kindergärtnerin versuchte, ihn zu
trösten, und ich erinnere mich, wie ich den Jungen
aus tiefstem Herzen verachtete. Zu weinen wegen
nichts. Und das Getue der Kindergärtnerin, es ver
-
stärkte die Peinlichkeit noch. Ich schämte mich für
den Jungen, für seine Tränen, ich weinte nie, würde
das auch niemals tun.
10.
Von meiner Schwester Katrien habe ich zum ersten
Mal gehört, dass Mutter, im Bürgerkrieg auf Java,
vergewaltigt worden war. Nach der japanischen
Kapitulation also, da muss Mutter sechzehn Jahre
alt gewesen sein, vielleicht knapp siebzehn. Irgend
-
wann in den neunziger Jahren habe ich mich ge-
traut, sie mit der entsprechenden Vorsicht danach
zu fragen. Mutter antwortete mit der ihr eigenen
Lakonie: »Ja, es war eine Gruppenvergewaltigung.
Drei englische Soldaten. Der dritte Mann machte
dann aber nicht mehr mit, als er sah, dass ich keinen
Spass daran hatte.«
23
11.
Ich bin allein auf meinem Trottinett. Allein in der
Gundeldingerstrasse, der Dornacherstrasse, der Solo
-
thurnerstrasse, der Jurastrasse. Strassen sind Erdteile
im Quartier, in dem ich ein kleines Kind bin. Meine
Wohnung ist weit weg. Dort sitzt Mutter einge
-
schlossen in ihrem Buch. Ein englisches Buch. Ich
kann kein Englisch. Indianer können kein Englisch.
Ich kann nicht mit Mutter reden. Mutter sieht mich
nicht, hört mich nicht. Sie ist hinter vielen Strassen
in einem anderen Land.
Die Strassensteine gleiten unter mir hinweg.
Mit meinem rechten Fuss steppe ich durch die
Stadt. Nur ich bin in der Stadt und die Kriege.
Indianeraufstände. Endlose Belagerungen von Bur
-
gen. Kinderkreuzzüge gegen Jerusalem. Und Hun-
nen. Die Wogen der Reiterarmee machen keine
Gefangenen. Kinder, Frauen, Alte fallen unter
den Schwerthieben. Die Hunnen sind das grau
-
samste Volk. Sie lösen sich vom Horizont, galop-
pieren über die Steppe. Dumpf das Dröhnen der
hunderttausend Hufe eine schwarze Wolke, die
von Osten her über die Stadt kommt. Wenn ich
nicht schnell genug bin auf dem Trottinett, werden
sie mich einholen. Sie sind schon in die Aussen
-
quartiere der Stadt eingedrungen. Ich muss noch

Nominiert für den Terra-Nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung

Peter Gisi
Mutters Krieg

Roman

Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-03925-019-6
Seiten 141
Erschienen 5. April 2022
€ 23.00 / Fr. 26.00

Die Spurensuche eines Sohnes, ein aufwühlendes literarisches Debüt

Ihr Vater war ein niederländischer Unternehmer auf Java, ihre Kindheit verbrachte sie barfuss im Inselparadies – bis der Zweite Weltkrieg und die japanischen Internierungslager kamen und sich alles für immer veränderte. Krieg, wie er auch später in ihrem Haus in Basel herrscht, wo sie mit ihrem Schweizer Ehemann und drei Kindern lebt. Krieg, der in der Familie omnipräsent ist und doch unfassbar. Der ihren ältesten Sohn krank macht, während sie sich innerlich aus der Gegenwart verabschiedet. Als die konfliktreiche Ehe zerbricht, zieht sie mit den Kindern nach Holland. Jahrzehnte später begibt sich ihr Sohn auf Spurensuche: Er will Mutters Krieg und dessen Folgen ins Auge sehen.

Peter Gisis Roman ist eine wunderschöne und grausame Reise in die Vergangenheit. Er fragt seine Mutter nach den Ereignissen auf Java, und in seinen eigenen Kindheitserinnerungen webt er mit grossartigen, phantasievollen Bildern den Schrecken weiter. Selten wurde so überwältigend und doch subtil über Traumata geschrieben.

Pressestimmen

Bei allem Schmerz und aller Traurigkeit ist es nicht einfach ein tristes Buch. Denn es lebt auch von der erstaunlichen Widerstandsfähigkeit, von der berührenden Kraft der Imagination und der Bilder (…) Und nicht zuletzt überzeugt der Roman durch seine eigenwillige Poesie, mal nüchtern dokumentarisch, mal urkomisch, mal himmelschreiend.
— Alfred Schlienger, bz Basel
Ein grosser, schmerzlicher Stoff; so schonungslos wie nötig erzählt und dabei so emphatisch und poetisch wie möglich.
— Verena Stössinger
Wie er Wege aus seiner Isolation findet in ein Erwachsensein mit Sprache, Büchern und Mitmenschen, erzählt Peter Gisi auf eindrückliche Weise, die stets auch Wärme und leise Ironie zulässt. Der 65-jährige Basler verwendet wunderbar sinnliche Sprachbilder, in denen Erinnerungen duften, Warenhauslüftungen Glücksgefühle auslösen oder Musik in der Farbe Gelb erklingt.
— Frank von Niederhäusern, kulturtipp