LENOS
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Lenos Verlag
Leila Aboulela
Minarett
Roman
Aus dem Englischen
von Irma Wehrli
Die Übersetzerin
Irma Wehrli, geboren 1954 in Liestal. Studium der Anglistik, Germa
-
nistik und Romanistik. Schwerpunkt ihrer Übersetzungstätigkeit sind
englische und amerikanische Autoren des 19. Jahrhunderts und der
klassischen Moderne (Hardy, Wilde, Kipling, Mansfield, Hawthorne,
Whitman, Cather, Wolfe u. a.). Für ihre Übertragung des Romans Of
Time and the River von Thomas Wolfe wurde ihr 2011 das Zuger Über
-
setzer-Stipendium zugesprochen, 2017 wurde ihr die Ehrendoktor-
würde der Universität Basel für ihr Gesamtwerk als Kulturvermittlerin
verliehen. Für den Lenos Verlag übersetzte sie 2019 When the Emperor
Was Divine von Julie Otsuka.
Die Übersetzerin dankt der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für
die Unterstützung.
Titel der englischen Originalausgabe:
Minaret
Copyright © 2005 by Leila Aboulela
Erste Auflage 2020
Copyright © der deutschen Übersetzung
2020 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: Sandrine Vivès-Rotger
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 005 9
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Struktur
-
beitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Minarett
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Bismillâh al-rachmân al-rahîm
1
Ich bin gesunken, tief gesunken. Ich bin abgerutscht an
einen Ort, wo die Decke niedrig ist und man sich kaum
bewegen kann. Meistens finde ich mich damit ab. Meis
-
tens begehre ich nicht auf. Ich nehme mein Urteil an und
grüble nicht und schaue nicht hinter mich. Aber manch
-
mal bringt eine Veränderung die Erinnerung zurück. Der
gewohnte Trott wird gestört, und ein Neuanfang lässt
mich jäh erkennen, wozu ich geworden bin, wie ich da auf
einer Strasse voller Herbstlaub stehe. Die Bäume im Park
gegenüber sind wie poliertes Silber und Messing. Ich bli
-
cke auf und sehe das Minarett der Moschee von Regent’s
Park über den Bäumen. Ich habe es noch nie so früh am
Morgen gesehen, in diesem verletzlichen Licht. London ist
am schönsten im Herbst. Im Sommer ist die Stadt aufge
-
dunsen und schäbig, im Winter wird sie von der Weih-
nachtsbeleuchtung geflutet, und der Frühling, die Zeit der
Geburt, ist immer enttäuschend. Jetzt ist ihr bester Mo
-
ment, jetzt ist sie mit sich im Reinen, wie eine reife Frau,
deren Schönheit nicht mehr taufrisch ist und doch seltsam
betörend.
Mein Atem dampft. Ich bleibe stehen, um auf einen
Klingelknopf zu drücken, die Adresse steht in meinem
Notizbuch. Um acht, hat sie gesagt. Ich huste und be
-
fürchte, auch in Gegenwart meiner neuen Arbeitgeberin
husten zu müssen, so dass sie sich sorgt, ich könnte ihr
Kind anstecken. Aber vielleicht neigt sie nicht zu Ängst
-
lichkeit. Ich kenne sie ja noch nicht. Ich habe sie erst ein-
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mal gesehen, letzte Woche, als sie auf der Suche nach einer
Hausangestellten in die Moschee kam. Sie wirkte elegant
und in Eile. Ihr Seidentuch war nachlässig um Kopf und
Nacken geschlungen, und als es verrutschte und ihr Haar
entblösste, nahm sie sich nicht die Mühe, es wieder zu
-
rechtzuzupfen. So sind manche Araberinnen eine reiche
Studentin, Ende zwanzig, die das Leben im Westen aus
-
kostet … Aber ich kannte sie trotzdem noch nicht. Sie war
nicht sie selbst, als sie mich ansprach. Die wenigsten Leute
sind in einer Moschee ganz bei sich. Sie sind kleinlaut, und
ein fragiler, vernachlässigter Teil ihrer selbst beherrscht
sie.
Hoffentlich hat sie mich nicht vergessen. Hoffentlich
hat sie sich nicht umentschieden und ihr kleines Mädchen
in eine Kinderkrippe gegeben oder jemand anders genom
-
men. Und hoffentlich bleibt ihre Mutter, die das Baby bis
jetzt gehütet hat, nicht noch länger in Grossbritannien,
und es braucht mich gar nicht mehr. Auf der St John’s
Wood High Street ist viel los. Männer im Anzug und
junge Frauen in topmodischen Kleidern steigen in neue
Autos und brausen zu ihren tollen Arbeitsplätzen davon.
Das ist eine piekfeine Gegend. Pastellrosa und viel Platz,
wie es Leuten mit Geld vergönnt ist. Die Vergangenheit
nagt, doch es sind nicht Besitztümer, die ich vermisse. Ich
will keinen neuen Mantel, sondern möchte bloss meinen
alten öfter reinigen lassen können. Ich wünschte nur, man
hätte mir nicht so viele Türen vor der Nase zugeschlagen:
die Türen von Taxis und Schulen, von Kosmetiksalons
und Reisebüros, mit denen ich auf den Haddsch
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gehen
könnte …
9
Als jemand sich an der Türsprechanlage meldet, sage
ich mit hoffnungsvoll angespannter Stimme: »Salam alai
-
kum, ich bin’s, Nadschwa …« Sie erwartet mich, alham-
dulillâh.
3
Ich werde vom Geräusch des Summers fast eu-
phorisch. Ich stosse die Tür auf, und Holzwände umgeben
mich: wohlkonservierte und gepflegte Vergangenheit. Das
ist ein wunderbares Haus, würdevoll und behäbig. Altes,
umsichtiges Geld, von Generation um Generation mit
Liebe und Sorgfalt gehätschelt. Nicht wie das Geld meines
Vaters, das ein Regime eingetrieben und Omar verschwen
-
det hatte. Und auch ich war leichtsinnig mit meinem An-
teil gewesen und hatte nichts Nützliches damit angefan-
gen. In der Eingangshalle hängt ein Spiegel. Er zeigt eine
Frau mit weissem Kopftuch im unförmigen beigen Man
-
tel. Die Augen sind zu hell und die Wimpern zu lang, aber
trotzdem sehe ich unscheinbar und verlässlich aus und bin
im richtigen Alter. Ein junges Kindermädchen könnte
nachlässig sein und ein älteres sich über Rückenschmerzen
beklagen. Ich bin im richtigen Alter.
Der Aufzug ist altertümlich, so dass ich an der Tür rüt
-
teln muss. Der Lärm dröhnt durch die elegante Stille des
Hauses. Ich will den Knopf ins zweite Stockwerk drücken,
aber auf dem ersten Knopf steht eins bis drei, auf dem zwei
-
ten drei bis vier und auf dem dritten vier bis sechs. Ich ver-
suche mir einen Reim darauf zu machen, bin aber noch im-
mer verwirrt. Ich beschliesse, lieber die Treppe zu nehmen.
Über mir fällt eine Tür ins Schloss, und eilige Schritte kom
-
men die Stufen herunter. Ein hochaufgeschossener junger
Mann mit spriessendem Bart und Lockenschopf taucht vor
mir auf. Ich halte ihn auf und frage ihn wegen des Aufzugs.
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»Das sind die Nummern der Wohnungen und nicht der
Stockwerke.« Er spricht Englisch, als wäre es seine Mut
-
tersprache, aber sein Akzent ist nicht von hier. In London
errät man die Herkunft der Leute nur mit Mühe. Wäre er
Sudanese, so würde er als hellhäutig gelten, aber ich kann
ja nicht wissen, ob er einer ist.
»Ach so, danke.« Ich lächle, doch er erwidert das
-
cheln nicht.
Stattdessen wiederholt er: »Sie müssen einfach auf die
Nummer der Wohnung drücken, zu der Sie wollen.« Seine
Augen sind wässrig braun, und es glänzt kein Scharfsinn
darin, ganz im Unterschied zu Anwar, sondern Intuition.
Ja, vielleicht ist er empfindsam, aber nicht besonders klug,
nicht so schlagfertig und blitzgescheit wie die meisten
jungen Leute.
Ich danke ihm noch einmal, und er neigt ein wenig den
Kopf und zuckt mit den Schultern, um den Riemen seiner
Tasche zurechtzurücken. Die Jugend gibt uns einen Vor
-
geschmack auf das Paradies, heisst es. Als er sich entfernt
und das Gebäude verlässt, wird alles wieder wie sonst.
Ich fahre hoch, öffne die Lifttür, betrete einen eleganten,
gesaugten Teppich und mache hoffnungsvolle Schritte auf
die Wohnung zu. Ich werde mit dem kleinen Mädchen auf
den Platz gegenüber gehen. Ich werde mit ihr zur Moschee
gehen und es so einrichten, dass ich mit den anderen beten
und danach die Enten in Regent’s Park füttern kann. Sehr
wahrscheinlich hat die Wohnung Satellitenfernsehen, und
ich kann einen ägyptischen Film bei
ART und die Nach-
richten auf al-Dschasîra sehen. Letzte Woche hörte ich
einen Vortrag, und diese Worte sind mir im Gedächtnis
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geblieben und haben mich am meisten berührt: Die Gnade
Allahs ist weit wie das Meer. Unsere Sünden sind ein Lehmklum
-
pen im Schnabel einer Taube. Die Taube sitzt auf einem Zweig
am Rand dieses Meers. Sie muss bloss ihren Schnabel öffnen.
Erster Teil
Khartum, 1984/85
15
Eins
»Omar, bist du wach?« Ich schüttelte den Arm über sei-
nem Gesicht, der seine Augen verdeckte.
»Hmm.«
»Steh auf.« Sein Zimmer war angenehm kühl, weil er
die beste Klimaanlage im Haus hatte.
»Ich kann mich nicht rühren.« Er nahm den Arm vom
Gesicht und blinzelte mich an. Ich wich mit dem Kopf
zurück und rümpfte wegen seines Mundgeruchs die Nase.
»Wenn du nicht aufstehst, nehme ich das Auto.«
»Im Ernst, ich kann nicht … ich kann mich nicht rüh
-
ren.«
»Na, dann fahre ich ohne dich.« Ich ging an seinem
Schrank und dem Michael-Jackson-Poster vorbei zum an
-
deren Ende des Zimmers. Dort schaltete ich die Klimaan-
lage aus. Das Gerät verstummte geräuschvoll, und die Hitze
lauerte draussen und wartete darauf, sich hereinzustürzen.
»Warum tust du mir das an?«
Ich lachte und sagte munter: »Das wird dich aus den
Federn jagen.«
Unten trank ich Tee mit Baba. Er sah immer so gut aus am
Morgen, frisch geduscht und nach Rasierwasser duftend.
»Wo ist dein Bruder?«, brummte er.
»Kommt wohl gleich runter«, sagte ich.
»Und wo ist deine Mutter?«
»Es ist Mittwoch, sie geht ins Fitnesstraining.« Es ver
-
blüffte mich stets, wie unbeirrbar Baba Mutters Termin-
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kalender vergass und wie seine Augen hinter den Brillen-
gläsern besorgt ins Leere blickten, wenn er von ihr sprach.
Er hatte nach oben geheiratet, um voranzukommen. Seine
Lebensgeschichte bestand darin, wie er es aus bescheide
-
nen Verhältnissen zum Stabschef des Präsidenten brachte,
nachdem er in eine alte, vermögende Familie eingeheira
-
tet hatte. Ich hörte mir die Geschichte ungern an, sie ver-
wirrte mich. Ich glich allzu sehr meiner Mutter.
»Verwöhnt«, murmelte er über seiner Teetasse, »ihr
seid alle drei verwöhnt.«
»Ich werde es Mama sagen, dass du so über sie sprichst!«
Er verzog das Gesicht. »Sie ist zu nachsichtig mit dei
-
nem Bruder. Das ist nicht gut für ihn. Als ich so alt war
wie er, schuftete ich Tag und Nacht; ich wollte es zu etwas
bringen …«
O nein, dachte ich, komm nicht wieder damit.
Man muss es mir angesehen haben, denn er sagte: »Na
-
türlich willst du nicht auf mich hören …«
»O Baba, tut mir leid.« Ich herzte ihn und küsste ihn
auf die Wange. »Wunderbares Parfum.«
»Paco Rabanne.« Er lächelte.
Und ich lachte, denn keinem Vater in meinem Bekann
-
tenkreis lag so viel an seiner Kleidung und an seinem Aus-
sehen wie ihm.
»So, es wird Zeit«, sagte er, und das Ritual seines Ab
-
schieds begann. Der Boy erschien aus der Küche und trug
seine Aktentasche zum Auto. Mûssa, der Fahrer, sprang
aus dem Nichts herbei und öffnete ihm den Schlag.
Ich sah zu, wie sie davonfuhren, und dann stand nur
noch der Toyota Corolla in der Auffahrt. Er hatte Mama
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gehört, aber letzten Monat hatten Omar und ich ihn ge-
schenkt bekommen. Mama besass jetzt ein neues Auto,
und Omar benutzte sein Motorrad nicht mehr.
Ich sah in den Garten hinaus und auf die Strasse dahin
-
ter. Es waren keine Fahrräder unterwegs. Ich hatte einen
Verehrer, der unentwegt an unserem Haus vorbeiradelte.
Manchmal kam er drei- oder viermal am Tag. Seine Augen
waren hoffnungsfroh, dabei verachtete ich ihn. Aber blieb
die Strasse wie jetzt leer, so war ich enttäuscht.
»Omar!«, rief ich von unten. Wir würden zu spät zur
Vorlesung kommen. Zu Beginn des Semesters, unse
-
res allerersten an der Universität, waren wir immer sehr
rechtzeitig aufgebrochen. Doch sechs Wochen später ent
-
deckten wir, dass es angesagt war, erst in letzter Minute
aufzutauchen. Alle Dozenten erschienen zehn Minuten
nach der vollen Stunde und kamen in die Säle voll erwar
-
tungsvoller Studenten hereingerauscht.
Ich hörte keinen Ton von oben und sauste wieder die
Treppe hoch. Nein, das Bad war leer. Ich machte die Tür
zu Omars Zimmer auf, und der Raum war wie erwartet ein
Brutofen. Doch da lag er in tiefem Schlaf hingestreckt und
schnarchte. Er hatte das Bettzeug abgestrampelt und lag
schweissnass und erschlafft da.
»So, das reicht. Ich fahre jetzt, ich hab nichts mehr mit
dir zu schaffen.«
Er rührte sich ein wenig. »Was’n?«
In meiner Stimme lag Ärger, aber ich hatte auch Angst.
Angst vor seiner Schläfrigkeit, an der keine Krankheit
schuld war; Angst vor seiner Lethargie, über die ich mit
niemandem sprechen konnte.
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»Wo ist der Schlüssel?«
»Hä?«
»Wo ist der Autoschlüssel?« Ich warf seine Schranktür
auf.
»Nein, in meiner Jeans … hinter der Tür
Ich zog den Schlüssel aus der Tasche, und Münzen fielen
heraus und eine Schachtel Benson & Hedges.
»Wehe, wenn Baba das erfährt.«
»Mach die Lüftung wieder an.«
»Nein.«
»Bitte, Nana.«
Ich liess mich durch den Kosenamen ein wenig erwei
-
chen. Die Zwillingssymbiose packte mich, und vorüber-
gehend war ich es, die sich so erhitzt und todmüde fühlte.
Ich schaltete die Klimaanlage wieder ein und stapfte aus
dem Zimmer.
Ich kurbelte das Autofenster hoch gegen den Staub und
damit der heisse Wind mein Haar nicht zerzauste. Gern
hätte ich mich wie eine emanzipierte junge Studentin ge
-
fühlt, die selbstbewusst am Steuer ihres eigenen Autos
sass. War ich schliesslich nicht eine emanzipierte junge
Frau, die ihren Wagen eigenhändig zur Universität fuhr?
In Khartum gab es nur wenige Autofahrerinnen, und
an der Universität waren nicht mal dreissig Prozent der
Studenten Mädchen wenn das nicht Grund für zu viel
Selbstvertrauen war. Trotzdem war es mir lieber, wenn
Omar auch da war, wenn Omar fuhr. Ich vermisste ihn.
Ich fuhr langsam, blinkte jedes Mal und achtete auf die
Radfahrer. Bei der Ampel an der Gumhurîjastrasse klopfte
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ein kleines Mädchen an mein Fenster und bettelte mit ge-
senktem Kopf und leerem Blick. Weil ich allein war, gab
ich ihr einen Geldschein. Wäre Omar dabei gewesen, so
hätte ich ihr eine Münze gegeben er verabscheute Bett
-
ler. Sie griff mit ungläubigem Staunen nach den fünf
Pfund und eilte zurück auf den Gehsteig. Als die Ampel
auf Grün wechselte, fuhr ich weiter. Im Rückspiegel sah
ich, wie andere Kinder und ein paar verzweifelte Erwach
-
sene das Mädchen umringten. Staub wirbelte auf, und ein
Streit entbrannte.
Mit schweissnassen Händen klopfte ich an die Tür des
Hörsaals 101. Ich war eine Viertelstunde zu spät. Drinnen
hörte ich Doktor Baschîr ein weiteres Kapitel Buchhal
-
tung, mein ungeliebtestes Fach, dozieren, aber mein Vater
wollte, dass Omar Wirtschaft studierte. Und ich wollte,
nach Jahren an einer Mädchenschule, mit Omar zusam
-
men sein. Ich klopfte noch einmal lauter und drehte mu-
tig am Knauf. Die Tür war geschlossen. Also hatte Doktor
Baschîr seine Ankündigung wahr gemacht, keine Zuspät
-
kommenden in seinen Vorlesungen zu dulden. Ich drehte
mich um und ging zur Cafeteria.
Meine Lieblingscafeteria war im rückwärtigen Teil der
Universität. Sie lag am Blauen Nil, aber das dichte Laub
der Bäume verdeckte den Blick auf das Wasser. Der schat
-
tige Morgen und der Duft der Mangobäume beruhigten
mich allmählich. Ich setzte mich an einen Tisch und tat so,
als würde ich meine Notizen lesen. Sie sagten mir nichts
und erfüllten mich mit Leere. Ich ahnte, wie viele Stunden
es brauchen würde, auswendig zu lernen, was ich nicht be
-
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griff. Als ich aufblickte, sah ich, dass Anwar al-Sir an ei-
nem Nachbartisch sass. Er war in seinem letzten Studien-
jahr, und man wusste, dass er Bestnoten bekam. Heute
war er mit seiner Zigarette und einem Glas Tee allein. Auf
dem Campus waren die meisten ungepflegt, aber er hatte
immer saubere Hemden an, war glattrasiert und trug sein
Haar kurz, obwohl längere Frisuren Mode waren. Omar
trug sein Haar genauso wie Michael Jackson auf dem Co
-
ver seines Albums Off the Wall.
Anwar al-Sir war Mitglied der Demokratischen Front,
des studentischen Zweigs der Kommunistischen Partei.
Vermutlich hasste er mich, schliesslich hatte ich ihn in
einer nadwa
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voller Witz und Verachtung über die Bour-
geoisie herziehen hören. Die Familien mit Ländereien, die
Kapitalisten, die Aristokraten, sie seien schuld an dem
Schlamassel, in dem sich unser Land befinde, sagte er.
Ich unterhielt mich mit Omar darüber, aber der fand, ich
nähme das zu persönlich. Omar hatte keine Zeit für Leute
wie Anwar, er hatte seine eigenen Freunde. Sie tausch
-
ten untereinander Videos von Top of the Pops und wollten
alle einmal nach Grossbritannien gehen. Omar fand, es
sei uns unter den Engländern bessergegangen und es sei
schade, dass sie nicht mehr da waren. Ich passte auf, dass
er in seinen Aufsätzen in Geschichte und Wirtschaft nichts
dergleichen schrieb, denn alle Lehrbücher und Dozenten
waren sich einig, dass der Kolonialismus an unserem Ent
-
wicklungsrückstand schuld war.
Es wäre kindisch gewesen, mich woandershin zu setzen.
Aber ich fühlte mich unbehaglich Auge in Auge mit An
-
war. Er lächelte mich an, und das verblüffte mich. Er liess
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mich nicht aus den Augen. Meine Bluse fühlte sich zu eng
und mein Gesicht zu erhitzt an. Ich muss gestöhnt haben,
denn er sagte: »Es ist heiss, was? Und du bist Klimaanla
-
gen gewohnt.« Sein Ton war spöttisch.
Ich lachte. Als ich antwortete, klang meine Stimme
fremd in meinen Ohren, als ob sie nicht mir gehörte:
»Aber ich mag es lieber heiss als kalt.«
»Warum?« Er warf seine Zigarettenkippe weg und
wischte Sand mit den Füssen darüber. Seine Bewegungen
waren sanft.
»Das ist doch natürlicher, nicht?« Zwei Tische trennten
uns, und ich fragte mich, wer wohl den ersten Zug ma
-
chen, aufstehen und zum Nachbartisch gehen würde.
»Kommt drauf an«, sagte er. »Ein Russe würde viel
-
leicht die Kälte natürlich finden.«
»Wir sind aber keine Russen.«
Sein Lachen war angenehm, und dann verstummte er.
Sein Schweigen enttäuschte mich, und ich überlegte mir,
wie ich das Gespräch wieder in Gang bringen könnte.
Schnell stoppelte ich mir im Kopf ein paar Sätze zusam
-
men: Du hast doch einen Bruder, der in Moskau studiert.
Mir ist die Klimaanlage im Auto ausgestiegen. Weisst du,
Doktor Baschîr wollte mich nicht mehr reinlassen. Aber
ich verwarf alle als einfältig und fehl am Platz.
Das Schweigen begann zu dröhnen, bis mein Herzklop
-
fen das Vogelgezwitscher übertönte. Ich stand auf und
verliess die Cafeteria, ohne ihn anzuschauen oder mich zu
verabschieden. Es war fast zehn und Zeit für die Makro
-
ökonomie.
Der Dozent liess die Präsenzliste zirkulieren. Ich trug
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mich ein, nahm einen anderen Stift und schrieb in steile-
ren Buchstaben Omars Namen auf das Blatt.
Als die Makro-Vorlesung um war, wartete Omar vor
dem Saal auf mich.
»Gib mir den Autoschlüssel.«
»Hier. Und vergiss nicht, dass wir um zwölf Geschichte
haben. Bitte lass dich da blicken.«
Er runzelte bloss die Stirn und eilte davon. Ich machte
mir Sorgen um ihn. Sie liessen mich nicht los. Schon als
ich klein war, hatte meine Mutter zu mir gesagt: »Pass
gut auf Omar auf, du bist das Mädchen, du bist die Ru
-
hige und Vernünftige. Pass auf Omar auf.« Und Jahr um
Jahr nahm ich meinen Bruder in Schutz. Ich spürte seine
Schwachheit und kümmerte mich um ihn.

Leila Aboulela
Minarett

Roman

Aus dem Englischen von Irma Wehrli


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-03925-005-9
Seiten 340
Erschienen 1. September 2020
€ 24.90 / Fr. 32.00

Ein bewegender und provokativer Roman über Migration, Religion und Selbstbestimmung.

Nadschwa wächst in einer privilegierten und westlich orientierten Oberschichtfamilie in Khartum auf. Nach einem Putsch flieht die Studentin mit ihrer Mutter und ihrem Bruder ins politische Exil nach London. Sie verliert ihren Wohlstand und bald auch ihre Eltern. Einst hatte sie davon geträumt, einen wohlhabenden Mann zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen. Nun ist sie auf sich allein gestellt und muss ganz unten neu anfangen. Sie arbeitet als Dienstmädchen und Putzfrau bei reichen Familien, erkämpft sich eine unabhängige Existenz. Sie knüpft Freundschaft mit den Frauen der muslimischen Gemeinde. Und findet eine neue Heimat im Glauben. Als sie Tâmer kennenlernt, den ernsten und strenggläubigen Bruder ihrer Arbeitgeberin, muss sie sich entscheiden.

Minarett erzählt eindrücklich und aufschlussreich von Migration, sozialem Abstieg und von der religiösen Gemeinschaft als Heimat und Ort der Unabhängigkeit. Eine überraschende, provokative Emanzipationsgeschichte, die einen Sturm in der englischen Presse auslöste.

Pressestimmen

Leila Aboulela stellt die Bedeutung des Glaubens in der Diaspora differenziert und vielschichtig dar. (…) In ihrem Roman erhalten wir wichtige Einblicke in das Denken und Fühlen von Frauen mit und ohne Hidschab, erfahren von versehrten und intakten Familienverhältnissen, von Politisierung und Radikalisierung, starken Frauen und schwachen Männern.
— Axel Timo Purr, Neue Zürcher Zeitung
Wie Religion mit anderen Facetten der Identität verknüpft ist, das führt Aboulela einfühlsam vor.
— Nora Noll, Süddeutsche Zeitung
Ein schöner, gewagter, herausfordernder Roman.
— The Guardian
Geschrieben mit Sensibilität und Anmut. Eine fesselnde Geschichte über das geistige Erwachen einer Frau.
— Image
Aboulela zeichnet ein faszinierendes Bild des interkulturellen Zwists.
— The Independent
Dies ist die moderne weibliche Stimme … jung, frisch, vielfältig, herausfordernd, hemmungslos.
— Rachel Cusk
Ein wunderbares Buch. Lesenswert, subtil und vieldeutig, mit einer schockierend klaren Stimme.
— Ali Smith