LENOS
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LENOS POCKET 159
www.lenos.ch
Handschriftliche Notiz von Annemarie Schwarzenbach
(Schweizerisches Literaturarchiv)
Annemarie Schwarzenbach
Lorenz Saladin
Ein Leben für die Berge
Herausgegeben und mit einem Essay versehen
von Robert Steiner und Emil Zop
Lenos Verlag
Robert Steiner, geboren 1976. Schriftsteller, Bergsteiger, Lehrer. Nebst grossen
Wänden in den Alpen, Big Walls in den USA sowie Bergen im Himalaya ist er
dreifacher Besteiger des Khan Tengri, hat den Pik Pobeda und andere Berge im
Tienschan erklommen. Als Mitglied einer russischen Mannschaft erkannte er
bei mehreren Expeditionen nach Zentralasien seine Parallelen zu Lorenz Saladin.
Erschienen sind von ihm Selig, wer in Träumen stirbt, Stoneman und Allein unter
Russen. Er lebt im Allgäu.
Emil Zopfi, geboren 1943, studierte Elektrotechnik und arbeitete als Entwick-
lungsingenieur und Computerfachmann. 1977 debütierte er mit dem Roman
Jede Minute kostet 33 Franken und publizierte in der Folge zahlreiche Romane,
Hörspiele und Kinderbücher. Für seine Werke wurde er mehrfach ausgezeichnet,
u.a. von Stadt und Kanton rich, der Kulturstiftung Landis & Gyr und der
Schweizerischen Schillerstiftung. 1993 erhielt er den Kulturpreis des Schweizer
Alpen-Clubs, 2001 den Glarner Kulturpreis, 2010 den King Albert Mountain
Award. Er lebt als freischaffender Schriftsteller in Zürich und ist passionierter
Bergsteiger und Sportkletterer.
LENOS POCKET 159
Überarbeitete Taschenbuchausgabe
Erste Auflage 2013
Copyright © 2007 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Lorenz Saladin
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 759 9
Inhalt
Annemarie Schwarzenbachs vergessenes Buch 7
1. Teil
Ein Bergsteiger im Werden
Ein Leben für die Berge 15
Eine Selbstbiographie 23
Der grosse Berg 31
Berge der Heimat 43
Urwald und Anden 51
Amerikafahrer 55
2. Teil
Die grossen Expeditionen
Schweizerische Kaukasus-Expedition 1933 81
Die zweite Kaukasus-Expedition 93
Dach der Welt 113
Der Weg zum Himmelsgebirge 141
Der Sieg 169
Robert Steiner / Emil Zopfi:
Das Drama am Khan Tengri 197
Quellen 269
Lorenz Saladin (1896–1936)
7
Annemarie Schwarzenbachs vergessenes Buch
Das Buch fand ich auf dem Flohmarkt. Ein Zufall. Ich
kaufte es, weil ich mich erinnerte, dass mich als jungen
Bergsteiger und Bücherwurm die dramatische Geschichte
fasziniert hatte. Die Autorin Annemarie Schwarzenbach
war damals weitgehend vergessen und vergessen auch
der Mann, dessen Biographie sie recherchiert und geschrie-
ben hatte: Lorenz Saladin. Er war einer der bedeutendsten
Schweizer Expe ditionsbergsteiger der dreissiger Jahre, seine
Reisen in den Kaukasus, den Pamir und den Tienschan
dokumentierte er mit hervorragenden Fotos. Annemarie
Schwarzenbach war fasziniert von diesen Bildern, aber auch
von dem Mann, der auf dem Weg war, sich vom Arbeiter
zum international renommierten Expeditionsleiter, Fotogra-
fen und Vortragsredner zu entwickeln. Sie selbst war keine
Bergsteigerin, doch mit bemerkenswerter Einfühlungsgabe
stellte sie das abenteuerliche Leben Saladins dar, dessen
Leidenschaft für ferne Gebirge ihn schliesslich in den Tod
hrte. Das Buch zeigt einen Aspekt ihres Wesens und ih-
res Schreibens, der bisher noch wenig bekannt geworden ist.
Es war zu ihren Lebzeiten ihr am besten verkauftes Werk.
Lorenz Saladin starb im September 1936 nach der Bestei-
gung des Khan Tengri im Tienschan mit einer russischen
Expedition. Es war die Zeit, in der Bergsteigen und Expe-
ditionen zu den Weltbergen vor allem von den National-
sozialisten propagandistisch ausgeschlachtet wurden. Sa-
ladin stand politisch auf der Gegenseite: Als Kommunist
konnte er mit russischen Expeditionen Gipfel besteigen, zu
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denen sonst niemand aus dem Westen Zugang hatte. Als
glühende Antifaschistin war Annemarie Schwarzenbach
auch aus politischen Gründen für Saladin eingenommen,
der allen Widerständen zum Trotz seinen Weg gegangen
war. In der Darstellung seines Charakters hat sie, so glau-
ben wir, eigenen Sehnsüchten Gestalt gegeben.
Ein weiterer Zufall hrte zur Idee einer Neuauflage
dieses literarisch und alpinhistorisch interessanten Werks.
Anlässlich einer Tagung für Bergliteratur lernte ich Robert
Steiner kennen, einen jungen deutschen Extremalpinisten
und Schriftsteller, der den Tienschan und den Khan Ten-
gri von mehreren Expeditionen bestens kennt. Gemeinsam
gelang es uns, Annemarie Schwarzenbachs Werk durch
umfangreiche Recherchen zu ergänzen und da und dort zu
berichtigen, vor allem was Saladins letzte Expedition zum
Khan Tengri und seinen Tod betrifft.
Aus heutiger Sicht nnen wir beurteilen, welche alpi-
nistischen Fehler und Mängel in Ausrüstung und Planung
zu der Katastrophe führten. Wir wissen aber auch die uner-
rte Leistung Saladins und seiner Gefährten zu würdigen.
Mit Erschütterung haben wir von den menschlichen und
politischen Tragödien erfahren, die sich im Umfeld der Ex-
pedition abspielten und von denen Annemarie Schwarzen-
bach noch nichts wissen konnte.
Einige Fragen bleiben. Lorenz Saladins Grab bleibt ver-
schollen, dafür entdeckten wir, dass es im Tienschan einen
Gipfel gibt, der seinen Namen trägt: Pik Saladin.
Danken möchte ich Robert Steiner für seine umfangrei-
chen Recherchen in Russland und Kirgisistan und r die
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hervorragende Zusammenarbeit am Text und bei der Her-
ausgabe dieses Werks. Alexandra Steiner-Pacholik war eine
wertvolle Mitarbeiterin bei der Recherche und Übersetzung
russischer und kirgisischer Quellen. Ein Glücksfall war die
Bekanntschaft mit Peter Saladin, der uns Dokumente und
Bilder aus dem Familienbesitz zur Verfügung stellte und
Erinnerungen an seinen Paten beisteuerte. Für weitere In-
formationen und Unterlagen danke ich Daniel Anker, Al-
pinjournalist, Gabriela Rauch vom Schweizerischen Litera-
turarchiv, Franz Saladin aus Nuglar, Peter Huber von der
Universität Basel und den Schwarzenbach-Experten Roger
Perret, Alexis Schwarzenbach und Andreas Tobler.
Bei den Recherchen in Russland und Kirgisistan wurden
wir unterstützt von Lena Kalaschnikowa, Luba Pacholik,
Dima Grekow, Nikolai Sacharow und Gleb Sokolow.
Emil Zopfi
Annemarie Schwarzenbach
Lorenz Saladin
Ein Leben für die Berge
Die Mitglieder der erfolgreichen Pamir-Expedition 1935. Von links:
Georgi Charlampijew, Michail Dadiomow, Witali Abalakow und
dessen Frau Walentina Tscheredowa, eine begabte Bergsteigerin und
nffache »Meisterin des Sports« in der Sowjetunion. Dann Jewgeni
Abalakow und Lorenz Saladin. Hinten ein Unbekannter. Das Team
unterstützte Wissenschaftler bei der Arbeit und führte mehrere Erst-
besteigungen aus.
1. Teil
Ein Bergsteiger im Werden
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Ein Leben für die Berge
Am 30. August 1936 erreichen nf Männer den Fuss des
Khan Tengri, des 7200 Meter hohen Riesen im Tienschan-
Gebirge, und schlagen in seinem Schatten, auf der weissen
Schneefläche des Inyltschek-Gletschers, ihr kleines Lager
auf. Sie haben zehn Tage gebraucht, um von der kirgisi-
schen Stadt Karakol am See Issyk-Kul bis hierher zu gelan-
gen, siebzig Kilometer auf dem zerrissenen Inyltschek, ei-
nem der grössten Eisströme der Erde, zurückgelegt. Gestern
noch trafen sie Bergsteiger aus der Hauptstadt Kasachstans,
Alma-Ata
*
, die ihnen die Hand schüttelten und Glück
wünschten für ihre grosse Unternehmung. Am gleichen
Abend wurden die stämmigen kirgisischen Packpferde mit
den drei Treibern zur Gletscherzunge zurückgeschickt, wo
es Wasser und Futter gab und wo sie den Verlauf der Bestei-
gung des Khan Tengri abwarten sollten.
Seither sind die nf Kameraden allein. Die Grenze der
von Menschen bewohnbaren Welt scheint überschritten.
Hierher verirren sich nicht einmal die Jäger wilder kirgi-
sischer Nomadenstämme, die auf der Suche nach Vögeln,
Eichhörnchen und Pamir-Wildschafen die letzten wirtli-
chen Täler durchstreifen. Man hört nur noch das Krachen
der Eisspalten in der mittäglichen Sonne und den Wind
über der Gletscherfläche. Wie ein winziges und verlorenes
Schiff liegt das kleine Zelt der Bergsteiger auf der riesigen,
blendend weissen Ebene. Darüber türmt sich die schöne,
gewaltige und ebenmässige Pyramide des Khan Tengri, die
zu besiegen die fünf Kameraden ausgezogen sind. »Khan
* Heute Almaty.
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Tengri« bedeutet »Herr der Götter«, »Tienschan« auf chi-
nesisch »Himmelsgebirge«. Es sind grossartige Namen,
angepasst dieser übermenschlichen Region an der Grenze
zweier Welten. Es sind vier Russen und ein Schweizer, die
sich die Besteigung des Khan Tengri vorgenommen haben.
Die Russen sind Studenten, erprobte Alpinisten: die Brü-
der Jewgeni und Witali Abalakow, Leonid Gutman und
Michail Dadiomow. Der Schweizer, Lorenz Saladin, etwa
vierzig Jahre alt, stammt aus dem solothurnischen Dörf-
chen Nuglar. Er ist nicht zum erstenmal in der asiatischen
Gebirgswelt. Zwei schweizerische Kaukasus-Expeditionen
liegen hinter ihm, und im Jahre 1935 hat er an der russi-
schen Pamir-Expedition teilgenommen. Diesmal ist es sein
eigenes Unternehmen, sein persönliches Abenteuer, seine
grösste Expedition. Seit seiner ckkehr aus dem Pamir,
ein halbes Jahr zuvor, liess ihn der Gedanke nicht los, den
Mustagh Ata, den Giganten an der chinesischen Turkestan-
grenze, oder seinen Nachbarn, den Khan Tengri, zu bestei-
gen. Es ist kein Geringerer als der schwedische Forscher Sven
Hedin, der ihn auf diese unbestiegenen Gipfel aufmerksam
gemacht hat. Als die chinesischen Behörden in Moskau Sa-
ladin die Einreise nach Sinkiang verweigerten, verzichtete
er auf den Mustagh Ata, verwandte alle he Energie darauf,
den Khan Tengri anzugehen. Jetzt ist es soweit. Er steht an
seinem Fuss, zusammen mit seinen Kameraden. Sie warten
den Abend ab. Der Wind zerrt an den Seilen ihres gebrech-
lichen Zeltes. Der Schatten der weissen Pyramide wächst
und breitet sich über den Gletscher und das kleine Lager
aus. Die Rucksäcke sind gepackt. Saladin notiert in sein
Tage buch: »Wir gehen an Khan Tengri nicht etappenweise,
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sondern direkt mit schweren Säcken. Abmarsch um halb
zehn Uhr abends, über den nach Süden abfallenden Glet-
scher, sehr leicht bei Mondschein.«
Wenige Wochen später traf in Zürich ein kurzes Tele-
gramm aus Moskau mit der Nachricht ein, Lorenz Saladin
sei während der Besteigung des Khan Tengri verunglückt
und auf dem Rückmarsch gestorben. Und nicht lange vor-
her, im August, kurz vor dem Aufbruch von Karakol zum
Khan Tengri, schrieb er einen Brief nach Hause, worin es
hiess, am 3. Oktober werde er wieder in der Heimat sein.
Es finden sich in seinen kargen Notizen und wenigen Brie-
fen keine Stellen, die Zweifel oder Unsicherheit über Wert
und Erfolg seiner kühnen Unternehmungen ausdrücken.
Die Gipfelpyramide des Khan Tengri (7010 m) im Abendlicht. Links
Saladins Aufstiegsroute über den Westgrat, rechts der Südwest- oder
Marmorgrat. (Foto Robert Steiner)