LENOS
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Lenos Verlag
Brenda Navarro
Leere Häuser
Roman
Aus dem Spanischen
von Stephanie von Harrach
Die Übersetzerin
Stephanie von Harrach, geboren 1967 in Köln, studierte Literatur-
und Medienwissenschaften in Frankfurt am Main. Sie war viele
Jahre als Lektorin für deutschsprachige und internationale Literatur
bei verschiedenen Verlagen tätig. Heute lebt und arbeitet sie in
Zürich. Zu ihren Übersetzungen aus dem Spanischen gehören
einige Bücher des Argentiniers Jorge Bucay sowie Die Kinder der
Massai von Javier Salinas. Aus dem Englischen übersetzt hat sie u. a.
Im Schatten des Banyanbaums von Vaddey Ratner und Young Blood
von Siso Mzobe.
Die Übersetzerin und der Verlag danken der Schweizer Kultur-
stiftung Pro Helvetia für die Unterstützung.
Titel der spanischen Originalausgabe:
Casas vacías
Copyright © Brenda Navarro, 2018
c/o Indent Literary Agency, www.indentagency.com
Erste Auflage 2024
Copyright © der deutschen Übersetzung
2024 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: lynea/Shutterstock
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 039 4
Dieses Buch ist für Nacho Bengoetxea.
Danke, Dana und Alba, dass es euch gibt.
Und danke auch an Yuri Herrera.
Erster Teil
So weit ist es nun gekommen, dass ich
unterm Baum sitze
am Ufer des Flusses
im sonnigen Morgen.
Das Ereignis ist ohne Belang,
es geht nicht in die Geschichte ein.
Wisława Szymborska
Fragment aus
»Kann auch ohne Überschrift bleiben«*
* Alle Übersetzungen, wenn nicht anders vermerkt, aus: Wisława
Szymborska. Gesammelte Gedichte. Aus dem Polnischen von Karl
Dedecius und Renate Schmidgall. Berlin: Suhrkamp 2023.
Daniel verschwand drei Monate, zwei Tage, acht
Stunden nach seinem Geburtstag. Er war drei
Jahre alt. Er war mein Sohn. Das letzte Mal, dass
ich ihn gesehen habe, war zwischen der Wippe
und der Rutsche im Park, in den ich nachmittags
immer mit ihm ging. An mehr erinnere ich mich
nicht. Oder doch: Ich war traurig, weil Vladimir
mir angekündigt hatte, dass er geht, weil er das
Ganze nicht zu billig werden lassen wollte. Es
billig werden lassen, als würde man etwas Wert-
volles für zwei Pesos verscherbeln. Das war ich,
als ich meinen Sohn verlor: die Frau, die sich
von Zeit zu Zeit, alle paar Wochen, von einem
üchtigen Liebhaber verabschiedete, der sie mit
wohlfeilem Sex abspeiste wie mit kleinen Almo-
sen, um sich seinen Abgang zu erleichtern. Die
reingelegte Käuferin. Der Reinfall einer Mutter.
Diejenige, die nicht gesehen hat.
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Ich habe wenig gesehen. Was habe ich gesehen? Ich
durchkämme das Geecht von Erinnerungsbildern
nach jenem noch so kleinen Faden, der mich, wenigs-
tens für eine Sekunde, fassen lässt, wann es passiert
ist. In welchem Moment, ab wann habe ich Daniel
nicht mehr gesehen? In welchem Moment, ab wel-
chem Augenblick, ab welchem unterdrückten Schrei
eines dreijährigen Körpers ist er verschwunden? Was
ist passiert? Ich habe wenig gesehen. Und obwohl ich
unter den Menschen herumgeirrt bin und immer
wieder seinen Namen gerufen habe, war ich taub.
Sind Autos vorbeigefahren? Waren noch andere Leute
da? Welche? Wer? Ich habe meinen dreijährigen Sohn
nie wiedergesehen.
Nagore hatte um zwei Uhr Schulschluss, aber ich
habe sie nicht abgeholt. Ich habe sie nie gefragt, wie
sie an jenem Tag nach Hause gekommen ist. Tatsäch-
lich haben wir nie darüber gesprochen, ob irgendje-
mand an diesem Tag zurückgekommen ist, vielleicht
sind mit den vierzehn Kilo meines Sohnes auch wir
alle verschwunden und nie mehr zurückgekehrt. Bis
heute gibt es kein Bild in meinem Kopf, das mir Ant-
wort darauf geben könnte.
Dann, das Warten: ich zusammengesackt auf ei-
nem schmuddeligen Stuhl bei der Staatsanwaltschaft,
wo Fran mich später abgeholt hat. Wir warten beide,
wir warten immer noch auf diesem Stuhl, auch wenn
wir physisch ganz woanders sind.
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Wie oft hatte ich mir gewünscht, sie wären tot. Ich
schaute in den Badezimmerspiegel und stellte mir
vor, wie ich sie beweinte. Aber ich habe nicht ge-
weint, ich unterdrückte meine Tränen und setzte
wieder eine neutrale Miene auf, für den Fall, dass
ich es beim ersten Anlauf nicht richtig hinbekom-
men hätte. Ich stellte mich also noch mal vor den
Spiegel und fragte: Gestorben? Was soll das heissen,
gestorben? Wer ist gestorben? Alle beide? Waren sie
zusammen? Sind sie wirklich, wirklich tot, oder ist
es bloss ein Hirngespinst, das mich zum Weinen
bringen soll? Wer bist du, mir zu sagen, dass sie tot
sind? Wer von ihnen, welcher von beiden? Und die
einzige Antwort, die kam, war ich selbst, die ich vor
dem Spiegel stand und hartnäckig wiederholte: Wer
ist gestorben? Es möge bitte jemand gestorben sein,
damit ich nicht diese Leere spüre! Und angesichts des
schweigenden Echos antwortete ich mir selbst: alle
beide, Daniel und Vladimir. Ich habe sie gleichzeitig
verloren, und irgendwo auf der Welt leben beide wei-
ter, ohne mich.
Du stellst dir alles Mögliche vor, nur nicht, dass du
eines Tages aufwachst mit der Last einer verschwun-
denen Person. Was ist eine verschwundene Person? Es
ist ein Gespenst, das dich verfolgt wie ein schizophre-
ner Wahn.
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Obwohl ich nie eine dieser Frauen sein wollte, die die
Leute auf der Strasse mitleidig anschauen, kehrte ich
oft in den Park zurück, beinahe täglich, um genau zu
sein. Ich setzte mich auf dieselbe Bank und rief mir
jede Regung ins Gedächtnis: Telefon in der Hand,
die Haare über dem Gesicht, zwei oder drei stech-
freudig um mich herumschwirrende Mücken. Daniel
und sein dümmliches Kichern ein, zwei, drei Schritte
entfernt. Zwei, drei, vier Schritte. Blick nach unten.
Zwei, drei, vier, fünf Schritte. Da. Ich schau zu ihm
rauf. Ich seh ihn und widme mich wieder dem Tele-
fon. Zwei, drei, fünf, sieben Schritte. Keiner. Er fällt.
Steht wieder auf. Vladimir liegt mir im Magen. Zwei,
drei, fünf, sieben, acht, neun Schritte. Und ich voll-
ziehe jeden Schritt mit, jeden Tag: zwei, drei, vier …
Und erst als mich Nagore beschämt anstarrte, weil
ich schon wieder da stand, zwischen Wippe und Rut-
sche, und den Kindern den Weg versperrte, erst da
begri ich: Ich war eine dieser Frauen, die die Leute
auf der Strasse mitleidig und voller Angst anschauen.
Andere Male suchte ich ihn still von der Bank aus,
und Nagore sass, die Beine übereinandergeschla-
gen, neben mir und sagte keinen Ton, als wäre ihre
Stimme an irgendetwas schuld, als wüsste sie bereits
jetzt, dass ich sie hasste. Nagore war der Spiegel mei-
ner Abscheulichkeit.
Warum bist nicht du verschwunden?, sagte ich ein-
mal zu Nagore, als sie aus der Dusche nach mir rief,
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damit ich ihr das Handtuch vom Badezimmerregal
runterreichte. Sie sah mich mit ihren blauen Augen
an, völlig verdutzt, dass ich es ihr direkt ins Gesicht
gesagt hatte. Ich schloss sie sofort in die Arme und be-
deckte sie mit Küssen. Ich streichelte ihr nasses Haar,
das mir Gesicht und Arme nässte, wickelte sie ins
Handtuch und drückte sie an meinen Körper, und wir
weinten zusammen. Warum war nicht sie verschwun-
den? Warum haben all die Opfer nichts gebracht?
Ich hätte es sein sollen, sagte sie später einmal zu
mir, als ich sie zur Schule gebracht hatte. Ich beob-
achtete, wie sie auf ihre Klassenkameraden zulief, und
wollte sie nie wiedersehen. Ja, sie hätte es sein sollen,
aber sie war es nicht. Jeden Tag ihrer Kindheit kehrte
sie wieder nach Hause zu mir zurück.
Es ist nicht immer dieselbe Art von Traurigkeit. Nicht
jedes Mal wachte ich mit seelischem Magengrimmen
auf, aber es brauchte nur etwas zu geschehen, und so-
fort musste ich schlucken und wurde mir der Wich-
tigkeit des Atmens bewusst. Atmen ist kein mechani-
scher Akt, es ist eine stabilisierende Handlung; wenn
du ins Straucheln gerätst, weisst du, dass du atmen
musst, um dich im Gleichgewicht zu halten. Leben
geschieht ganz von selbst, aber atmen muss man ler-
nen. Also zwang ich mich, Schritt für Schritt. Wasch
dich. Kämm dich. Iss. Wasch dich, kämm dich, iss.
Lächle. Nein, nicht lächeln. Du lächelst nicht. Atme,
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atme, atme. Weine nicht, schrei nicht. Was tust du,
was tust du? Atme. Atme, atme. Vielleicht gelingt es
dir morgen, dich vom Sofa aufzurappeln. Morgen ist
immer ein anderer Tag, ich aber lebte oenbar immer
denselben, denn es gab kein Sofa, von dem ich mich
hätte erheben müssen.
Manchmal rief Fran an, um mich daran zu erinnern,
dass wir noch ein anderes Kind hatten. Nein, Nagore
sei nicht meine Tochter, sagte ich zu ihm. Nein. Aber
wir kümmern uns um sie, wir bieten ihr ein Zuhause,
sagte er zu mir. Nagore ist nicht meine Tochter. Na-
gore ist nicht meine Tochter. (Atme. Mach was zu
essen, sie müssen essen.) Daniel ist mein einziges
Kind, und wenn ich ihm was zu essen machte, spielte
er auf dem Boden mit Spielzeugsoldaten, und ich
brachte ihm Karotten mit Zitrone und Salz. (Er hatte
hundertfünfundvierzig Soldaten, alle grün, alle aus
Plastik.) Ich fragte ihn, was er spielte, und er in sei-
nem unverständlichen Brabbeln sagte, Soldaten, und
wir beide vernahmen ihren Schritt auf dem grossen
Marsch. (Das Öl qualmt, die Nudeln brennen an.
Es ist kein Wasser im Mixer.) Nagore ist nicht meine
Tochter. Daniel spielt nicht mehr mit den Soldaten.
Es lebe der Krieg! Oft riefen sie mich aus der Schule
an und erinnerten mich daran, dass Nagore auf mich
wartete und sie bald schliessen mussten. Tut mir leid,
sagte ich, obwohl mir ein »Nagore ist nicht meine
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Tochter« auf der Zunge lag, und ich legte empört auf,
weil sie mir eine Mutterschaft abverlangten, um die
ich nie gebeten hatte. Und in einem unterdrückten
Schluchzen, das in einen Erstickungsanfall mündete,
ehte ich darum, Daniel zu sein und mit ihm ver-
lorengehen zu können, stattdessen aber verog der
Nachmittag nur so, bis Fran wieder anrief, um mich
daran zu erinnern, dass ich mich um Nagore küm-
mern müsse, weil sie auch meine Tochter sei.
Vladimir kehrte einmal zurück, ein einziges Mal.
Wahrscheinlich aus Mitleid, aus Pichtgefühl, mor-
bider Neugier. Er fragte mich, worauf ich Lust hätte.
Ich küsste ihn. Er umsorgte mich einen Nachmittag
lang, als würde ich ihm etwas bedeuten. Er berührte
mich behutsam, als hätte er Angst, so zögerlich wie je-
mand, der nicht weiss, ob er die frisch geputzte Glas-
scheibe berühren darf. Ich nahm ihn mit in Daniels
Zimmer, und wir schliefen miteinander. Schlag mich,
schlag mich, bis ich schreie, wollte ich ihm sagen.
Aber Vladimir versicherte sich bloss, ob es mir gut-
gehe und ob ich etwas brauchte. Ob ich mich wohl
fühlte. Ob ich aufhören wolle. Ich will, dass du mich
schlägst, du musst mir geben, was ich dafür verdient
habe, Daniel verloren zu haben, schlag mich, schlag
mich, schlag mich. Ich habe es nicht gesagt. Später
kam er mir schuldbewusst mit dem nie gemachten
Vorschlag, dass wir hätten heiraten sollen. Dass er …
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Egal. Dass er mir kein Kind gemacht hätte?, reagierte
ich auf seine Verlegenheit, seine Angst, etwas Verfäng-
liches zu sagen. Dass er mich und unser Kind nicht
in irgendeinen Park mitgenommen hätte? Nein. Kein
Kind. Dass er mir ein Leben ohne mütterliches Leid
ermöglicht hätte? Ja, vielleicht das, antwortete er, als
ich es ihm nahelegte, und dann, üchtig, wie er war,
ging er und liess mich wieder allein.
An dem Tag kam Fran und brachte Nagore zu
Bett, und ich wollte, dass er mir nahekommt und
merkt, dass meine Vagina nach Sex riecht. Und dass
er mich schlägt. Aber Fran hat nichts gemerkt. Wir
fassten uns schon lang nicht mehr an, nicht mal ein
beiläuges Streifen.
Fran spielte abends vor dem Einschlafen für Nagore
Gitarre. Ich hasste ihn, ich verzieh ihm nicht, dass
er es wagte, ein Leben zu haben. Er ging arbeiten,
bezahlte die Rechnungen, spielte den Guten. Aber
was für eine Art von Güte steckt in einem Mann, der
nicht jeden Tag darunter leidet, seinen Sohn verloren
zu haben?
Nagore kam allabendlich, pünktlich um zehn nach
zehn, um mir einen Gutenachtkuss zu geben, und
ich vergrub mich in den Kissen und tätschelte ihr
zur Antwort den Rücken. Was für eine Art von Güte
steckt in jemandem, der Liebe einfordert, indem er
Liebe gibt? Keine.

Premio Tigre Juan 2020

Brenda Navarro
Leere Häuser

Roman

Aus dem Spanischen von Stephanie von Harrach


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-03925-039-4
Seiten 218
Erschienen 27. August 2024
€ 26.00 / Fr. 30.00

Eine mutige neue Stimme in der mexikanischen Literatur.
— Morning Star

Der auffällig hübsche dreijährige Daniel verschwindet von einem Spielplatz. Nur für kurze Zeit war seine Mutter in die Nachrichten auf ihrem Mobiltelefon vertieft gewesen. Eine Unbekannte hat den Jungen mitgenommen und sich damit endlich ihren Kinderwunsch erfüllt. Sie nennt ihn Leonel.
Beide Frauen erzählen von ihrem Schmerz, ihrer Verzweiflung und ihren Schuldgefühlen. Beide reflektieren ihre Liebesbeziehungen und Lebensträume. Beide leiden unter dem psychischen Druck ihrer familiären Umgebung.
Daniels in bürgerlichen Verhältnissen lebende Mutter ist sich nicht sicher, ob sie das verlorene Kind wirklich gewollt hatte. In ihrem aufgezwungenen Familienleben fühlt sie sich trotz Momenten des Glücks allein und überfordert. Die aus einer sozial benachteiligten Familie stammende Kidnapperin hingegen ist entschlossen, ihre Chance zu nutzen. Dank des ersehnten Kindes und ihrer eigenen Süssigkeitenproduktion, die ihr finanzielle Unabhängigkeit verschafft, will sie sich gegenüber ihrer bösartigen Mutter und ihrem gewalttätigen Liebhaber behaupten. Aber die Träume scheitern.

Brenda Navarro gelingt es in ihrem psychologisch raffiniert komponierten Roman, einer von Machismo geprägten Gesellschaft ungeschönt den Spiegel vorzuhalten und die Rollen von Frauen und Müttern grundsätzlich zu hinterfragen.

Der weltweit beachtete Debütroman wurde in zehn Sprachen übersetzt.

Pressestimmen

Eine unerbittliche Geschichte über Mutterschaft und geschlechtsspezifische Gewalt.
— La Nación
Eine unvergessliche Lektüre von feinstem literarischem Wert.
— El País
Intelligent, emotional, feministisch.
— MOKA Das Büchermagazin