LENOS
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LENOS POCKET 143
www.lenos.ch
Corina Caduff
Kränken und Anerkennen
Essays
Lenos Verlag
LENOS POCKET 143
Erste Auflage 2010
Copyright © 2010 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Keystone / caro / Claudia Hechtenberg
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 743 8
Die Autorin
Corina Caduff, geboren 1965 in Chur, ist Professorin an der Zürcher
Hochschule der Künste. 2005–2009 war sie Mitglied des »Literatur-
clubs« (Schweizer Fernsehen). Sie promovierte 1991 über Elfriede Jeli-
nek, arbeitete 1992–1994 als Redaktorin bei Schweizer Radio DRS 2
und habilitierte sich später an der Technischen Universität Berlin. Im
Lenos Verlag erschien 2007 ihr Buch Land in Aufruhr. Die Künste und
ihre Schauplätze. Sie lebt in Zürich.
Kränken und Anerkennen
Inhalt
Fliegen 9
Kränkung, Anerkennung 25
Krankheit, Tod, Literatur 45
Kunst und Kritik 59
Erschrecken 71
Geld 81
Blicken 99
Die Kränkungen der Menschheit 107
Tote zeigen 115
Die Anerkennung des Jenseits 133
9
Fliegen
»Jetzt! Lauf, lauf!«, schreit er hinter mir. Ich renne los,
blindlings stürme ich nach vorn und renne, so gut ich kann,
gegen die Kraft an, die mich an den Schulterriemen zurück-
zieht, ich renne und renne und schon mache ich die ersten
Schritte im Leeren, zugleich zieht es mich hoch, ich re
auf mit den Beinbewegungen, schaue, starr vor Schreck und
Freude, den steilen Bergabhang hinunter und kralle mich
mit den Händen an den Seilen fest.
»Geht es?«, fragt er zwei, drei Sekunden später dicht hin-
ter mir. »Ja«, sage ich mit klarer Stimme, »ja, es geht gut.«
Ich hänge mit Marcel an einem Gleitschirm über der
Rigi. Ich mache einen sogenannten Passagierflug, das heisst,
wir hängen zu zweit an einem Schirm, ich vorn, er hinten.
In praktisch jedem Fluggebiet findet sich dieses Angebot.
Der Passagier muss nichts können – ausser loszulaufen, mit
seiner ganzen Kraft, mit Vertrauen und Lust, über alle Ab-
gründe hinweg.
Dieses Loslaufen in die Luft hinein ist das Schönste. Die-
ses Loslaufen verwandelt.
Angefangen hat es, so rede ich mir ein, mit Träumen. Ich
träumte ab und zu vom Fliegen über den Bergen, genauer
gesagt von einer Art Schweben, von einem Vorankommen
in riesigen Gleitschritten nahe der Erdoberfläche, über
Bergkuppen und Abhängen, ein Schweben hoch oben, bei
dem ich bisweilen mit dem einen oder anderen Fuss in ei-
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ner Lichtung oder an einem Hang aufsetzte, um wieder an
Höhe und Schwebkraft zu gewinnen. Das Traumgefühl bei
diesem Fliegen ist äusserst angenehm, sehr tief und ruhig,
ganz und gar friedlich und schön.
Und dann, endlich einmal, google ich im Frühjahr 2009
im Internet: Gleitschirm, Taxi, Schweiz. Ein paar Klicks, und
Marcels Handynummer erscheint. Ich zögere, lasse die Sache
ein paar Tage liegen und rufe aber schliesslich an einem Mon-
tag an. Die Auskunft ist vage – wahrscheinlich gehe es am
kommenden Wochenende, sagt Marcel, vielleicht Rigi oder
Pilatus, je nach Wetterlage. Ein kurzer Schnupperflug, der
aus nicht viel mehr als Start und Landung zu bestehen scheint
und eine gute Viertelstunde dauert, kostet 100 Franken. Eine
halbe Stunde 170, der einstündige Superflug 230 Franken.
Wennschon, dennschon, denke ich.
Zwei Tage später legt Marcel sich fest, am Sonntag könn-
ten wir fliegen, am Pilatus. Tags darauf ein weiterer Anruf:
Die Rigi sei doch besser, weil der Startplatz am Pilatus zur-
zeit wegen Sanierungsarbeiten schwer zu begehen sei. Also
um sechzehn Uhr oben auf der Rigi auf dem Känzeli. Mir
ist alles recht.
In den Tagen vor dem Flug ist mein Zustand wechsel-
haft; zuweilen bin ich ganz erregt und auch stolz, mir dieses
aufregende Ereignis selbst verschafft zu haben; dann wieder
ist mir mulmig zumute, und ich habe so gar keine Lust,
von Zürich aus auf den Berg dort zu reisen. Ich recherchiere
immer wieder im Netz, erkunde dies und jenes, suche nach
Unfallstatistiken, erfahre dabei jedoch nur, dass Paragliding
nicht als Extremsport gilt und dementsprechend auch kei-
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ner Extraversicherung bedarf. »Der Flug ist genauso sicher
wie Ihre Anfahrt mit dem Auto«, verspricht ein Anbieter
von Taxiflügen.
Ich denke an Ikarus’ Schicksal. Gierig wie kaum je,
schlage ich nach langer Zeit wieder einmal die zweitausend
Jahre alten Metamorphosen von Ovid auf. Ein so vitales In-
teresse an einem antiken Mythos hatte ich zuvor noch nie:
Wie ist der Traum vom Fliegen hier formuliert? Wie über-
haupt phantasiert man das Fliegen zu einer Zeit, in der es
noch keinerlei Flugerfahrung gibt? Finde ich hier Sätze, die
über meinen Wunsch und meine Angst mehr wissen, als
ich selbst zu sagen vermag? Die griechische Mythologie als
Ratgeber das war vor langer Zeit tatsächlich eine ihrer
wesentlichen Funktionen.
Dädalus, so erzählt die Sage, war ein begnadeter athe-
nischer Bildhauer, der seinen ebenfalls sehr talentierten
Neffen bei sich in die Lehre nahm. Als dieser seinen On-
kel in der Kunst zu übertrumpfen begann, stürzte Dädalus
den Jungen aus Eifersucht von den Klippen ins Meer. Zur
Strafe wurde er nach Kreta verbannt, wo ihm eine Sklavin
des nigs einen Sohn gebar. Um der Insel zu entkommen,
baute er eines Tages jenes Fluggerät, das ihn und den inzwi-
schen herangewachsenen Ikarus zurück in die Freiheit tra-
gen sollte. »Freiheit« meint hier also nicht die Freiheit des
Fliegens, sondern den Weg aus der insularen Verbannung
zurück zum Festland, Fliegen ist hier nicht wie in meinem
Fall Selbstzweck, sondern ganz und gar reale Fluchtme-
thode. Und so lesen wir bei Ovid, wie der wohl erste imagi-
näre Gleitschirm der Fluggeschichte gezimmert wird:
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() Federn legt er in Reihe,
So, dass die Kleinste beginnt und den Langen die Kürzeren folgen,
Wie wenn sie wüchsen am Hang. So steigt mit den
ungleichgeschnittnen
Rohren allmählich auf die ländliche Flöte des Hirten.
Dann verknüpft er mit Garn die Mitte der Federn, die Kiele
Klebt er mit Wachs und gibt, es nachzuahmen dem echten
Vogel, mässige Schweifung dem Ganzen. (VIII, 189–195)
Danach geht alles sehr rasch: Dädalus verteilt »auf der Flü-
gel / Paar seines Leibes Gewicht, bewegte die Lüfte und
schwebte« (201f.). Das Startmanöver kommt nicht zur Spra-
che, auch der Schwebezustand selbst wird nicht weiter be-
schrieben. Stattdessen weist der Flieger seinen Sohn an, hin-
ter ihm in mittlerer he zu fliegen, damit die Federn weder
bei zu tiefem Flug von den Meereswellen bedroht noch bei zu
hohem Flug von der Sonne versengt rden. Der Wikipedia-
Artikel über das Fliegen rühmt die Sage in fast rührseliger
Weise, weil sie so eindringlich vor der »übermütigen Ver-
nachlässigung von Sicherheitsvorkehrungen« warne. Was
Ikarus aber schliesslich zum Verhängnis wird, ist die Lust am
Fliegen, denn er beginnt plötzlich, »sich des kühnen Fluges
zu erfreuen«, er verspürt einen »Drang, sich zum Himmel
zu heben« (223f.), er will mehr als einfach nur in die Freiheit
aufs Festland fliegen, er will hoch hinaus. Wir wissen, wohin
das gehrt hat. Die Lust am Fliegen wird im Mythos aller-
dings nicht nur bestraft, weil Ikarus sich nicht um die Sicher-
heit schert, sondern vor allem auch, weil er sich in verbotene
Räume begibt: Der Himmel gehört hier noch den Göttern.
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Ich klappe das Buch etwas enttäuscht zu. Tatsächlich
phantasiert man das Fliegen bis ins 19. Jahrhundert vor al-
lem – genau wie in der Ikarus-Sage als Überwindung von
Strecken. Man schaut den Vögeln sehnsüchtig nach, weil
sie schnell und leicht riesige Distanzen zurück legen. Als
Zustand, der seine Erfüllung im Fliegen selbst findet, als
pure Lust am In-der-Luft-Sein wird das Fliegen erst später
beschrieben, im Zuge der Luftfahrt, deren Geschichte im
19. Jahrhundert einsetzt: Pioniere wie George Cayley und
Otto Lilienthal experimentieren mit verschiedenen Flug-
apparaten, und schliesslich erlebt die Luftfahrt ihre grosse
Gründerzeit im 20. Jahrhundert mit motorisierten Flugzeu-
gen. Erst jetzt wird die »Freiheit über den Wolken« besun-
gen.
Am Himmel
Nun hänge ich also mit Marcel am Schirm, es ist ein sehr
klarer und verhältnismässig warmer Apriltag, spätnachmit-
tags, schon nach siebzehn Uhr, Marcel hatte sich verspätet.
In unserer Nähe gibt es noch etliche andere Schirme, die
Rigi ist wegen der geeigneten Thermik ein begehrtes Flug-
gebiet, auch für Flugschulen. Ich trage Handschuhe, einen
Helm und Sonnenbrille, eine rote Windjacke und über mei-
ner Jeans eine Überzugshose, die Marcel im Set für seine
Fluggäste dabeihat. Sie ist zu kurz, aber darauf kommt es
hier oben nicht an, genauso wie es mir hier auch egal ist,
dass Marcel mindestens einen Kopf kleiner ist als ich. Ich
sitze auf einer Art Rucksack, der von den Schultern bis zum

Corina Caduff
Kränken und Anerkennen

Essays

Lenos Pocket 143
Paperback
ISBN 978-3-85787-743-8
Seiten 169
Erschienen September 2010
€ 12.90 / Fr. 18.00

Unser emotionales Leben vollzieht sich zwischen den Polen Kränkung und Anerkennung. Der Bedarf an Anerkennung scheint dabei unerschöpflich: Wieder und wieder wollen wir anerkannt sein, in unserem Charakter, in unserem Beruf und Körper, wieder und wieder brauchen wir neuen Zuspruch. Wo einem solche Anerkennung verweigert oder entzogen wird, da tritt die Kränkung auf den Plan: Wir sind gekränkt, wenn wir uns missachtet und ungerecht behandelt fühlen, wenn wir zurückgesetzt und respektlos behandelt werden, wenn wir nicht so wahrgenommen werden, wie wir es uns wünschen. Je stärker das Streben nach Anerkennung, desto grösser das Risiko von Kränkung. In der heutigen Zeit scheint das Kränkungsgefühl besonders verbreitet.

Weshalb behalten wir Kränkungen so gut im Gedächtnis? Warum leiden Künstler so sehr, wenn ihre Werke keine Anerkennung finden? Wie kränkt und wie anerkennt man mit Blicken? Wie wird der Tod als wohl grösste Kränkung des Lebens inszeniert? In ihren Essays geht Corina Caduff sowohl von eigenen Erfahrungen – unter anderem einem Gang zu einem Medium, das Kontakt mit dem Jenseits verspricht – als auch von Beispielen aus dem Kunstbetrieb oder der Wissenschaftsgeschichte aus. Dabei behandelt sie scheinbar Entlegenes genauso wie klassische Themen: Geld, Krankheit und das Antlitz von Toten.

Pressestimmen

Corina Caduff leuchtet ein emotional hochexplosives Feld aus. Nicht nur deshalb verschlingt man das Buch geradezu, sondern auch weil es der Autorin gelingt, ihre kluge Analyse mit einem leichten Erzählton zu verbinden.
— Viceversa Literatur