LENOS
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Lenos Verlag
Chalid al-Chamissi
Im Taxi
Unterwegs in Kairo
Aus dem Arabischen
von Kristina Bergmann
Die Übersetzerin
Kristina Bergmann, geboren 1953 in Berlin. Studierte Arabisch in Zü-
rich und Kairo. Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung für Ägypten,
Libyen, den Sudan und den Nahen Osten. Übersetzte Ich will heiraten!
von Ghada Abdelaal (Lenos 2010). Autorin mehrerer Sachbücher und
eines Romans. Lebt in Kairo.
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde aus Mitteln der Schweizer
Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt durch litprom Gesellschaft
zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Titel der arabischen Originalausgabe:
Taksi. H
.
awâdît al-mašâwîr
Copyright © 2007 by Chalid al-Chamissi
Copyright © der deutschen Übersetzung
2011 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagbild: Markus Kirchgessner
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 413 0
Ich widme dieses Buch
dem Leben,
das den Worten der einfachen Menschen innewohnt;
möge es die Leere vertreiben,
die uns seit langer Zeit befallen hat.
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Unsere Heilige Muttergottes stieg einst mit dem Jesuskind
im Arm zur Erde nieder, um ein Kloster zu besuchen.
Die Mönche standen freudig aufgereiht da, um ihr ihre
Ehrbezeugungen entgegenzubringen. Einer rezitierte Ge-
dichte, ein anderer zeigte Buchmalereien, ein weiterer sagte
die Namen der Heiligen auf.
Am Ende der Reihe stand ein einfacher Pater, der nicht
das Glück hatte, bei den Weisen seiner Zeit gelernt zu ha-
ben. Seine Eltern waren Zirkusartisten gewesen. Als er an
die Reihe kam, wollten die Mönche ihre Ehrbezeugungen
abbrechen, weil sie befürchteten, er nnte ihr Kloster bla-
mieren.
Doch er liess sich nicht beirren und huldigte der Heili-
gen Jungfrau auf seine Weise. Unter den tadelnden Blicken
der Brüder zog er schüchtern einige Orangen aus der Tasche
und begann mit ihnen zu jonglieren, wie es ihn seine Eltern
im Zirkus gelehrt hatten.
Erst da lächelte das Jesuskind und klatschte vor Freude
in die Händchen. Und nur ihm streckte die Heilige Jung-
frau die Hände entgegen, und nur er durfte ihren Sohn eine
Weile auf dem Arm halten.
Paulo Coelho, Vom Christus- und vom Zirkuskind
*
* Aus: Unterwegs / Der Wanderer. Gesammelte Geschichten. Aus dem
Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann. Copyright der deutsch-
sprachigen Ausgabe © 2004 Diogenes Verlag AG, Zürich.
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1
Mein Gott, wie alt mochte dieser Fahrer sein? Und wie alt
sein Auto? Ich war sprachlos, als ich mich neben ihn setzte.
Er hatte so viele Falten im Gesicht, wie es Sterne am Him-
mel gibt; jede Falte drückte sich zärtlich an die nächste.
Eigentlich hatte er ein Gesicht, wie Machmûd Muchtâr
*
es so gern bildhauerte. Mit beiden Händen umklammerte
er das Lenkrad; und als er die Finger streckte und wieder
krümmte, bemerkte ich, dass die Adern auf seinen Händen
hervorstanden, als würden sie wie der Nil trockenes Land
wässern. Er zitterte leicht, hielt aber das Lenkrad so fest,
dass wir schön in der Strassenmitte blieben. Und so fuhren
wir genau geradeaus. Seine Augen mit den riesigen Lidern
strahlten inneren Frieden aus. Ich fühlte mich sicher.
Es genügte mir, neben ihm zu sitzen, um mich wohl zu
hlen und das Leben zu lieben. Irgendetwas an ihm er-
innerte mich an meinen Lieblingschansonnier, den Belgier
Jacques Brel. Wie unrecht er doch hatte, als er sang, dass
der Tod besser als Altern sei:
Mourir cela nest rien,
Mourir la belle affaire,
Mais vieillir … ô vieillir!
Hätte Brel neben diesem Mann gesessen, hätte er die Worte
ausradiert!
* Bekannter Bildhauer (1891–1934). (Anm. d. A.)
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»Sie fahren bestimmt schon seit vielen Jahren«, sagte
ich.
»Ich bin seit 1948 Taxichauffeur«, antwortete er.
Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er schon seit fast
sechzig Jahren Taxi fuhr. Der Mut, ihn nach seinem Alter
zu fragen, fehlte mir zwar, aber ich wagte, ihn auf seine Er-
fahrungen anzusprechen: »Welche Lehre ziehen Sie aus all
den Jahren, damit einer wie ich von Ihrer Erfahrung profi-
tieren kann?«
»Gott sorgt sogar für die schwarze Ameise, die in einer
mondlosen Nacht über einen schwarzen Felsen kriecht.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich werde Ihnen erzählen, was mir kürzlich zugestossen
ist, damit Sie verstehen, was ich meine.«
»Bitte
»Zehn Tage lang war ich so krank, dass ich mich nicht
aus dem Bett bewegen konnte. Ich bin sehr arm und lebe von
der Hand in den Mund. Nach einer Woche war kein Pias-
ter mehr im Haus. Ich wusste das, auch wenn meine Frau
es vor mir verbergen wollte. Ich fragte sie, was wir tun soll-
ten. ›Es ist alles in Ordnung, Abu Hussain, antwortete sie.
In Wahrheit hatte sie angefangen, Essen bei den Nachbarn
zusammenzubetteln. Meine Kinder haben selbst viel um
die Ohren. Einer hat die Hälfte seiner Kinder verheiratet,
r die andere Hälfte aber hat es nicht gereicht; ein anderer
hat einen kranken Enkel und rennt mit ihm von Spital zu
Spital. Kurz gesagt: Von ihnen können wir keine Hilfe ver-
langen. Vielmehr müssten wir ihnen helfen. Nach zehn Ta-
gen sagte ich zu meiner Frau, ich müsse wieder arbeiten. Sie
sagte nein und schrie, ich rde sterben. Im Grunde war ich
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zu krank, um aus dem Haus zu gehen, aber ich hatte keine
Wahl. Und so log ich und sagte, ich würde nur kurz ins Café
um die Ecke gehen. Ich brauchte ganz einfach ein bisschen
frische Luft Ich ging zum Wagen, startete den Motor und
üsterte: ›Gott, hilf mir!Ich fuhr und fuhr, bis ich zum
Ormân park kam. Dort stand ein Peugeot 504, der offenbar
eine Panne hatte. Der Fahrer winkte mir, und ich hielt an. Er
sagte, er habe einen Kunden vom Golf, der zum Flughafen
müsse. Ob ich ihn an seiner Stelle hinbringen nne? Das
war die Vorsehung Gottes! Da hatte der mit seinem teuren
Wagen eine Panne! Ich sagte: ›Geht in Ordnung.
Der Gast stieg ein. Er war aus Oman, aus dem Land von
Sultan Kabûs. Als er mich nach dem Fahrpreis fragte, ant-
wortete ich: ›Was immer Sie mir geben.Er fragte: ›Sie neh-
men, was immer ich Ihnen gebe?‹ Ich bejahte.
Auf dem Weg zum Flughafen erfuhr ich, dass er zum
Frachtschalter musste, weil er Waren zu verzollen hatte.
Ich sagte, mein Enkel arbeite dort und würde ihm bei der
Zollabfertigung helfen. Tatsächlich fand ich meinen Enkel;
er hatte gerade Schicht. Das war grosses Gck! Wir erle-
digten die Zollsache, dann brachte ich den Omaner zurück
nach Dukki.
Er fragte abermals: ›Was bekommen Sie, Hagg?‹ Ich ant-
wortete, wir seien übereingekommen, dass er den Fahrpreis
bestimmte. Er gab mir nfzig Pfund
*
. Ich nahm sie, be-
dankte mich und liess den Motor an. Er fragte mich, ob ich
zufrieden sei. Ich sagte ja.
* Etwa 6,20 Euro. Auch im günstigen Ägypten ist das wenig Geld,
gemessen an der langen Strecke und dem Aufwand des Fahrers.
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Dann sagte er: ›Hagg, der Zoll hätte normalerweise
tausendvierhundert Pfund von mir genommen. Dank Ih-
nen habe ich nur sechshundert bezahlt. Die Differenz ist
r Sie. Sie haben es verdient. Die Taxifahrt ist zweihundert
wert. Und die nfzig Pfund von vorhin sind ein kleines
Geschenk.
Sehen Sie, mein Herr, da hat mir eine einzige Fahrt über
tausend Pfund
*
eingebracht. Manchmal nehme ich in vier
Wochen nicht so viel ein. Sehen Sie, was Gott tut? Er hat
mich aus dem Haus gehen lassen, hat dafür gesorgt, dass
der Peugeot 504 eine Panne hat, und alles Übrige arran-
giert, damit ich zu dem Geld komme. Das tägliche Brot
gehört nicht mir, und das Geld gert auch nicht mir: Alles
gehört Gott. Das ist die Lektion, die ich in meinem Leben
gelernt habe.«
Ich war traurig, als ich aus dem Taxi steigen musste,
denn ich hätte gern noch ein paar Stunden mit dem Fahrer
verbracht. Aber auch ich musste für meinen Lebensunter-
halt sorgen.
* Etwa 124 Euro.
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2
Ich stieg in der Strasse der Arabischen Liga gegenüber dem
Gelände des Samâlik SC
*
in ein Taxi. Das Gesicht des Fah-
rers war knallrot, als würde er gleich explodieren. Wütend,
wie er war, schwollen seine Adern an und zogen sich wieder
zusammen, und ich hatte den Eindruck, er bekäme auf der
Stelle einen Schlaganfall.
»Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen, das geht vor-
bei«, sagte ich zu ihm.
»Was meinen Sie, mein Herr? Stimmt etwas nicht?«
»Sie sehen aufgebracht aus. Ich wollte Sie nur beruhi-
gen.«
»Nein, ich bin nicht aufgebracht. Ich könnte platzen vor
Wut
»Warum denn? Dafür gibt es doch gar keinen Grund.«
»Doch, gibt es! Ich rackere mich ab, um meine Kinder
ernähren zu können, und da kommt so ein mieser Typ und
luchst mir die Kohle ab. Und Sie wollen mir sagen, das sei
kein Grund, sich aufzuregen? Ich schufte wie ein Sklave,
nicht wie Sie, mein Herr, der Sie ja ein bequemes Leben
führen!«
»Was soll das? Jetzt reagieren Sie sich aber bloss nicht an
mir ab. Was ist denn passiert?«
»Ein Kerl ist in Nasser-City eingestiegen. Er wolle nach
* Zweitgrösster Fussballklub Ägyptens. Salik heisst auch ein Kai-
roer Viertel auf der gleichnamigen Nilinsel.
Unterwegs in Kairo

Aus dem Arabischen von Kristina Bergmann


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-413-0
Seiten 187
Erschienen Februar 2011
€ 19.90 / Fr. 29.80

Kaum ein Berufsstand Ägyptens ist näher am Puls der Gesellschaft als die 250000 Kairoer Taxifahrer. Wer wissen will, was die Menschen umtreibt, liest keine Zeitung, sondern nimmt das Taxi und hört auf das, was ihm der Fahrer erzählt: »Wir leben in einer einzigen Lüge und glauben daran. Die Regierung ist nur dazu da, zu prüfen, ob wir die Lüge wirklich schlucken, finden Sie nicht auch?«

Im Taxi plaudert, diskutiert, feilscht und streitet Chalid al-Chamissi mit Fahrern, die im kleinen öffentlichen und doch abhörfreien Raum ihrer Wagen ihren Frust über das korrupte Regime und die allgegenwärtigen Missstände in Ägypten loswerden – mit immerhin einem Zuhörer: ihrem Fahrgast.

Aus achtundfünfzig kurzen, pointenreichen Episoden entsteht ein grosses Mosaik der ägyptischen Gesellschaft, eine Hommage an die oft verschmähte Kultur der Strasse.


Pressestimmen

Das beste Buch zur ägyptischen Revolution.
— Katharina Döbler, Die Zeit
Chalid al-Chamissi hat ein funkelndes, bitterböses und zugleich hochgradig amüsantes Buch geschrieben.
— Kersten Knipp, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Das Buch wurde zum Bestseller, der die Machthaber in Ägypten an den Pranger stellt.
— Deutsche Welle
Die Weisheiten der Kairoer Taxifahrer, von Chalid al-Chamissi gesammelt und gekeltert, sind unerschöpflich.
— Stefan Weidner, Süddeutsche Zeitung
Es ist diese geglückte Mischung von Unmittelbarkeit und Formsinn, die dem Buch – über seine jetzige Aktualität und seinen langfristigen dokumentarischen Wert hinaus – einen Platz auf den Regalen sichern sollte.
— Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung
Diese hochkonzentrierten short cuts erinnern ein wenig an Jim Jarmuschs Taxi-Episodenfilm »Night on Earth«.
— Marko Martin, Die Welt
Das Buch hat das Zeug, als ein Stück »oral history« in die ägyptische Revolutionsgeschichte einzugehen.
— Gudrun Harrer, Der Standard
Das vielleicht interessanteste Buch über die gesellschaftliche und politische Entwicklung, die Ägypten in den letzten fünf Jahrzehnten durchlaufen hat.
— Foreign Policy
Chalid al-Chamissi hat achtundfünfzig fiktive Monologe von Kairoer Taxifahrern mit einer derartigen Überzeugungskraft und sprachlichen Originalität verfasst, dass sie die meisten Leser für authentisch halten.
— Reuters
Eine freimütige, amüsante und bisweilen herzzerreissende Sammlung von Witzen, Anekdoten und Enthüllungen. Lauschen Sie der ›arabischen Strasse‹ in all ihrer versmogten, atemberaubenden Pracht.
— The Independent
Alles ist drin in diesem intelligenten, geistreichen Buch: der Niedergang, die Korruption, das wirtschaftliche und diplomatische Scheitern des Mubârak-Regimes, aber auch das Elend und die Demütigungen, die das ägyptische Volk erdulden muss.
— Radio France Internationale
Ein unbestechlicher Zeitzeuge und provokanter Literat.
— internationales literaturfestival berlin

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