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Lenos Verlag
Sumaya Farhat-Naser
Im Schatten des Feigenbaums
Herausgegeben von
Willi Herzig und Chudi Bürgi
Copyright © 2013 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Andreas Flühmann
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 436 9
Willi Herzig, geboren 1949, Studium der Geschichte und Sozialwis-
senschaften mit Lizentiat in Genf. Auslandredaktor bei verschiedenen
Tageszeitungen, Leiter des Ressorts International der Basler Zeitung
(1989–2009). Häufige Reisen nach Israel, Palästina und in die arabi-
schen Nachbarländer.
Chudi Bürgi, geboren 1956, Studium der Germanistik und Volkslitera-
tur in Zürich und Berlin. Langjährige Beschäftigung mit Literatur aus
verschiedenen Kulturen als Journalistin und (Mit-)Herausgeberin. Bei
artlink, Büro für Kulturkooperation (www.artlink.ch) u.a. zuständig
r Literatur.
Im Schatten des Feigenbaums
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Vorwort
Wer seine Lebensgeschichte schreibt, tut dies in der Re-
gel in einem einzigen Buch, das die prägendsten Stationen
festhält. So beschreibt Sumaya Farhat-Naser in ihrer 1995
unter dem Titel Thymian und Steine veröffentlichten Lebens-
geschichte die Kindheit und Jugend in Palästina und ihren
späteren Werdegang auf so eindringliche und anschauliche
Weise, dass das Buch bis heute viele Leserinnen und Leser
erreicht und noch 2012 in ln zum »Buch für die Stadt«
gewählt wurde.
Doch die Situation in Palästina rechtfertigt es, ja macht
es gar notwendig, dass über ein einzelnes Buch hinaus wei-
tererzählt wird, was passiert. Mit Im Schatten des Feigenbaums
legt die Palästinenserin, die in Birzeit bei Ramallah lebt,
bereits das vierte Zeugnis in Buchform vor. Es bündelt ihre
Erfahrungen der letzten fünfeinhalb Jahre.
Sumaya Farhat-Naser habe ich vor über fünfundzwanzig
Jahren kennengelernt. Bei unserer ersten Begegnung im
Spätherbst 1987 in Bern schilderte sie, damals Dozentin
r Botanik und Ökologie an der Universit Birzeit, den
beschwerlichen Alltag in den von Israel besetzten Gebie-
ten. Zwei Aussagen der charismatischen, fliessend Deutsch
sprechenden Palästinenserin beeindruckten mich besonders:
Zum einen ihre Prognose, die explosive Stimmung unter
jungen Palästinensern könne jederzeit einen Gewaltaus-
bruch auslösen; prompt brach wenige Wochen später, im
Dezember 1987, im Westjordanland und im Gazastreifen
die Intifada aus, ein Volksaufstand gegen die Besatzungs-
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macht. Zum andern blieb mir Sumaya Farhat-Nasers pessi-
mistische Einschätzung unvergessen, Israel wolle »Frieden
mit einem Land ohne Palästinenser«.
Die Entwicklung der letzten fünfundzwanzig Jahre
scheint ihr recht zu geben. »Unser Land wird uns systema-
tisch weggenommen«, zieht die Autorin heute Bilanz und
belegt mit eigenen Beobachtungen und konkreten Beispie-
len, wie Palästinenser im Westjordanland und in Ostjerusa-
lem durch den israelischen Siedlungsbau verdrängt werden.
Damals wie heute zeigt sich der israelisch-palästinensische
Konflikt als unerbittlicher Streit um Land, aber deutlicher
als je zuvor zeichnet sich das Schicksal der Palästinenser als
grosse Verlierer ab.
In den letzten Jahren hat Israel den Druck auf die Pa-
lästinenser massiv verstärkt und ihre Entwicklungsmög-
lichkeiten weiter eingeschränkt. Auf den im Gazastreifen
eingesperrten Menschen lastet eine israelische Blockade.
Im Westjordanland und in Ostjerusalem sind sie einge-
schnürt von Mauern, Zäunen, militärischen Kontrollpos-
ten (Checkpoints) und einem dichten Geflecht von Strassen
r die mehr als 500 000 israelischen Siedler. Rund um die
»grösseren und kleineren Gefängnisse und Käfige«, wie Su-
maya Farhat-Naser die schrumpfenden Lebensräume nennt,
schafft Israel mit seiner völkerrechtswidrigen Siedlungs-
politik laufend neue Fakten; die international beschworene
»Zwei-Staaten-Lösung« mit Israel und Palästina wird buch-
stäblich verbaut.
Neu an dieser Politik der Verdrängung ist, dass mehr
und mehr israelische Siedler das Gesetz in die eigenen
Hände nehmen. Unter dem Schutz der Armee zersren sie
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Weinberge, Obstgärten und Olivenhaine, rauben das Land
und die Wasserquellen, mithin die Lebensgrundlage vieler
Palästinenser. Sumaya Farhat-Naser dokumentiert in die-
sem Buch, wie ihrem Volk gleichsam der Teppich unter den
Füssen weggezogen wird. Zugleich bringt sie ihre Enttäu-
schung über die Passivit der Aussenwelt zum Ausdruck:
»Es ist unglaublich, was geschieht, und alle schauen zu,
gleichltig und mutlos.«
Zusätzlich frustrierend ist in dieser schwierigen Lage das
Neben- und Gegeneinander zweier palästinensischer Regie-
rungen, die eine in Gaza, die andere in Ramallah; sie zer-
stören »mühevoll erreichte demokratische Ansätze«, wie die
politisch unabhängige Autorin feststellt.
Dem bitteren Befund zum Trotz lässt sich Sumaya Far-
hat-Naser nicht entmutigen. In Schulen und Frauengrup-
pen lehrt sie mit grossem Engagement gewaltfreie Kommu-
nikation und den Umgang mit Konflikten, unermüdlich
kämpft sie gegen Hoffnungslosigkeit und Resignation. Da-
bei freut sie sich selbst über jeden Fortschritt und macht
auf positive gesellschaftliche Entwicklungen »von unten«
aufmerksam. So etwa zielen lokale Initiativen auf die Erhal-
tung kulturhistorisch wertvoller Ortskerne und Bauten und
versuchen, identitätsstiftend die Erinnerung an die eigene
Geschichte zu festigen.
Neben starken Momenten der Trauer, etwa beim Tod ih-
rer geliebten Mutter, beschreibt Sumaya Farhat-Naser auch
Momente des Gcks im wachsenden Familienkreis, wo sie
Kraft und Zuversicht schöpft. Im eigenen Haus mit Ter-
rasse und schattiger Pergola tankt die Autorin, mit fünf-
undsechzig Jahren immer noch vital und voller Tatkraft,
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neue Energie, ebenso im eigenen Weinberg, einem idylli-
schen Refugium etwas oberhalb von Birzeit. Dort freut sich
die promovierte Botanikerin besonders auch an den Feigen-
bäumen und ihren süssen Früchten. Der Feigenbaum, der
diesem Buch den Titel gegeben hat, sei »ein Zeichen r
Frieden, Sicherheit und Lebensgck«, schreibt Sumaya Far-
hat-Naser. Hoffnungsvolle Gefühle durchdringen auch das
vorliegende Tagebuch dieser starken und couragierten Frau,
obwohl es ein trauriges Kapitel der Entrechtung und Ent-
eignung der Palästinenser in ihrer Heimat protokolliert.
Willi Herzig
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Einleitung
Mit diesem Tagebuch möchte ich meine Gefühle und Ge-
danken, das Schöne und Schwere der letzten Jahre erinnern,
reflektieren und dokumentieren. Das Interesse an unserem
Leben in Palästina unter Milirbesatzung, das ich von so
vielen Seiten zu spüren bekomme, hat mich zum Schreiben
motiviert. Ich möchte andere an meinem Leben teilnehmen
lassen. Ich möchte von unseren Erfahrungen im Durch-
halten und Bewältigen schwieriger Situationen berichten
und davon, wie die Freude am Leben trotz allem erhalten
werden kann. Und ich möchte andere ermutigen, sich mit
dem eigenen Leben auseinanderzusetzen und sich anderen
zu öff nen.
Die Lage in Palästina ist so komplex und aussichtslos, ja
deprimierend wie nie zuvor. Die israelische Siedlungstätig-
keit auf unserem Land ist intensiviert worden, die Sperren
und die Mauer machen das Leben zur Qual und entziehen
den Menschen die Existenzgrundlage. Die innerpalästinen-
sische Situation ist frustrierend. Das Versagen der politi-
schen Führungen in Gaza und im Westjordanland ist of-
fensichtlich.
In diesen Jahren war der Feigenbaum die Pflanze, die mich
inspiriert hat. Er knt nach dem Thymian, dem Oliven-
baum und den Disteln im Weinberg meiner früheren Bü-
cher mein Schreiben.
In der Bibel ist der Feigenbaum nach dem Olivenbaum
die zweitwichtigste Pflanze. Er gehört zu den sieben geseg-
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neten Produkten, die das Heilige Land als wertvolle Kultur-
landschaft auszeichnen und zu denen ausserdem die Wein-
rebe, der Granatapfel, Weizen, Gerste und Honig gehören.
Zum Frühstück und zum Abendbrot essen wir neben
Thymian und Olivenöl mit Brot oft auch Feigen und manch-
mal Joghurt und Schafskäse, Weintrauben und Wasserme-
lone. Die frischen Feigen sind eine nahrhafte Köstlichkeit,
und getrocknet oder zu Marmelade verarbeitet versorgen sie
uns bis zur nächsten Ernte.
Mit dem Feigenbaum sind viele Weisheiten verbunden.
»Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! So-
bald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wisst
ihr, dass der Sommer nahe ist.« So heisst es in der Bibel
(Matthäus 24,32) – ein Aufruf zu Zuversicht und Hoffnung:
Das Leben erneuert sich, und ein Ausweg wird sich finden.
»Da sagten die Bäume zum Feigenbaum: Komm, sei
du unser König! Der Feigenbaum sagte zu ihnen: Soll
ich meine Süssigkeit aufgeben und meine guten Früchte
und hingehen, um über den anderen umen zu schwan-
ken?« (Richter 9,1011) – ein Aufruf dazu, sich selbst und
dem, was man am besten kann, treu zu bleiben, ein Aufruf
auch zu Bescheidenheit.
Es war der Feigenbaum bei der Ruine des Bauernhauses
meines Urgrossonkels Jakub Isaak im Dorf Ein Arik, der
eine besondere Bedeutung bekam. Erinnerungen an meine
Kindheit in diesem Haus mit dem Feigenbaum davor haben
mir die Energie gegeben, um in den Ruinen etwas Neues zu
planen. Denn das ist das Besondere dieser Jahre: dass trotz
der Zerstörung und des Unrechts der Wille da ist, die Tra-
dition zu bewahren und Neues entstehen zu lassen.
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In der Bibel wird auch davon gesprochen, dass man sich
in Friedenszeiten im Schatten des Feigenbaums getrof-
fen hat, um auszuruhen, mit Freunden zu reden und zu
lachen – und natürlich, um die süssen Früchte zu geniessen.
So ist der Feigenbaum auch ein Zeichen für Frieden, Sicher-
heit und Lebensgck.
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2008
1. Januar
Ein neues Jahr beginnt, und ich setze mich hin, um zu
schreiben. In meinem Tagebuch und den Briefen an meine
Freunde versuche ich Ereignisse festzuhalten, die den Alltag
prägen und die Komplexität unserer Situation aufzeigen.
Aber manchmal, wenn wieder etwas besonders Schlim-
mes passiert, gelingt es mir weder zu schreiben noch klar zu
denken. Dann fühle ich mich dumpf und ausgelaugt. Dann
möchte ich fliehen und mir einreden, es sei alles normal.
Gründe zum Verzweifeln und zum Trauern gibt es genug.
Ich sage mir aber: In meinem Kummer bin ich nicht allein,
denn vielen Menschen geht es viel schlechter als mir. Dass
wir uns elend hlen, ist angesichts unserer Situation nor-
mal weil unsere Sinnesorgane noch funktionieren. Weil
wir fühlen, empfinden und spüren. Weil wir sehen und hö-
ren. Weil wir denken und Pläne und Träume haben und
weil wir wirkliche Ängste kennen. Es ist normal, weil wir
entschlossen sind, unsere Menschlichkeit zu behalten.
Ich suche dann nach Gedanken, die mich ermutigen,
und sage mir: Ich glaube weiterhin daran, dass bessere
Zeiten kommen. Ein Keimling braucht einen gewissen
Reiz, damit ein neuer Spross emporwächst. Ich will hoffen,
denn Hoffnung macht kreativ und verleiht Kraft, damit
wir aktiv bleiben und noch aktiver werden. Die Hoffnung
trägt.
Das Schönste, was wir im letzten Jahr erleben durften:
Munîr und ich sind Grosseltern geworden. Unsere Tochter
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Ghâda hat am 15. August ihr erstes Kind, Rina, geboren.
Dieses wundersame Ereignis bringt uns viel Freude und
willkommene Aufgaben.
16. Januar
Die politische Lage ist verfahren und entmutigend. Seit
vergangenem Sommer haben wir zwei palästinensische Re-
gierungen, die miteinander verfeindet sind. Die eine wird
von der national ausgerichteten Fatah-Bewegung gestellt
und regiert als sogenannte Autonomiebehörde im West-
jordanland. Die andere gert der islamistischen Hamâs-
Bewegung an und kontrolliert den Gazastreifen. Israel hat
Gaza zu einer »feindlichen Entität« erklärt und das Gebiet
seit 2006, nach der Entführung eines israelischen Soldaten,
immer stärker abgeriegelt. Die Einfuhr lebensnotwendiger
ter für die mehr als 1,5 Millionen eingesperrten Men-
schen wurde drastisch reduziert.
Mehrere Anläufe, Fatah und Hamâs zu versöhnen, sind
gescheitert. Das liegt auch daran, dass beide von fremden
Mächten abhängig sind, die an einer Versöhnung kein Inter-
esse haben. Die Fatah-Regierung unter Präsident Mahmûd
Abs ist auf westliche Hilfsgelder angewiesen und koope-
riert mit der Besatzungsmacht Israel, während die Hamâs
vor allem von iranischer Unterstützung abhängig ist.
Fatah und Hamâs regieren, ohne grundlegende Men-
schenrechte oder rechtsstaatliche Prinzipien gesetzlich ver-
ankert zu haben, geschweige denn sie zu respektieren. Hun-
derte politischer Häftlinge der jeweiligen Gegenseite sitzen
in ihren Gefängnissen. Der Streit zerstört die mühevoll er-
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reichten demokratischen Ansätze. Meinungs- und Medien-
freiheit sind stark eingeschränkt. Aus Angst vor Repressa-
lien äussern die Menschen kaum noch Kritik. Sie sind tief
enttäuscht von der Politik und misstrauen den Parteien.
2. Februar
Unser Sohn Anîs ist im Juli 2004, nach abgeschlossenem
Medizinstudium in Innsbruck, nach Palästina heimgekehrt.
Seither arbeitet er als Allgemeinarzt in Flüchtlingslagern,
die von der UNO verwaltet und finanziert werden. Er hat
dort einen Tagelohn und verdient im Monat weniger als 400
Euro. Davon kann man nicht leben. Daher hat er in Bir-
zeit in der Wohnung seiner Grossmutter Tekla eine kleine
Praxis aufgemacht, für Sprechstunden am Nachmittag
und Notfälle. Die Patienten kommen von überall her, und
kaum jemand bezahlt die bescheidenen zwei Euro Gebühr,
die Anîs verlangt. Viele gehen davon aus, dass die Praxis
eine Zweigstelle der Klinik im nahe gelegenen Flüchtlings-
lager Dschalasun ist, wo die Bewohner kostenlos behandelt
werden. Andere sehen in Anîs den Jungen aus dem Dorf,
den Freund des Sohnes, den Verwandten, Nachbarn, Schul-
kameraden, der von ihnen doch sicher nichts verlangt! Pati-
enten mit schweren Leiden und arme Menschen behandelt
er von sich aus unentgeltlich. Oft bezahlt er ihnen auch die
Medikamente.
Im Flüchtlingslager uft die medizinische Versorgung
wie am Fliessband. Täglich sieht Anîs rund hundert Pati-
enten, oft noch mehr. Da sie nichts zu bezahlen brauchen,
kommen viele bloss, um sich zu treffen, zum Zeitvertreib.
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Einige fragen nach Antibiotika und Schmerzmitteln für
mehrere Monate und wollen sie dann heimlich verkaufen.
Für Anîs ist es ein ständiger Abwehrkampf. Einmal wurde
es gar lebensgefährlich: Ein Mann bedrohte ihn, indem er
ihm eine Pistole an die Schläfe hielt.
Seither sucht Anîs nach einer Möglichkeit, sich im Aus-
land zu spezialisieren. Wir Eltern sehen die Notwendigkeit,
doch plagt uns der Gedanke, dass Anîs mit dreiunddreissig
Jahren noch keine Braut hat und die ganze Stadt eine Frau
r ihn sucht.
Für Christen in Palästina ist es schwer, eine Partnerin oder
einen Partner zu finden. Das liegt schon daran, dass sie
eine kleine Minderheit von weniger als drei Prozent sind.
Zudem verhindern israelische Sperren und administrative
Einschränkungen eine Begegnung in den wenigen Orten,
in denen noch Christen leben. Fher trafen sich junge
Leute an Weihnachten und Ostern zum Gebet, zu Fami-
lienbesuchen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen in
Jerusalem und Bethlehem. Inzwischen ist das nicht mehr
glich, weil uns die israelischen Besatzungsbehörden un-
terschiedliche Kategorien von Identitätskarten aufgezwun-
gen haben, die unsere Mobilität eng begrenzen. So dürfen
wir vom Westjordanland nicht nach Jerusalem, Israel oder
Gaza. Selbst innerhalb des Westjordanlandes sind wir ein-
geschränkt und dürfen nicht ins Jordantal oder das Gebiet
zwischen der Sperrmauer und der israelischen Grenze. Die
dort lebenden Menschen oder auch die Bewohner von Gaza
dürfen nirgendwohin ohne eine Genehmigung des Militärs,
und die wird nur selten erteilt.
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Gemeinsam feiern und gemeinsam trauern verbindet,
entlastet und festigt die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft
mit ihren Traditionen und Sitten. Doch gerade das will die
Besatzungspolitik unterbinden. Wer heiraten möchte, dem
bleibt nichts anderes übrig, als in der nächsten Umgebung,
im eigenen Dorf zu suchen.
Seit seiner ckkehr nach Birzeit ist Anîs immer wieder
darauf angesprochen worden, dass er noch keine Frau hat.
»Jetzt ist die Zeit gekommen, du musst heiraten. Wir wol-
len uns mit dir freuen«, sagten die Leute. »Das will ich
auch«, antwortete er, »aber noch suche ich.« Alle wollten
sie r ihn suchen, immer wieder kamen Vorschläge. Es
wurde zur Nervenprobe. Anîs ärgerte sich, und wir Eltern
hofften, er würde in Ruhe gelassen. Als er wütend darüber
sprach, sagte ich ihm: »Die Leute meinen es gut, nimm sie
so, wie sie sind, reagiere mit Humor.« Einmal waren wir
an einem Fest im Garten der Kirche. Wo Anîs auch hin-
schaute, winkte jemand und zeigte auf ein Mädchen. Er be-
schloss mitzuspielen: Sobald ihn jemand auf eine junge Frau
hinwies, zeigte er auf die andere Seite mit der Bemerkung,
es gebe dort andere, die er im Blick habe. Allmählich beru-
higten sich die Leute und gaben die Suche auf.
15. April
Ich bin auf Vortragsreise in der Schweiz. Als ich gestern
in Bern unterwegs war, erhielt ich einen Anruf von Anîs:
»Jamma, es hat geklappt, du kannst schon mal zu tril-
lern beginnen.« Ich wusste sofort Bescheid und liess mit-

Sumaya Farhat-Naser
Im Schatten des Feigenbaums

Herausgegeben von Willi Herzig und Chudi Bürgi


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-436-9
Seiten 223
Erschienen August 2013
€ 21.00 / Fr. 28.50

Über den Alltag unter Militärbesatzung: ein Tagebuch aus Palästina

»Unser Land wird uns systematisch weggenommen«: Ihre politisch brisante Aussage über israelischen Landraub im palästinensischen Westjordanland belegt Sumaya Farhat-Naser in ihrem neuen Buch überzeugend und gibt damit Einblick in eine Realität der Verdrängung, die in Europa kaum wahrgenommen wird.

Die palästinensische Erfolgsautorin (Thymian und Steine) beschreibt, wie aggressiv israelische Siedler die einheimische Bevölkerung drangsalieren, Weinberge, Olivenhaine und Felder zerstören, Ländereien und Wasserquellen rauben – alles unter dem Schutz der israelischen Armee. Wie ein roter Faden ziehen sich die Einschränkungen und Widrigkeiten des Alltags unter Militärbesatzung durch Farhat-Nasers Aufzeichnungen.

Dem bitteren Befund zum Trotz lässt sie sich nicht entmutigen. In Schulen und Frauengruppen lehrt Sumaya Farhat-Naser mit grossem Engagement gewaltfreie Kommunikation und den Umgang mit Konflikten, unermüdlich kämpft sie gegen Hoffnungslosigkeit und Resignation. Dabei freut sie sich selbst über jeden Fortschritt und macht auf positive gesellschaftliche Entwicklungen »von unten« aufmerksam. Enttäuscht äussert sie sich hingegen über die verbreitete Neigung hierzulande, berechtigte Kritik an Israel kleinzureden.

Der Feigenbaum, der diesem Buch den Titel gegeben hat, sei »ein Zeichen für Frieden, Sicherheit und Lebensglück«, schreibt Sumaya Farhat-Naser. Hoffnungsvolle Gefühle durchdringen das Tagebuch dieser starken und couragierten Frau, obwohl es ein trauriges Kapitel der Entrechtung und Enteignung der Palästinenser in ihrer Heimat protokolliert.

Pressestimmen

Da berichtet eine unbestechliche Zeitzeugin, deren Engagement in einem tiefen Glauben in gewaltfreien Widerstand wurzelt.
— Martin Woker, Neue Zürcher Zeitung