LENOS
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Lenos Verlag
Blaise Cendrars
Ich tötete – ich blutete
Erzählungen aus dem Grossen Krieg
Herausgegeben,
aus dem Französischen übersetzt und kommentiert
von Stefan Zweifel
Der Herausgeber und Übersetzer
Stefan Zweifel, geboren 1967 in Zürich. Studium der Philosophie, Kom-
paratistik und Ägyptologie in Zürich. Übersetzte zusammen mit Mi-
chael Pfister Justine und Juliette in zehn nden von Marquis de Sade
sowie Werke von Nicolas Bouvier, Boris Vian, Alfred Jarry und Jacques
Chessex. Dar über hinaus Kurator, Journalist und Literaturkritiker (seit
2007 im Literaturclub des Schweizer Fernsehens). Wurde 2009 mit dem
Berliner Preis für Literaturkritik und 2011 mit dem Anerkennungspreis
r Übersetzungen der Dialog-Werkstatt Zug ausgezeichnet. Lebt in
Zürich.
Der Herausgeber und der Verlag danken der Schweizer Kulturstiftung
Pro Helvetia und dem Migros-Kulturprozent für die Unterstützung.
J’ai tué: © Miriam Cendrars
J’ai saigné: © 1960, 2003 Éditions Denoël. Tiré du volume 8
de Tout autour daujourd’hui. Nouvelle édition des œuvres complètes
de Blaise Cendrars dirigée par Claude Leroy
La Femme et le soldat: © Miriam Cendrars
Erste Auflage 2014
Copyright © der deutschen Übersetzung
2014 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagbild: Fernand Léger, J’ai tué (1918). © 2013 ProLitteris, Zürich
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 445 1
Inhalt
Vorwort 11
Blaise Cendrars
Ichtete 23
Blaise Cendrars
Ich blutete 39
Blaise Cendrars
Die Frau und der Soldat 109
Stefan Zweifel
Mord Lust Moravagineeine Textcollage 127
Anhang
Kommentar 143
Biographische und literarische Fragmente
von der Front 165
9
Man stellt sich den Grossen Generalstab der Deutschen gern als
abstrakten und übernatürlichen Ort vor, wo eiserne Disziplin
herrscht, eine Art schreckreiches und wissenschaftliches Walhalla,
umzäunt von Stacheldraht, Starkstromkabeln, und dazu, in allen
vier Himmelsrichtungen, das Schild:
Militärzone
ZUTRITT VERBOTEN
(Lebensgefahr!)
Mitten im leeren Raum sendet ein Labor auf dern, Mischwesen
zwischen Wohnmobil und Bunkerturm, Wellen aus, Befehle, ka-
tegorische Imperative, absolut, kurz, unfehlbar, Radiowellen. Im
Gehäuse dieses Geräts lebt ein hochmodernes Monster. Ein Hirn.
Und zwar ein Hirn, das in einer chemischen Lösung badet. Ein
Hirn, das nichts Menschliches mehr hat. Doch dieses Hirn verfügt
über die fortwährende Fähigkeit, zu beobachten, zu kalkulieren
und alle Ereignisse mit mathematischer Strenge zu kombinieren.
Noch der flüchtigste Willensakt löst automatisch eine immense, mi-
nutiös montierte und perfekt geölte Kriegsmaschinerie aus, deren
Marsch, einer antiken Schicksalsgöttin gleich, die Individuen zer-
mahlt, die Völker, die Menschheit.
Blaise Cendrars,
La Vie et la Mort du Soldat inconnu (1931/32)
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Sie kommen. Her von allen Horizonten. Tag und
Nacht. Tausend Züge schütten Menschen und Ma-
terial. Am Abend schreiten wir durch eine wüste
Stadt. In dieser Stadt, da steht ein grosser moderner
Würfel, hoch und kantig. Das G. Q. G. Automobile
mit Kommandoflaggen, Kisten zum Verpacken
und dazwischen, reiner Ramsch, ein Schaukelstuhl.
Junge Leute, sehr distinguiert und im makellosen
Anzug der Chauffeure, plaudern und rauchen. Der
gelbe cken eines Groschenromans in der Gosse,
ein Waschnapf und eine Flasche lnischwasser.
Hinter dem Würfel, da liegt eine kleine Villa, un-
ter Bäumen verborgen. Kaum sichtbar die Fassade.
Weisser Fleck. Die Strasse führt am Torgitter vor-
bei, wendet und folgt der Mauer des Parks. Unver-
mittelt geht man über ein Bett von frischem Stroh,
das den schleppenden Schritt von tausend und tau-
send Galoschen dämpft. Man rt nur das Scheu-
ern der gleichgetakteten Arme, das Klickern eines
Bajonetts, einer Kinnkette, oder den hohlen Klang
eines Kanisters. Atemzüge einer Million Männer.
Dumpfes Pochen. Unwillkürlich macht jeder Hab-
acht und betrachtet das Haus, das kleine Haus des
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Generalissimus. Licht fällt durch die klappernden
Läden, und in diesem Licht kommt und geht ein
Schatten, amorph. ER. Erbarmt euch der Schlaf-
losigkeit des Grossen Allverantwortlichen, der die
Logarithmentafel schwenkt wie eine Gebetsmühle.
Wahrscheinlichkeitskalküle schmettern ihn auf
Punkt und Stelle nieder. Stille. Es regnet. Kurz vor
der Mauer endet das Stroh. Man stürzt und stapft
im Dreck. Die Nacht ist schwarz. Marschlieder
schmettern lauter.
Catherine geht auf Freierspfote
An jeder Fessel eine Zote
Die Haxen breit zum X gespreizt
Lutscht sie Pilz und Schimmel
Die Titten voll Gebimmel
Dies also die historischen Strassen, die an die Front
hren.
Herbei, ihr feschen Puppen
Mit feuchten Hinterkuppen
Nur immer drauf
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In strammem Marsch
Nur immer drauf
Im Sturmlauf m-arsch
........................
Ruck und zuck, Soldat
Pack Sack und Rock!
Schon wieder steckt
Im Leutnantshock
Ein stinkender Araberbock
............................
Pfarrer Schmatz
Runter mit dem Hosenlatz!
Elsass, Schweiz und Loth-e-ringer
Wollen Wurst in ihre Finger
..............................
Ziegenficker bumm dumm dumm
Schakale schreien Arabumm
..............................
s war eines Frühlingsabends
Da marschierte eine Kolonne weit im Süden
..............................................
Im Marsch die fesche Afri-Trupp
Im Marsch, im Marsch die ganze Grupp
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Und nur die Tonkinesen
Sind wieder faul gewesen
...........................
Lastwagen brummen. Zur Linken, zur Rechten,
alles in schwerer Bewegung, drückend. Alles
putscht, Ruck um Ruck, in die gleiche Richtung.
Kolonnen, Massen in Aufhlung. Ein einziges
Beben. Man riecht wundfiebrige Pferdekruppen,
Motorräder, Karbolsäure und Anis. Es ist, als hätte
man Gummi geschluckt, so schwer lastet die Luft,
Nacht verschlägt uns den Atem, alle Felder verpes-
tet. Der Mundhauch von Pater Pichelwein vergiftet
die Natur. Prost auf den Fusel, der im Magen wie
ein rotglühender Orden brennt! Jählings jagt ein
Flieger unter knatterndem Grollen davon. Wird
von Wolken geschluckt. Und dahinter wogt der
Mond. Die Pappeln auf der Nationalstrasse drehen
sich wie Speichen eines schwindelnden Rades. Hü-
gel stürzen den Abhang hinunter. Die Nacht
weicht diesem Ansturm. Der Vorhang zerreisst.
Alles ächzt, donnert, kracht auf einmal. Allbrand.
Tausend Splitter. Feuer, Zunder, Explosionen. La-
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winengell aus Kanonen. Grollen. Die Schanzen.
Mörser. Im Flackerglanz des Aufbruchs zeichnet
sich das Hasten gebeugter Männer ab, das Gleissen
eines Schildes, ein irrer Gaul. Wimpernschlag. Au-
genblitz aus Magnesium. Jähes Jetzt. Alles schwin-
det. Man erblickt das phosphoreszierende Wogen
der Sctzengräben, dazwischen die schwarzen Lö-
cher der Gruben. Wir stapeln uns zu Parallelo-
grammen des Aufbruchs, irr, hoffnungshohl, ver-
stört, durchnässt, erschöpft und zerschlagen. he
Stunden des Wartens. Man klappert unter den
Granaten. Zähe Stunden im Regen. Anflug von
Kälte. Anfang des Grauens. Endlich dämmert der
Morgen, mit Gänsehaut. Verstete Landstriche.
Frostiges Gras. Totes Land. Kränkelnde Kiesel.
Gekreuzigter Stacheldraht. Das Warten währt
ewig. Unter einem Gewölbe aus Granaten. Man
rt die schweren Wagen in den Bahnhof einfah-
ren. In der Luft liegen Lokomotiven, unsichtbare
ge, Kollisionen, Entgleisungen. Man zählt den
Doppelknall der Rimailhos. rt die Plackerei der
240er. Den grossen Kessel der langen 120er. Die
dröhnende Haubitze der 155er. Das irre Miauen

Blaise Cendrars
Ich tötete – ich blutete

Erzählungen aus dem Grossen Krieg

Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Stefan Zweifel


E-Book
ISBN 978-3-85787-595-3
Seiten ca. 199
Erschienen 1. September 2014
€ 12.99

Die Kriegserfahrungen eines radikalen Literaten, der Täter und zugleich Opfer war

Am 3. August 1914 erklärt das Deutsche Reich Frankreich den Krieg. Nicht nur Franzosen begeistern sich für die Mobilmachung, auch Ausländer wie der 26-jährige Schweizer Frédéric Louis Sauser wollen ihre Wahlheimat verteidigen. Einen Aufruf zur freiwilligen Musterung unterzeichnet er mit seinem Pseudonym: Blaise Cendrars. Ein Jahr später kehrt er schwerverletzt von der Front zurück. Der Krieg hat nicht nur an seinem Körper Spuren hinterlassen, auch sein Schreiben wird nie mehr sein wie zuvor.

Stefan Zweifel hat eine Auswahl von Prosatexten zusammengestellt, in denen Cendrars seine Kriegserfahrungen reflektiert. Ich tötete, 1918 in einer von Fernand Léger illustrierten schmalen Broschüre erschienen, ist das grausame Geständnis eines legalen Mordes, der Aufschrei eines Soldaten, der im Zweikampf um sein nacktes Überleben kämpfen musste. Zwanzig Jahre später erschien das bewegte, pathetische Gegenstück dazu, die Kurzgeschichte Ich blutete: Der frisch armamputierte Cendrars liegt im Lazarett, Schmerzen, Fieber und Erinnerungen an das Schlachtgetümmel umnebeln ihn, der Todesengel naht. Doch da geschieht ein Wunder.

Ich tötete – ich blutete: Cendrars war im Grossen Krieg Täter und Opfer, er kannte beide Seiten.

Pressestimmen

Radikaler, zynischer, deliranter als von Blaise Cendrars ist nicht über den Gewaltrausch des Ersten Weltkrieges gedichtet worden.
— Sabine Vogel, Berliner Zeitung