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www.lenos.ch
Lenos Verlag
Muhammad al-Bissati
Hunger
Roman aus Ägypten
Aus dem Arabischen
von Hartmut Fähndrich
Arabische Literatur im Lenos Verlag
Herausgegeben von Hartmut Fähndrich
Der Übersetzer
Hartmut Fähndrich, geboren 1944 in Tübingen. Studierte Vergleichende
Literaturwissenschaft und Islamwissenschaft in Deutschland und in den
Vereinigten Staaten. Seit 1972 in der Schweiz, seit 1978 Lehrbeauftrag-
ter für Arabisch an der ETH Zürich. Für Presse und Rundfunk tätig.
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde aus Mitteln der Schweizer
Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt durch litprom Gesellschaft
zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Titel der arabischen Originalausgabe:
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Copyright © 2007 by Mohamed El-Bisatie
Published by arrangement with the American University in Cairo Press
Copyright © der deutschen Übersetzung
2010 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagbild: Mohammed Hamed Owuis
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 406 2
Hunger
7
Tretet ein in Frieden
Die Vorderfront des Hauses besteht aus roten Backsteinen.
Der untere Teil ist durch die Feuchtigkeit aufgequollen, ei-
nige Steine sind herausgefallen. Grössere cken wurden
mit Zement geflickt. Die Tür ist aus dickem Holz. Tretet ein
in Frieden, ist darauf mit weisser Farbe gepinselt. Die Farbe
wirkt noch frisch, die Worte sind trotz der Jahre vollständig
erhalten. Der jüngere der beiden Buben im Haus hat über
sie gewacht. Obwohl er der Schrift keinen Sinn abgewinnen
kann, gefällt ihm die Form. Seit er denken kann, sieht er
die Worte jedes Mal, wenn er das Haus betritt. Er klettert
an der Tür empor, um sie abzustauben und sie mit einem
Lappen zu säubern.
Die Seiten- und die Innenwände des Hauses sind aus
Lehm. Der einzige Raum ist mit Holzbalken überdeckt,
eine Hälfte des Hofes ist offen zum Himmel, wodurch bei
Tag und Nacht Licht hereinfällt. Die andere Hälfte ist über-
dacht mit einem Sammelsurium aus Ästen, Palmzweigen,
Blechstücken und Tuchfetzen, deren Enden herabhängen
und nicht viel anders aussehen als die Schlangen, die sich
daneben ringeln.
Die Bank, in einer breiten, höhlenartigen Nische vor der
Tür, bietet Raum r die ganze Familie, und wenn es heiss
ist, schlafen sie alle dort, kreuz und quer liegend.
9
Der Mann
Wie üblich, wenn das Brot im Hause aufgebraucht ist, er-
wacht Sakîna früh und setzt sich auf die Bank, das Kopf-
tuch zusammengeknüllt auf dem Schoss. Sie hat sich das
Gesicht gewaschen und die einzige Gallabija angezogen,
die sie besitzt und die sie schon lange Jahre begleitet.
An vielen Stellen ist sie dünn geworden, und die Farbe
der Rosen ist verblichen. Sakîna schläft nicht darin. Zum
Schlafen genügt ihr der schon mehrfach geflickte Unter-
rock.
Ihr Mann und ihre beiden Buben, zwölf und neun Jahre
alt, setzen sich noch unausgeschlafen zu ihr. Der jüngere,
Ragab, lässt seinen Kopf auf ihren Schenkel sinken und
schläft wieder ein. Der ältere, Sâhir, hockt sich neben den
Türrahmen. Ihr Mann sitzt am anderen Ende der Bank und
stochert mit einem Strohhalm zwischen den Zähnen.
Jaja, er putzt sich die hne. Dreck gegessen und putzt
sich die Zähne, murmelt sie unhörbar.
Doch sie versteht genau, was er mit dem Stochern in den
Zähnen meint. Er ist hungrig, und sie soll glichst rasch
etwas heranschaffen, damit er seinen Hunger stillen kann.
Die vier sind mit leerem Magen zu Bett gegangen. Sie haben
unruhig geschlafen. Sakîna spürte, wie sich die Buben im
Schlaf aufrichteten, herumschauten und sich dann wieder
hinlegten. Was könnte sie tun? Das Letzte, was ihr Mann
besass, hat er vor zwei Tagen für eine Zigarette ausgegeben,
obwohl er eigentlich gar nicht raucht.
Also, da sitzen wir nun.
10
In der Nacht kam er zurück, die brennende Zigarette im
Mund.
Als er die beiden Buben zusammengerollt auf der Bank
liegen sah, drückte er die Glut mit den Fingern aus und
steckte die Zigarette in die Tasche.
Sakîna sitzt wie immer auf der Bank und wartet auf den Ta-
gesanbruch; dann macht sie sich auf den Weg zu den Häu-
sern ihrer Bekannten, um die Frauen um ein paar Stück
Brot zu bitten. Manchmal bekommt sie etwas, manchmal
nicht. Doch immer gibt sie zurück, was sie geborgt hat. Es
kann dauern, aber sie gibt es zurück. Sie wartet nicht, bis
sie aufgefordert wird. Mitunter trifft sie eine dieser Frauen.
Diese sagt nichts, aber ihr Gesicht spricht Bände. Dann ver-
sichert ihr Sakîna: Schon in Ordnung, noch ein paar Tage,
dann backe ich.
Und die Frau verzieht keine Miene. Als hätte Sakîna
nichts gesagt.
Nichts deutet auf einen Backtag. Ihr Mann ist durch
nichts aus seiner Lethargie zu holen. Er arbeitet zwei Tage,
dann zehn Tage nicht. Was sie ihm gern sagen würde,
murmelt sie zu sich selbst. Was sie sagen will: Alle Männer
im Viertel arbeiten. Kein Kind in irgendeinem Haus ist
hungrig oder nackt. Doch ihn mmert das nicht. Ent-
weder liegt er drinnen, oder er sitzt auf der Bank, oder er
schlendert über den Markt. Ganze Nächte zieht er um-
her. Er sitzt mit anderen auf irgendwelchen Bänken oder
in kleinen Moscheen zusammen, oder er steht mit ihnen
herum. Aber er macht keinen Finger krumm. Er lacht mit
anderen und nickt zustimmend, wenn andere dem Gesag-
11
ten zustimmen. Er schliesst sich der Mehrheit an und folgt
den Männern, bis sie sich trennen. Dann geht er auf die
Suche nach anderen.
Was gefällt dir daran eigentlich, Saghlûl?, fragt sie sich.
Sie kennt ihn in- und auswendig. Sobald sie ihn sieht,
hingefläzt auf die Bank, die Hände in die beiden Taschen-
öffnungen der Gallabija gesteckt und seinen Bauch betas-
tend, der Blick nach rechts und links wandernd, weiss sie,
dass er auf Kohlen sitzt, dass er die Welt, und was darin vor
sich geht, anschauen möchte. Dann wird er erst im Morgen-
grauen heimkommen, wenn sich die Cafés und die Markt-
strasse geleert haben, die er allen anderen Strassen vorzieht,
weil sich darin Krethi und Plethi tummeln und Läden und
Lampen aneinanderreihen.
Und nun kommt auch noch diese neue Angewohnheit
dazu, diese Kondolenzgebräuche, denkt sie.
Kein Kondolenzanlass im Ort, den er nicht aufsuchte. Er
geht zu Fuss, wohin auch immer, und bleibt im Kondolenz-
zelt, bis der Koranleser seine Rezitation abgeschlossen hat.
Dann hilft er beim Zusammenstellen der Stühle. Wenn ihn
die Arbeiter vom Zeltverleih so eifrig sehen, lassen sie ihn
die Stühle hinaustragen und auf die beiden Wagen laden.
Sie selbst nnen während dieser Zeit das Zelt abbauen.
Obwohl Saghlûl hager und mager aussieht und eigentlich
nur aus Haut und Knochen besteht, arbeitet er unermüd-
lich. Einmal sah sie, wie er sich einen viertürigen Schrank
auf den cken lud und vom Karren mit der Aussteuer zum
Heim der Frischvermählten in der Nachbarschaft trug.
Ja, das war ein Tag! Den werden die Leute nicht verges-
sen.
12
Ein paar Jahre zuvor. Dieselbe Strasse und auch ein Aus-
steuerwagen.
Chalîls Tochter Sâmija. Wer könnte sie vergessen?
Der Schrank stand auf dem Karren. Zwei nner hiel-
ten ihn fest, an jeder Seite einer. Der grosse Spiegel strahlte.
Alles war darin zu sehen, sogar die Frauen auf den Dächern,
von denen so manche selbstvergessen dasass und nicht
merkte, dass zwar nicht ihr Kopf, ihre Schenkel jedoch sehr
wohl im Spiegel auftauchten.
Bedeck dich anständig, du da auf dem Dach!, war zu hö-
ren.
Die Buben ngten sich an den Wagen, reckten den Hals
und schrien laut, wenn sie was im Spiegel sahen.
Was für ein Tag das war!
Dort bei der Wohnung der Brautleute wird es so eng, dass
kein Karren durchkommt. Sie hielten am Eingang der Gasse.
Die vier Männer hievten den Schrank nach unten und tru-
gen ihn hinein. Sie waren gebeugt, ihre Gesichter berührten
den Schrank. Sie hatten ihre Gallabijas hochgerollt und um
die Hüfte festgemacht. Vorsichtig setzten sie ihre Füsse auf,
die Adern an ihren Schläfen waren geschwollen.
Gepriesen sei Gott für alles, was er wirkt!
Bei einem von ihnen löste sich die festgebundene Galla-
bija. Er stolperte über den Saum und stürzte. Die Balance
der anderen drei war gesrt, und alles fiel zu Boden wie ein
zusammenbrechendes Haus. Die Teile flogen umher, acht
Stücke dahin und dorthin. Von dem Spiegel blieb kein Zoll
heil. Die Scherben flogen bis tief in die Gasse hinein. Die
Jubeltriller der Frauen wurden zu Schreien, Klagen und ge-
schlagenen Wangen.
13
Mein Gott, und das am Tag der Hochzeit! Welch
schreckliches Omen!
Der Bräutigam sagte kein Wort. Er kam gerannt, warf
einen Blick auf den zertepperten Schrank und ging ins
Haus zurück. Man brachte ihm das übrige Mobiliar. Die
Festivitäten waren abgeschlossen. Jubeltriller und tränen-
gellte Augen. Alle erwarteten ein Unheil, und niemand
wusste, woher es kommen würde.
Der Bräutigam vollzog die Ehe. Die Braut hatte gebadet
und ihr Haar geflochten.
Doch am folgenden Tag schickte der junge Ehemann
seine Frau ins Haus ihres Vaters zurück.
Dieser, Chalîl, hatte die Hälfte der Aussteuer seiner
Tochter auf Pump gekauft.
So Gott will, wenn die Baumwolle so weit ist, hatte er
dem Möbelhändler gesagt.
Bis zur Baumwollernte waren es noch sieben Monate.
Der Möbelhändler willigte ein und nahm von Chalîl einen
Schuldschein entgegen. Doch die Baumwolle auf Chalîls
Land würde niemals reichen.
Wenn der Tag der Zahlung kommt, wird unser Herr
schon eine Lösung finden. Wichtig ist, das Mädchen ehrbar
zu halten, sagte Chalîl damals.
Das Mädchen kehrte ins Haus seines Vaters zurück.
Und wer immer etwas zu sagen hatte, sagte es.
Der Gerüchte waren viele. Gerade verheiratet, und am
Tag drauf geht sie zurück ins Haus ihres Vaters?
Nein, da muss es doch was geben.
Ich kauf einen neuen Schrank, und damit basta, erklärte
Chalîl, den das Getuschel vielleicht gar nicht erreichte,

Shortlist Arabischer Booker-Preis (2009)

Roman aus Ägypten

Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-406-2
Seiten 140
Erschienen April 2010
€ 17.50 / Fr. 26.50

Wenn der Magen leer ist und lange leer bleibt, breitet sich die Leere im ganzen Menschen aus. Sie bemächtigt sich seines Gehirns und seiner Emotionen. Die Suche nach Nahrung wird zum Lebensinhalt, der Mangel zum Dauergedanken. Und der Hunger treibt zu anderen Fragen – existentiellen, politischen, theologischen –, denn er macht auch Klassenunterschiede sichtbar, die sich durch vereinzelte Aktionen der Nächstenliebe nicht übertünchen lassen.

Diesen Zustand führt Muhammad al-Bissati in seinem neuen Roman vor. Am Beispiel einer Familie aus einer ägyptischen Kleinstadt zeigt Hunger die Anstrengungen der Nahrungsbeschaffung und die Visionen, die über das tägliche Brot hinausgehen. Der Roman gibt so auch einen Einblick in gesellschaftliche Gruppen, deren Stimmen in Zukunft unüberhörbar werden, steht doch der Hunger weit oben auf der Liste der ungelösten Probleme dieser Welt.

Mit Hunger hat Muhammad al-Bissati ein weiteres literarisches Juwel geschaffen und dem bisherigen halben Dutzend seiner Romane hinzugefügt. Eindringlich, aber unspektakulär führt er eine Gesellschaft vor Augen – diejenige der ägyptischen Kleinstadt –, die nicht viele literarische Repräsentanten kennt.

Nominiert für den Arabischen Booker-Preis 2009 (Shortlist)