LENOS
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Das Tierheim Le Chat, das auch Lösch genannt wird, ist Ginnys Zu-
hause geworden. Seit mehreren Jahren kümmert sie sich zusammen
mit dem kauzigen, verwitweten Betreiber Sebrov, dem »Hundeüs-
terer«, und seinem Sohn Mirko um die heimatlosen Katzen und
Hunde.
Eines Tages taucht eine neue Praktikantin, Aka, im Lösch auf. Die
Routine gerät aus den Fugen. Ginny wird mit ihrer Herkunftslosig-
keit konfrontiert. In wachsender Verwirrung und Verunsicherung
beschäftigt sie sich mit ihrer Vergangenheit. Ginny will ihre Ge-
schichte neu ernden. Einen Besucher des Tierheims erklärt sie zu
ihrem Vater und verschat sich Zutritt zu dessen Haus. Der Kon-
ikt zwischen alter und imaginierter Herkunft eskaliert. Das Verwi-
schen von Spuren wird im Lösch, wo Honung und Verzweiflung,
Liebe und Hass, Ankunft und Abschied einander bedingen, zu einer
Frage von Leben und Tod.
Lenos Verlag
Louisa Merten
Hundesöhne
Roman
Der Verlag dankt der Sophie und Karl Binding Stiftung für die
Unterstützung.
Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig.
Erste Auflage 2025
Copyright © 2025 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz, Gestaltung und Umschlag: Lenos Verlag, Basel
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 050 9
www.lenos.ch
Für Johannes
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Es war mein einundzwanzigster Geburtstag. Nicht dass
jemand darauf Rücksicht genommen hätte. Mirko hatte
mich zu den Katzen geschickt, obwohl er wusste, dass
ich es hasste, bei den Katzen zu putzen. Er wollte mir
eine Lektion erteilen. Ein warmer Wind wehte durch die
Ritzen der Holzwände und trug Erde, trockene Blätter
und Insekten herein. Ich fegte sie mit dem Handrücken
hinaus. Was da draussen an Natur war, hatte drinnen
bei den Katzen nichts verloren. Ich zog die Leintücher
von den Katzenbetten ab und schüttelte sie aus. Spiel-
sachen elen auf den Boden und eine Decke nach der
anderen; die Polyesterdecke mit dem Pfotenmuster, die
Strickdecken vom Frauenverein und der Fusselteppich.
Ich bückte mich, und mein Rücken bog sich in der von
Katzenhaar prickelnden Luft so langsam, wie wenn man
einen Kaeelöel krümmte. Für Mirko konnte es nicht
genug Decken und Spielsachen geben. Er karrte kisten-
weise Krempel an, den er im Laden zu Tiefpreisen er-
gatterte, und hatte bei jeder Rückkehr die Taschen vol-
ler Gummibälle, die aus einem Automaten stammten,
den er nach dem Einkauf mit dem Rückgeld fütterte.
Er wusste ja selbst nicht mehr, wohin mit dem Zeug.
Vielleicht putzte er auch deswegen nicht mehr bei den
Katzen. Er war immer bei den Hunden. Ich bürstete
die Katzenbäume. Keine Katze wartete darauf, von hier
abgeholt zu werden. Die Katzen warteten nicht, sie re-
sidierten.
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Mausgrosse Fellbäusche schwebten durchs Zimmer,
vorbei an hundert Plüschtieren, die ihre netten Ge-
sichter vom Staub auffressen liessen. Eine Pfote schob
sich aus dem Bett über mir, ein Gummiball rollte vom
Regal, sprang im Zimmer auf und ab und verng sich
zwischen zwei verrutschten Teppichen in der Ecke. Ich
ging in die Hocke und gri danach. Da verkrampften
sich meine Oberschenkel, und ich el knievoran nach
vorn in die feine Spur grauen Katzensands, die der Ball
hinterlassen hatte. Als ich mich aufrichtete, stiess ich
erst mit dem Kopf, dann mit der Schulter gegen das
Regal. Ein dumpfes Pochen breitete sich unter mei-
ner Schädeldecke aus. Katzen sind nie da, wo man sie
riecht. Sie sind wie eine Form von Vergangenheit, eine
schlechte Erinnerung. Ich rieb die Beule und drückte
den Schmerz ins Gehirn. Nachdem ich eine Runde mit
dem Staubsauger gedreht hatte, rückte ich die Teppi-
che zurecht und räumte die Spielsachen von der Ablage.
Dann sammelte ich die Lappen ein, hängte sie über
den Eimer und nahm ihn mit. Draussen zogen graue
Wolken auf. Links und rechts von mir warfen sich die
Hunde bellend gegen die engmaschigen grauen Zäune.
Die Dackel mit den begradigten Beinen, der Golden
Retriever mit dem neuen Hüftgelenk und die Französi-
sche Bulldogge mit den auseinandergezogenen Nasen-
löchern. Nach innen zur Futterküche hin wurden sie
kränker.
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Als ich mit dem Ellenbogen ein grünes Tarnnetz
streifte, sprang ein Schatten auf mich zu. Die Nachfol-
gerin von Merlot. Mirko hatte eine Bissnarbe, die sich
von seinem Bauchnabel bis zum Ansatz seiner Rippen
zog. Ich trat einen Napf beiseite, der umgedreht im
Dreck lag. Mit so einem Napf auf dem Kopf und mit
einer Tube Salbe soll Mirko sich als kleiner Junge unter
dem Zaun hindurchgezwängt haben, um die Wunden
auf Merlots Rücken zu verarzten. Merlot hatte Mirko zu
Boden gerissen, ihn am Bauch gepackt und geschüttelt.
Irgendwie hatte Mirko Merlots Ohr zu fassen bekom-
men und hineingebissen. Merlot hatte ihn losgelassen,
und Mirko war dem Tod um Haaresbreite entkommen.
Sein Vater, Sebrov, hatte den Hund einschläfern lassen.
Eine Entscheidung, die Mirko ihm nicht verzieh.
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Wir nannten die Futterküche auch den Küchen-
schlauch. Das zweistöckige Haupthaus hatte die Form
eines Kreuzes ein Tempel, um den sich ein gutes
Dutzend Hütten kreisförmig anordneten. Der Küchen-
schlauch bestand aus einem schmalen Gang, der in ei-
nen Quergang mündete, an dessen Ende es eine Futter-
kammer und einen Materialraum gab. Dem Quergang
entlang reihten sich Türen aus Sperrholz, die mit Dreh-
knäufen und Eisenketten verschlossen waren. Dahinter
öneten sich Buchten, in denen die Insassen das Leben
ausschieden. Geburtsnischen und Sterbekammern.
Ich kippte das Putzwasser in den Ausguss, wusch den
Kessel und holte die Wäsche aus der Waschmaschine,
die Sebrov neben die Spüle gestellt hatte. Auf den Wä-
scheleinen, an der Decke des Küchenschlauchs, hingen
Mirkos Laken. Ich nahm sie herunter und schmiss sie
auf die hölzerne Treppe, die hoch in Sebrovs Wohnung
führte. Dann betrat ich mit dem vollen Wäschekorb das
Chez Eme eine Bucht für die Sterbenden. Die Katzen,
die dort ihren Lebensabend verbrachten, würden kein
Zuhause mehr nden. Sie verschliefen vier Fünftel des
Tages. Ich stupste sie an, um zu sehen, ob sie noch leb-
ten. Mo, der auf seinem Katzenbaum sass, schlug mit
dem Schwanz. Als er mich sah, balancierte er kopfvoran
auf den nächstunteren Teller und schmiegte sich an
mich; ein Akt der Liebe und gleichzeitig eine Drohung.
Keiner ausser mir konnte ihn anfassen. Ich hatte ihn vor
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fünf Jahren gefunden, und er wäre damals fast gestor-
ben. Er war jung, doch er kränkelte immer wieder. Wir
standen es gemeinsam durch.
Die Tür ging auf, und Mirko trat ein.
»Was ist mit der Wäsche?«, schnauzte er.
Ich nahm den Wäschekorb mit in den Küchen-
schlauch. Der frische Geruch des Waschmittels mischte
sich beim Hinausgehen mit dem Katzendunst.
»Das stinkt ja immer noch!«, rief er mir nach. »Ist
das von der Katze? Das geht gar nicht! Heute kommen
doch die Leute von der Stiftung!«
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Ich ging zurück zu den Buchten und önete das Sicht-
fenster in der Tür nebenan. Die Katze, eine weisse An-
gorakatze mit buschigem Fell, kauerte auf einem Teller,
der nach unten aussackte wie eine Hängematte. Die
Badezimmerteppiche rund um ihren Katzenbaum wa-
ren mit Kot verklebt. Schon wieder.
»Sie muss zum Tierarzt, Mirko«, murmelte ich.
Ich holte einen Waschlappen und füllte lauwarmes
Wasser in einen Eimer. Die Katze sprang rumpelnd zu
Boden und lauerte an der Tür. Vorsichtig önete ich und
schob sie mit dem Fuss zurück. Das Wasser schwappte
an den Eimerrand. Sie zuckte mit den Ohren, bereit,
sich zu verteidigen. Ich stellte den Eimer ab, schloss die
Tür und packte sie blitzschnell am Nacken. Ihre Kral-
len bohrten sich in meine Arme. Sie stank nach Jau-
che. Ich löste ihre Pfoten von mir und setzte mich auf
den Boden, nahm sie auf den Schoss und weichte mit
dem lauwarmen Wasser das verkrustete Fell an ihrem
Schwanz ein. Eine braune Sauce rann über ihre samt-
weissen Innenschenkel. Die Kratzer auf meinen Armen
ngen an zu bluten. Ich dachte an Josys Arme, die von
den Handgelenken bis zu den Schultern mit Narben
gestreift waren und an das Fellmuster einer getigerten
Katze erinnerten. Josy war die Einzige hier, die lieber
bei den Katzen arbeitete. Zu den Hunden scheuchen
konntest du sie nur mit Menschen. Ich liess die Katze
los. Sie strampelte, ohne ihre wiedergewonnene Frei-
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heit zu bemerken, sprang plötzlich auf und üchtete in
ihre Höhle. Ich zog die Tür zu, holte ein Paster und
besprühte die Kratzer mit Desinfektionsmittel. Dann
stopfte ich die Badezimmerteppiche in die Maschine
und suchte hinten im Lager frische aus. Ich entschied
mich für einen grünen und für einen blauen. Mirko
wollte, dass die Farben zusammenpassten, wegen der
Besucher.
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Später, am Mittag, war er mit seinem Pitbull Ben draus-
sen auf der Wiese. Er wollte ihn zum Schutzhund aus-
bilden. Als ob hier irgendjemand einen Schutzhund
brauchte. Ben drückte sich mit den breiten Schultern in
die Riemen seines Geschirrs, beschnüelte einen Gras-
halm und leckte ihn ab. Dann hob er sein Bein und
liess ein paar Tropfen fallen. Er war das prominenteste
Tier im Lösch. Anstelle der schleimigen Hautlappen
thronten eischige Kiefermuskeln auf seinen Wangen,
so gross wie halbierte Honigmelonen.
»Ich mach Pause«, sagte ich zu Mirko.
»Am Nachmittag hilfst du mir mit den Hunden.«
»Gut.«
»Gut wäre, wenn du die Wäsche aufgehängt hät-
test.«
»Gut.«
Ich suchte meine Kopfhörer in der Hosentasche
und fand zwischen Hundecrackern und einem leeren
Nassfutterbeutel ein zusammengedrücktes Kabelnest;
es glänzte vom Fett der Tierhaare. Den Schlüssel hatte
ich in der anderen Hosentasche. Sebrov hatte ihn mir
nach meinem ersten Lehrjahr anvertraut. Nicht jeder
kam hier einfach so rein. Ich schloss das Tor hinter mir
und entwirrte die Knoten des Kabels, während ich die
steile Einfahrt zur Strasse hinaufstieg, wo ein Holzschild
angebracht war, dessen abblätternde grüne Farbe in
die Ritzen des morschen Holzes bröselte. Das Einzige,
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was von der Strasse aus auf die Existenz des Tierheims
schliessen liess, war dieses handbemalte Schild.
»Tierheim Le Chat.«
Das Lösch.
Sebrov wäre es nicht im Traum eingefallen, das
Schild zu erneuern. Seine verstorbene Frau Eme hatte
es gemalt. Es war ihre Idee gewesen, das Tierheim Le
Chat zu taufen; als Journalistin hatte sie ein Händchen
für Worte gehabt. Le Chat bestand aus denselben Buch-
staben wie Chalet. Sie hatte die Hütten Chalets nennen
wollen, aber die Realität hatte sich im Uhrzeigersinn
gedreht und war mit Emes Logik kollidiert. Es waren
Bungalows und keine Chalets: Sie hatten kein Funda-
ment.

Chrysalide – Binding Förderpreis für Literatur

Louisa Merten
Hundesöhne

Roman

Hardcover
ISBN 978-3-03925-050-9
Seiten 181
Erschienen 5. August 2025
€ 25.00 / Fr. 26.00

Ein kraftvoller Roman über das Überleben am Rand der Gesellschaft – intensiv, sinnlich, roh und erschütternd.
— Lukas Bärfuss

Das Tierheim Le Chat, das auch Lösch genannt wird, ist Ginnys Zuhause geworden. Seit mehreren Jahren kümmert sie sich zusammen mit dem kauzigen, verwitweten Betreiber Sebrov, dem »Hundeflüsterer«, und seinem Sohn Mirko um die heimatlosen Katzen und Hunde.
Eines Tages taucht eine neue Praktikantin, Aka, im Lösch auf. Die Routine gerät aus den Fugen. Ginny wird mit ihrer Herkunftslosigkeit konfrontiert. In wachsender Verwirrung und Verunsicherung beschäftigt sie sich mit ihrer Vergangenheit. Ginny will ihre Geschichte neu erfinden. Einen Besucher des Tierheims erklärt sie zu ihrem Vater und verschafft sich Zutritt zu dessen Haus. Der Konflikt zwischen alter und imaginierter Herkunft eskaliert. Das Verwischen von Spuren wird im Lösch, wo Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Hass, Ankunft und Abschied einander bedingen, zu einer Frage von Leben und Tod.


Pressestimmen

Louisa Mertens Text zwingt uns, das Uneindeutige auszuhalten, und verführt uns dazu, das Geheimnisvolle auszukosten. »Hundesöhne« ist ein dichter, vielschichtiger, ehrgeiziger Text, der viel wagt … ein Roman, der tief in eine literarisch wenig beleuchtete Arbeitswelt hineinblickt und darin eine Erzählung über die Suche nach Herkunft und Heimat einbettet.
— Laudatio von Florian Bissig zur Verleihung des Chrysalide – Binding Förderpreises für Literatur
»Hundesöhne« vibriert schier vor körperlich spürbaren Gefühlen. Der Roman erzählt vom Verlorensein im Tierheim und im Leben.
— Michael Bohli, Phosphor Kultur
Gekonnt verwebt die Autorin Erinnerung, Gegenwart und Phantasie miteinander, ihre Sprache ist dicht, bildreich und sinnlich – es klingt, riecht und schmeckt förmlich aus den Seiten. Das ist oft fesselnd und gleichzeitig unangenehm wie ein Fiebertraum.
— Maria Künzli, Keystone-SDA
Das Debüt der Autorin Louisa Merten … vermischt die rohe Welt des Tierheims Le Chat mit der rohen Seele eines verlorenen, jungen Menschen, dem Liebe und Wurzeln abhandenkamen. Beides scheint hervorragend zueinander zu passen, sich zu ergänzen, auf grausame Weise.
— Clara Gauthey, Bieler Tagblatt

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