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LENOS POCKET 131
www.lenos.ch
Yvette Z’Graggen
Heimkehr ins Vergessene
Mein Familienalbum
Aus dem Französischen
von Maria Spälti-Elmer
Lenos Verlag
LENOS POCKET 131
Titel der französischen Originalausgabe:
Changer l’oubli
Copyright © 1989 by Editions de l’Aire, Vevey
Erste Auflage 2010
Copyright der deutschen Übersetzung
© 1990 by Gemeinschaftsverlag Neujahrsbote, Linthal,
und Buchhandlung Baeschlin, Glarus
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagbild: Keystone Photochrom (»Klausenstrasse. Blick auf Urnerboden«)
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 731 5
Für Cleophea, Joseph, Johanna, Carl,
Niklaus und alle andern
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Es war im April 1932, als ich das letzte Mal in dieses Tal
kam. Ich war eben zwölf Jahre alt geworden, mein Vater
einundvierzig.
Es ist die einzige Reise, die wir zusammen gemacht ha-
ben.
Es war ihm nicht wohl beim Gedanken, sein Dorf, seine
Eltern wiederzusehen. Ich selbst drückte ein dickes, schwar-
zes Wachstuchheft an mich: meine Zuflucht.
Wir sprachen wenig im Dampfzug, der durchs Glar-
nerland von Ziegelbrücke nach Linthal hinauffuhr. Ich
wusste nie, worüber ich mit meinem Vater sprechen sollte,
er schüchterte mich ein; meine Mutter war es, der ich mich
anvertraute. Er selbst wusste auch nicht, wie er den Graben
überschreiten sollte, der ihn von seiner Tochter trennte, die
in Genf geboren worden war und nichts von seiner Vergan-
genheit verstehen konnte.
An diesem Junimorgen des Jahres 1988 fahre ich im Auto
durch das Tal und erkenne nichts wieder. Ich suche das
Ortsschild Luchsingen, sehe wohl viele andere, Ennenda,
Schwanden, Nidfurn, dann Betschwanden, ti. Am Fuss
des Bergmassivs, das den Horizont begrenzt, ndigt sich
bereits Linthal an.
Kein Zweifel, ich habe das Ortsschild übersehen, habe
das Dorf durchfahren, ohne es zu bemerken, ohne dass ir-
gendeine Erinnerung wach geworden wäre.
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Ich halte am Strassenrand an. Ist es möglich, dass ich es
jetzt noch, nach so vielen Jahren, zurückweise, dieses Dorf
Luchsingen?
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Ich wurde wie ein kleines Mädchen des Genfer Bürgertums
erzogen.
Privatschule. Eine grosse Wohnung in einem der schönen
Quartiere der Stadt. Das Parkett auf Hochglanz gewichst.
Lederfauteuils, Orientteppiche, viel Silberzeug. Ein Dienst-
mädchen. Manchmal zwei. Eine Wäscherin, und Catherine,
die alte Glätterin, tiefgebeugt von der Arbeit.
Oft brachten mich meine Kameradinnen in Verlegenheit:
»Dein Name, woher kommt er überhaupt?« Widerstrebend
antwortete ich, dass dies ein Urner Name sei. Manchmal
spöttelte dann eine: »Uri, das Land von Wilhelm Tell «
Sie machte sich über mich lustig, und ich gab ihr recht,
denn auch ich fand das ein bisschen lächerlich.
Deshalb versuchte ich mich zu verbessern: »Mein Vater
ist im Kanton Glarus geboren«, ohne mir dabei darüber
klar zu sein, dass ich damit meine Sache noch verschlim-
merte. Denn Glarus, das war für diese kleinen Genferinnen
nun wahrlich die Finsternis, das Nichts. Uri immerhin, das
kannte man ein wenig, eben gerade wegen Wilhelm Tell
und des Schwurs der drei Eidgenossen, des Rütlis und so.
Aber Glarus …
Ich rief meinen Grossvater mütterlicherseits zu Hilfe,
sagte sehr schnell, dass er Ungar war, aber in Wien ge-
boren. Das machte sich gut, selbst wenn das Kaiserreich
Österreich-Ungarn seit etlichen Jahren nicht mehr bestand.
Und schliesslich fügte ich noch hinzu: »Meine Mutter ist
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in Genf geboren«, was mich einigermassen gleichsetzte mit
diesen Töchtern von Bankiers, von Professoren, von reichen
Kaufleuten.
Im Übrigen war ich stolz auf meinen Vater. Meistens
dachte ich gar nicht an seine Herkunft. Er sprach Fran-
zösisch fast ohne jeden Akzent, auf jeden Fall ohne jene
Schwerfälligkeit, die man spöttisch nachahmte. Er war gut
angezogen und übte einen Beruf aus, den ich als ehrenhaft
empfand: Zahnarzt. In seiner Praxis am Boulevard des Phi-
losophes trug er einen weissen Kittel und handhabte ge-
wandt allerlei geheimnisvolle Instrumente.
Er besass auch ein Auto, in jenen zwanziger wie auch
Anfang der dreissiger Jahre in Genf noch eine Seltenheit.
Papa sprach fast nie vom Dorf, in dem er zur Welt ge-
kommen war, obschon seine Eltern dort noch lebten: sein
Vater Joseph und seine Mutter, die einen so eigenartigen
Vornamen trug, dass man ihn fast nicht einzugestehen
wagte: Cleophea. Glücklicherweise haben meine Kamera-
dinnen nie danach gefragt. Diesen Grosseltern schrieben
wir von Zeit zu Zeit, aber Jahre vergingen, ohne dass wir
sie besuchten.
Ich wusste wenig über sie; so hatte ich beispielsweise
keine Ahnung, ob er, der Grossvater, überhaupt einen Beruf
ausübte. Wenn ich danach fragte, antwortete man mir aus-
weichend, mit verlegener Miene, und ich war danach auch
nicht gescheiter als vorher. Ob er vielleicht ein Schmuggler
war? Ich hätte gerne einen Schmuggler als Grossvater ge-
habt. Aber das war ja nicht glich: Der Kanton Glarus
liegt mitten in der Schweiz, grenzt an keinen fremden Staat,
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und von einem Kanton in den andern wird auch nicht ge-
schmuggelt.
Hingegen kann es vorkommen, dass man in einen an-
dern Kanton zieht, um dem Elend zu entfliehen, um zu ver-
suchen, einigermassen menschenwürdig zu leben.
Aber solche Dinge erzählt man einem kleinen, verhn-
ten Mädchen nicht.

Yvette Z’Graggen
Heimkehr ins Vergessene

Mein Familienalbum

Aus dem Französischen von Maria Spälti-Elmer


Lenos Pocket 131
Paperback
ISBN 978-3-85787-731-5
Seiten 148
Erschienen Januar 2010
€ 16.00 / Fr. 18.00

Über viele einschneidende Vorkommnisse wird in der kleinen Familie des angesehenen Zahnarztes Dr. Henry Z. in Genf nicht gesprochen: nicht über die Gründe der häufigen Wohnungswechsel, nicht über die zusehends abnehmende Zahl von Hausangestellten, nicht über den plötzlichen Verzicht auf ein Auto, nicht über die Muttersprache des Vaters.

Yvette Z’Graggens Spurensuche führt in ein enges Tal in der Innerschweiz, von Genf meilenweit entfernt, fremd und ungewohnt. Es entsteht das brüchige Porträt einer Familie, deren Geschichte beispielhaft einen Teil der schweizerischen Sozialgeschichte widerspiegelt: eine Geschichte von Armut und Not, von menschenunwürdigen Arbeits- und Wohnverhältnissen sowie der existentiellen Notwendigkeit zur Migration im eigenen Land oder in die Fremde.

Yvette Z’Graggen gelingt es, im Nachforschen über die eigenen familiären Wurzeln sensibel und eindrücklich individuelle Schicksale zu beschreiben, die wohl auch als exemplarisch für ihre Zeit gelten können. Lebenswege, die von Disziplin, Anstrengung, Anpassungsfähigkeit und Hartnäckigkeit, aber auch von Lebenslust, Risikobereitschaft und Übermut geprägt sind.

Pressestimmen

Eine spannend erzählte Sozialgeschichte vom Aufstieg aus armen Verhältnissen und vom Absinken in jene Kreise, wo man täglich ums Überleben kämpfen muss.
— P.S.
Nachdrücklich zu empfehlen.
— Schweizer Radio DRS