LENOS
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2017 wird der Reaktorblock Kori 1, der älteste Südkoreas,
nach vierzigjähriger Laufzeit abgeschaltet. Auch die Autorin
hat zu diesem Zeitpunkt ihr vierzigstes Altersjahr erreicht.
Ihre Mutter arbeitete einst dort, ihr Vater gehörte als briti-
scher Ingenieur zum Expertenteam der Kraftwerkserbauer.
Eine Ära der lange bewunderten und mit vielen Hoffnungen
verbundenen Atomtechnologie geht zu Ende: Anlass für die
Autorin, über ihre Identität nachzuforschen. Eine abenteu-
erliche und ungewisse Suche nach ihrer familiären Herkunft
beginnt. Sie spürt Konturen des ungewöhnlichen Lebens des
unbekannten Vaters auf.
Aus den Bruchstücken der väterlichen Biographie, auf ihrer
eindrücklichen Reise zu den Orten in Grossbritannien, Asien
und den USA, an denen er gelebt hat, entwickelt sich ein fas-
zinierendes emotionales Spiel der Erinnerung zwischen Phan-
tasie und Realität.
Rinny Gremaud, geboren 1977 in Busan, Südkorea, kam in
jungen Jahren mit ihrer Mutter in die Schweiz. Sie studierte
Betriebswirtschaft, schrieb für Le Temps und war Journalistin
bei Radio Télévision Suisse. Heute ist sie Chefredaktorin des
Magazins T. 2018 publizierte sie ihr erstes Buch, Un Monde
en toc (deutsch: Verkaufte Welt). Für Generator wurde sie
2024 mit dem Prix Bibliomedia ausgezeichnet. Rinny Gre-
maud lebt in Lausanne. rinny.ch.
Lenos Verlag
Rinny Gremaud
Generator
Roman
Aus dem Französischen
von Barbara Sauser
Die Übersetzerin
Barbara Sauser, geboren 1974 in Bern, studierte Slawistik und
Musikwissenschaft. Nach mehreren Jahren im Zürcher Rot-
punktverlag arbeitet sie seit 2009 als freiberufliche Überset-
zerin aus dem Italienischen, Französischen, Russischen und
Polnischen. 2023 erhielt sie den Viceversa-Preis für literari-
sche Übersetzung der Schweizerischen Schillerstiftung. Sie
lebt in Bellinzona. barbarasauser.ch.
Die Übersetzerin und der Verlag danken der Schweizer Kul-
turstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung.
Die Übersetzerin bedankt sich herzlich für den Werkbeitrag
der UBS Kulturstiftung und das Aufenthaltsstipendium der
Fondation Jan Michalski.
Titel der französischen Originalausgabe:
Generator
Copyright © 2023 by Sabine Wespieser éditeur
Erste Auflage 2025
Copyright © der deutschen Übersetzung
2025 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: Wirestock Creators / Shutterstock
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 044 8
www.lenos.ch
Für Sook-hye und Michel
Für Ulysse und Lucile
Für Pierre
»Ich habe vor«, sagte ich,
»sofort nach der Ankunft zu heiraten.«
Pierre Loti,
Madame Chrysanthème
(deutsch von Igor Müller)
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Ich wurde 1977 in einem Atomkraftwerk geboren,
im Süden von Südkorea.
Bis zu diesem Tag im Sommer 2017 hatte ich meine
Herkunft nie in diesem Licht betrachtet. Durch eine
Agenturmeldung erfuhr ich von der Absicht des Prä-
sidenten Moon Jae-in, das Land aus der Kernkraft zu
führen, angefangen mit der Abschaltung des ältesten
Reaktorblocks, Kori 1. Meines Reaktors.
Es sei das symbolische Ende einer Ära, war da zu
lesen. Südkorea, vierzig Jahre zuvor ins Atomzeit-
alter und damit in die Moderne eingetreten, würde
künftig ausschliesslich in erneuerbare Energien in-
vestieren. Kapitel abgeschlossen, Epochenwechsel,
Vorhang zu.
Südkorea war damals weder das erste noch das
einzige Land, das sich Gedanken über sein Ver-
hältnis zur Atomenergie machte der Tsunami von
2011 in Fukushima hatte die Landschaft in vielerlei
Hinsicht umgepflügt. Zudem beträgt die bilanztech-
nische Lebensdauer eines Kernkraftwerks vierzig
Jahre, so viel Zeit geben sich, anders ausgedrückt,
seine Eigentümer für die Amortisation der Kosten.
Eine gutgewartete und regelmässig kontrollierte An-
lage hat das Potential, über diese willkürlich gesetzte
Frist hinaus fortzubestehen, vorausgesetzt, dass im
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richtigen Moment in das Richtige investiert wurde.
Der grösste Teil des weltweiten Bestands stammt aus
den siebziger bis neunziger Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts. Seither waren die Kraftwerke Spielball
der wechselnden politischen Bedingungen, wie sie in
den meisten industrialisierten Demokratien üblich
sind. Als Südkorea seine Absicht kommunizierte,
stellte man auch in den meisten anderen Atomstaa-
ten Überlegungen bezüglich der Zukunft dieser tita-
nischen Anlagen an, die gerade reihenweise ihr for-
melles Verfallsdatum erreichten. Die Atomindustrie
steckte sozusagen in ihrer Midlife-Crisis.
Es gab, fand ich, viel Stoff zum Nachdenken über
diese Ära, die nun ihr Ende erreichte: das erste Atom-
zeitalter. Über den verlorenen Industrieoptimismus,
den Fortschrittsglauben, der die Gesellschaften einst
angetrieben hatte, die Macht der Energie, die un-
ser Leben beherrscht und auf der unser Wohlstand
basiert. Auch über den Mythos der Atomkraft, die
Nuklearutopie und die Kathedralen für Turbinen,
über Wärme- und Lichtversprechen in Megawatt
und über die Frauen und Männer, die die Menschheit
in bester Absicht zu Gefangenen dieses Komforts
machten. Und nicht zuletzt auch über die Religion,
gegen Kernkraft zu sein, über den neuen öffentlichen
und medialen Konsens, der heute mit einem allgemei-
nen, institutionalisierten Misstrauen gegenüber allen
Orten der Macht einhergeht: gegenüber der Wissen-
schaft, der Industrie, der Politik. Die Welt hatte sich
zwischen 1977 und 2017 unglaublich verändert.
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Vor allem aber empfand ich die Stilllegung des Re-
aktorblocks Kori 1 als meine persönliche Angele-
genheit. Die Meldung aus Südkorea wirbelte in ge-
heimen Winkeln meines Bewusstseins Schlamm auf,
einen Bodensatz, der so alt war, dass ich ihn für längst
versteinert gehalten hatte. Das nahende Ende dieses
Kraftwerks verschob Linien in den Schattenberei-
chen meiner Geschichte, so wie die Erschütterungen
eines fernen Erdbebens bewirken können, dass sich
der Deckel eines jahrhundertelang versiegelten Sar-
kophags unmerklich verschiebt.
Die Nachricht löste an diesem Punkt in meinem
Leben ich war ja ebenfalls gerade vierzig gewor-
den merkwürdige Schwingungen in einem inneren
Hohlraum, in den Grundfesten meiner Identität aus.
Vielleicht war auch für mich der Zeitpunkt gekom-
men, das Ende einer Ära zu erklären.
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Vierzig Jahre zuvor ging Kori 1 offiziell ans Netz,
und meine Mutter die wie Tausende anderer Men-
schen aus einem Dutzend Nationen an dieser indus-
triellen Meisterleistung mitgewirkt hatte war nicht
dabei, als bei einer Feier auf die Zukunft angestossen
wurde. Sie sass in einem Schaukelstuhl in einer west-
lich eingerichteten, weltanschaulich und moralisch
also klar am Fortschritt orientierten Wohnung im
dritten Stock eines kleinen, hastig hochgezogenen
Gebäuderiegels in einer Siedlung, die aus einem Dut-
zend identischer Bauten bestand, und wiegte einen
wenige Wochen alten Säugling.
Babys können ansteckend beruhigend wirken
ob die Sorgen, die sie in diesem Moment ihres Le-
bens gewiss und aus guten Gründen plagten, wohl
zeitweilig in Oxytocin ertranken, wenn sie mich
schlafendes, winziges Wesen auf der Brust spürte?
Mit der Fertigstellung von Kori lief ihr Vertrag aus.
Fürchtete sie um ihre wirtschaftliche Zukunft? Das
bestimmt nicht. Südkorea steckte mitten in sei-
ner durch den Kalten Krieg befeuerten Entwick-
lung und hing am Tropf der Amerikaner, das Land
brauchte Frauen wie sie, die perfekt Englisch spra-
chen und Ingenieurteams aus dem Westen begleiten
konnten.
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Ihr bereitete wohl etwas anderes Bauchschmer-
zen. Was würde nach der bereits geplanten Abreise
des Vaters aus ihrem Baby? Was würde aus ihr, der
alleinerziehenden Mutter eines von seinem Erzeu-
ger nie anerkannten rundäugigen kleinen Mädchens?
Nachdem Kori nun fertiggestellt war, würde der
Kindsvater, ein britischer Ingenieur, Südkorea in
Richtung eines anderen Kontinents verlassen und aus
ihrer beider Leben verschwinden.
Vielleicht gewann das Träumen die Oberhand, als
sie an diesem schwülen Tag kurz vor Sommeraus-
bruch im schwingenden Schaukelstuhl sass. Wozu
sich mit Traurigkeit belasten? Wenn die Zukunft
ohnehin in den Sternen steht, kann man sich ruhig
Illusionen hingeben, die das Herz leichter machen.
Ihre Sehnsüchte wurden hinter beschlagenes Glas
verbannt, sie wollte nicht die beschämte Mutter ei-
nes unehelichen Kindes sein, sondern die stolze Ver-
körperung einer an den Konventionen gescheiterten
Liebe.
Ich wuchs heran, ohne zu wissen, warum dieser
Mann der meine Mutter doch geliebt, der mich doch
im Arm gehalten hatte und genau wissen musste, wie
fragil wir waren –, warum dieser Mann nicht mehr
dafür getan hatte, uns zu behüten.
Zu dieser Zeit und in einem Land, in dem Situatio-
nen wie die unsere absolut nicht vorgesehen waren,
bedingte die Fortsetzung Mut und Beharrlichkeit.
Eine Rolle würden auch der Zufall einer Begegnung
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und das grosszügige Herz eines anderen Mannes spie-
len, grosszügig nicht nur dieser Frau, sondern auch
dem Kind aus fremdem Fleisch und Blut gegenüber.
Ich wurde vor vierzig Jahren als Tochter einer re-
silienten Mutter und eines Mannes, über den ich fast
nichts weiss, in einem Atomkraftwerk im Süden von
Südkorea geboren.
Ich wurde im Atomkraftwerk Kori geboren, als
Tochter einer willensstarken, stolzen Mutter und ei-
nes möglichen Schufts.
Hypothesen waren mir von klein auf vertraut,
Schatten verstoffwechselte ich. Jeder Strang meiner
DNA, die zur Hälfte aus Unbekanntem besteht, ist
mit Fragen gespickt, auf die ich nie eine Antwort
gesucht habe. Tief im Innern dessen, woraus ich ge-
macht bin, herrscht Stille.
Ein ab und zu erklingendes englisches Wort, gener-
ator, begleitete meine Kindheit, ein Wort, das mich
aus undurchschaubaren Gründen faszinierte und
sich nach Zeugung, Geburt und Zündfunke gleich-
zeitig anhörte. Generator, das war mein Vater.
Die ambivalente Energie, die dieser Abwesende
generierte, schien mich seit vierzig Jahren im gleichen
Mass anzutreiben wie zu hemmen. Stellte ein sol-
cher Seelenreaktor nicht ein zu grosses Risiko dar?
Drohte meinem Herzen nicht eine Kernschmelze,
falls das Kühlsystem versagen sollte? Und mein Um-
feld würden die Menschen, die ich liebe, die toxi-
sche Strahlung überstehen?
HOLYHEAD
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An der Strasse, in der du geboren wurdest, stehen an-
einandergebaute schmale Häuser mit vielen Kanten
und Ecken, die immer kleiner werden, je weiter man
sich vom Stadtzentrum entfernt. Zunächst gibt es je-
weils drei gediegene viktorianische Etagen, mit ecki-
gen Türmchen über den Fenstern, dreiteiligen Erker-
fenstern, die in Beete mit Begonien und Kletterrosen
ragen. Läuft man den sanft zum Meer abfallenden
Hügel hinunter, verlieren die Häuser allmählich das
Kokette, ihre Linien werden schlichter, die Bauten
zum Ende hin ärmlich. Am Rand des Ortskerns prä-
sentieren auf der linken Seite ein letztes Dutzend
Häuser eine langgezogene, triste Fassade aus grauem
Verputz, in kurzen Abständen durchbrochen von
einem einzelnen Schiebefenster und einer hölzernen
Tür, die auf ein beengtes Erdgeschoss mit winzigen
Innenräumen geht. Vermutlich waren die Fassaden
noch im späten vergangenen Jahrhundert aus rotem
Backstein.
Ich sehe vor mir, wie du in deiner Kindheit bei
schönem Wetter eine dieser Türen zuschlägst, den
grünen Hang zum Strand hinuntertrabst, einer
Katze gleich über die schwarz-gelb gefleckten Steine
springst, unter denen sich ein schmaler Sandstreifen
verbirgt, und dort dein ausgebessertes Hemd und
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deine immer zu kurze Hose an einer vor der Flut si-
cheren Stelle hinlegst, wie du deinen heranwachsen-
den Körper schüttelst und dich dann im Kraul in das
klare grüne Wasser der Irischen See stürzt.
Vielleicht holst du manchmal ich fabuliere das
bescheidene Angelzeug hervor, das ihr, John, Ken
und du, zusammen gebastelt habt und zwischen
zwei Felsen versteckt aufbewahrt, eine improvisierte
Ausrüstung aus Überresten von Netzen und Granat-
splittern, geflochtenen Binsen und mit dem Taschen-
messer bearbeitetem Holz, first come, first served.
Mit dieser Ausrüstung auf dem Rücken läufst du ins
Wasser, schwimmst in langen, geschmeidigen Zügen
zur Mole aus Quadersteinen, der längsten Mole des
Empire, von viktorianischen Ingenieuren erbaut, um
den irischen Frachtschiffen einen Hafen bereitzustel-
len. Du kennst die Stelle auf halbem Weg zum qua-
dratischen Leuchtturm, mit dem die Mole endet, wo
auf der Landseite Unebenheiten im Stein den Hän-
den Griff und den Füssen Halt geben. Du kletterst
hoch, platzierst deine Angelleinen und wartest auf
deine Gefährten, während du dir vorstellst, Kapitän
zu sein, und nach einfahrenden Dampfern Ausschau
hältst.
Was bleibt in dir, verbitterter, alter Mann, von der
Bitternis des Meeres, des Heidelands und der Steine,
die deine Kindheit prägten? Erinnert sich dein Kör-
per noch an die Wellen, die Schwerelosigkeit, das
Tauchen, eure Spiele und Wettstreite im Wasser? An
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den Geruch des Feuers, in dem eure Kartoffeln in der
Glut lagen, wenn eine Schar Kinder auf Expedition
ging. Erinnerst du dich an die geschwollenen Früh-
lingsbäche, die den Boden wiedererweckten und die
Brombeeren schaukeln liessen, an das Blöken der
Schafe und die bellenden Hunde, an die Basstölpel
der Kolonien auf den Felsen rund um den Leucht-
turm von South Stack, an dessen beruhigendes Blin-
ken, an die tobenden Stürme, den Wind, der Bäume
zu Fall bringt und Körper niederdrückt, an das Spek-
takel, wenn Wolken über den unruhigen Himmel ja-
gen? Erinnerst du dich, alter Mann, an all das, was
ich sehe, während ich nach dir suche?

Prix Bibliomedia 2024

Rinny Gremaud
Generator

Roman

Aus dem Französischen von Barbara Sauser


Hardcover
ISBN 978-3-03925-044-8
Seiten 222
Erschienen 25. März 2025
€ 26.00 / Fr. 28.00

Sensibel, brillant und poetisch. Ein Juwel!
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2017 wird der Reaktorblock Kori 1, der älteste Südkoreas, nach vierzigjähriger Laufzeit abgeschaltet. Auch die Autorin hat zu diesem Zeitpunkt ihr vierzigstes Altersjahr erreicht. Ihre Mutter arbeitete einst dort, ihr Vater gehörte als britischer Ingenieur zum Expertenteam der Kraftwerkserbauer. Eine Ära der lange bewunderten und mit vielen Hoffnungen verbundenen Atomtechnologie geht zu Ende: Anlass für die Autorin, über ihre Identität nachzuforschen. Eine abenteuerliche und ungewisse Suche nach ihrer familiären Herkunft beginnt. Sie spürt Konturen des ungewöhnlichen Lebens des unbekannten Vaters auf.

Aus den Bruchstücken der väterlichen Biographie, auf ihrer eindrücklichen Reise zu den Orten in Grossbritannien, Asien und den USA, an denen er gelebt hat, entwickelt sich ein faszinierendes emotionales Spiel der Erinnerung zwischen Phantasie und Realität.


Pressestimmen

Ein Abenteuer quer über den Planeten, ein halb journalistisches, halb träumerisches Unterfangen, witzig, subtil und bewegend.
— Libération
Die Autorin und Journalistin berichtet mit ironischer Distanz von ihrer Reise auf den Spuren eines Vaters, den sie nie kennengelernt hat.
— 24 heures