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Lenos Verlag
Gabrielle Alioth
Gallus, der Fremde
Roman
Erste Auflage 2018
Copyright © 2018 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich, Dominic Wilhelm
Umschlagillustration: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 602,
p. 33 – Deutsche Heiligenleben
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 489 5
Die Autorin dankt dem Katholischen Konfessionsteil des Kantons
St. Gallen für die Unterstützung bei der Erarbeitung dieser Publi-
kation.
Der Verlag dankt der Kulturförderung Kanton St. Gallen für die Un-
terstützung.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Struk-
turbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Gallus, der Fremde
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1 Bangor
2 Chalon-sur-Saône/Cabillonum
3 Luxeuil-les-Bains/Luxovium
4 Besançon/Vesontio
5 Tours/Civitas Turonum
6 Nantes/Portus Namnetum
7 Metz/Divodurum
8 Zürich/Turicum
9 Tuggen/das heillose Dorf
10 Arbon/Arbona
11 Bregenz/Brigantium
12 St. Gallen/Einsiedelei
13 Bobbio/Bobium
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Seit langer Zeit beschäftigt mich das Schicksal des
heiligen Gallus, und als ich Irland vor ein paar Jah
-
ren verlassen musste, begann ich seine Geschichte zu
erforschen. Ich wollte herausfinden, wie es ihm in der
Fremde ergangen war, warum er sich von seinen Ge
-
fährten getrennt hat und warum er nie auf die Insel
zurückgekehrt ist. Doch je mehr ich über ihn erfuhr,
umso rätselhafter erschien mir sein Leben, und am
Ende stieg ich die Schlucht zu seiner Einsiedelei hin
-
auf.
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Er träumt von dem Hund. Die Sonne scheint auf die
Bucht, und der Hund jagt mit freudigen Sprüngen
den weissen Schaumrändern nach, die von den Wel
-
len über den Sand gespült werden.
»Vater?«, flüstert es vor der Hütte.
Er versucht, den Traum festzuhalten, das Licht
Vater, so nennen sie ihn jetzt; oder den Alten, wenn
sie meinen, er höre sie nicht. Seine Glieder sind starr
vor Kälte. Ist es glich, dass es immer kälter wird
in diesem Wald?
»Seid Ihr wach, Vater?«
Er dreht sich auf den Rücken.
»Wir haben ohne Euch gebetet.« Magnoald klingt
schuldbewusst.
Er hat die Glocke nicht gert, und sie haben ihn
schlafen lassen. Aus Vorsicht, cksicht, Angst, ihn
tot auf seinem Lager zu finden. Ein Unbehagen gärt
in ihm, die ganze Nacht schon, und plötzlich weiss er
wieder, warum: die Frau. Sie behauptet, sie komme
von der Insel und sei in Luxovium gewesen, in Bri
-
gantium, Arbona, auch dem heillosen Dorf am See
womöglich. Nun will sie mit ihm reden. Magnoald
wird ihr in der Scheune ein Lager bereitet, ihr Brot,
Mus und vielleicht auch von dem Honig, den sie r
ste aufbewahren, gegeben haben. Es gehört zu ih
-
ren Pflichten, Pilger aufzunehmen, ihr Essen und ihre
Gebete mit ihnen zu teilen. Er öffnet die Augen und
blickt in das feuchte Hüttendach. Es gehört nicht zu
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seinen Pflichten, seine Erinnerungen mit jemandem
zu teilen.
Eine Krähenschar fliegt aus den Baumwipfeln,
als Gallus aus der Hütte kommt. Der Himmel über
dem Wald ist grau wie seit Wochen. Auf den Pfa
-
den, die von den Behausungen der Männer zum Bet-
haus hren, stehen Pfützen, der Boden dazwischen
ist sumpg. Als habe der Frühling sie vergessen. Die
Männer unter dem Vordach des Esshauses beobachten
ihn, während er das Knie vor dem Kreuz in der Mitte
der Lichtung beugt; sie wissen, dass er das Gebet ver
-
schlafen hat. Siebenmal am Tag singe ich Dein Lob,
und nachts stehe ich auf, um Dich zu preisen, heisst es
im Psalm. Columba hatte unwillig den Kopf gereckt:
Betet ohne Unterlass!, schrieb Paulus an die Thessa
-
lonicher. Siebenmal am Tag war Columba nicht ge-
nug, nichts war ihm genug. Der vertraute Schmerz
zuckt Gallus von der Hüfte in den Oberschenkel und
bringt ihn ins Schwanken. Die Männer vor dem Ess
-
haus hren sich nicht; die Frau steht neben ihnen.
Manchmal nscht er sich, es wäre glich, allein in
diesem Wald zu leben.
Ich fürchte, er stürzt, aber die Männer neben mir rüh
-
ren sich nicht. Während ich am Tag zuvor die Schlucht
hinaufgestiegen bin, habe ich mich gefragt, ob mich
hier der Tod erwarten wird. Wie ein Pilz scheint die
Einsiedelei aus der Feuchtigkeit des Waldes im Stein
-
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achtal gewachsen und kann im nächsten Moment zu
ulnis zerfallen. Gallus schwankt, dann fängt er sich
und geht mit gesenktem Kopf ins Bethaus.
Öffne meine Lippen, damit mein Mund Dein Lob
verkünde. Gallus steht im leeren Bethaus und wie
-
derholt die Worte in seinem Kopf. Er hat schon lange
nicht mehr von dem Hund geträumt. Öffne mein
Herz Die Sonne glitzerte auf den Wellen, die an
den Strand spülten, Grasnelken blühten vor seinen
Füssen, ein rosarotes Polster. Es war Sommer. Im
Wind, der über das Dünengras strich, hing der süsse
Duft der Wiesen und verwischte das Läuten der Glo
-
cke sie läutet tatsächlich. Die Tür des Bethauses
öffnet sich, und Gallus rt, wie sich die Männer in
seinem Rücken zur Terz versammeln.
An dem Morgen am Strand sprang er auf, als er
die Glocke rte, und lief die Düne hinauf, so schnell
er konnte mit seinen siebzehn Jahren. Oben auf der
Kuppe hielt er inne und schaute zurück. Auch der
Hund war stehen geblieben. Für einen Moment sahen
sie sich an, dann wandte der Hund sich ab und jagt
weiter den Wellen nach. Als Gallus die Kirche der
Abtei betrat, hatten die Gebete längst begonnen. Er
versuchte, sein lautes Schnaufen zu unterdrücken. Die
Mönche beachteten ihn nicht, und er überlegte, wel
-
che Busse sie ihm auferlegen würden: Fasten, Schwei-
gen, Schläge?
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Dass wir preisen Deine te und Deine Gerech-
tigkeit, singen die Männer im Bethaus hinter ihm.
Er hatte Glück gehabt damals. Als die nche die
Kirche verliessen, dachte keiner mehr an eine Busse
für ihn. Sie dachten alle nur daran, dass der Abt in
den Fürbitten um ttlichen Schutz für die dreizehn
Gefährten auf ihrer bevorstehenden Reise gebetet
hatte. Also hatte Columba seinen Willen durchge
-
setzt: Er würde Bangor verlassen.
Gallus ist älter, als ich mir vorgestellt habe, seine
Schultern sind gebeugt, als drücke sein halbgescho
-
rener Schädel ihn nieder, und seine Glieder hängen
lose unter seiner Kutte wie die einer Puppe. Aber sein
Geist scheint klar. Ich werde mit ihm sprechen kön
-
nen und aus seinem Mund erfahren, was ich wissen
möchte. Ich habe eine Liste meiner Fragen gemacht,
chronologisch geordnet, als seien alle von gleicher Be
-
deutung, und ich werde mit Columbanus beginnen,
der sein Lehrer war, sein Wesen und seine Haltung
geformt haben muss. Gallus wird ins Erzählen gera
-
ten, alte Männer erzählen gern, und ich kann zuhö-
ren. Einsam steht er nun vor dem Altar im schnarren-
den Gesang der Männer, die sich lieber an die Wände
des Bethauses drängen, als ihm zu nahe zu kommen.
Würde er den Kopf heben, würde er sie alle überra
-
gen.
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»Ihr wart ein Schüler von Columbanus.«
Die Frau wartet vor dem Bethaus. Die Männer ha
-
ben sich bereits zerstreut. Die Tage sind immer noch
kurz, und zwischen Morgen- und Abenddämmerung
bleibt kaum Zeit für die Arbeit. Auch Magnoald ist
nicht zu sehen. Gallus zögert, aber er findet keinen
Vorwand, die Frau zu vertrösten, und sie folgt ihm
zum Esshaus.
»Ein Schüler von Columba«, wiederholt Gallus.
»Ihr habt ihn gekannt.«
Die Frau setzt sich am Tisch ihm gegenüber. Sie
hat ein Heft in der Hand und einen Stift. Sie will
aufzeichnen, was er sagt, so wie der Gelehrte vor ein
paar Jahren, der die Lebensgeschichte von Columba
niederschrieb – Columbanus, wie sie ihn nun nennen,
als sei er in dem Land, in dem er begraben liegt, auch
geboren worden. Die Frau hat kurzes Haar, und ihre
Nase ist von der Kälte gerötet. Sie muss in warmen
Räumen aufgewachsen sein, aus vollen Tellern geges
-
sen haben, und sie hat gelernt, geduldig zu sein.
»Niemand hat Columba gekannt.«
»Aber Ihr habt mit ihm die Insel verlassen. Ihr
wart von Anfang an zusammen.«
Wartet! Gallus lief hinter Columba her. Der Wind,
der vom Strand heraufwehte, schmiegte die Kutte an
seinen cken, Gallus sah die knochigen Schulterblät
-
ter unter dem Stoff. Was willst du? Columba wandte
sich um und musterte ihn. Mitkommen. Wohin?

Gabrielle Alioth
Gallus, der Fremde

Roman

E-Book
ISBN 978-3-85787-969-2
Seiten ca. 246
Erschienen 15. Oktober 2018
€ 15.99

Das faszinierende Leben des heiligen Gallus, eines Migranten und sozialen Aussteigers des siebten Jahrhunderts

Seit über zwanzig Jahren haust Gallus in der Wildnis des Steinachtals, als eines Tages eine Fremde erscheint. Mit ihren Fragen zwingt sie den widerspenstigen Einsiedler, sich an seine Vergangenheit zu erinnern: an den gefahrvollen Weg, der ihn um 590 n. Chr. mit einer Gruppe von Wandermönchen aus Irland in die Vogesen und dann an den Bodensee geführt hat, an ihre gewaltsamen Bekehrungsversuche und vor allem an die Trennung von seinem strengen Lehrer und Gefährten Columbanus.
Die Geschichte des freiwilligen Exilanten und sozialen Aussteigers aus dem frühen siebten Jahrhundert, der zum Namensstifter St. Gallens wurde, findet ihren Widerhall im Leben der Fremden am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, die in Irland eine Heimat fand und wieder verlor. Ihre Schicksale verbinden sich über die Zeit hinweg zu einer Geschichte von Emigration, Liebe und Verlust.

Pressestimmen

Gabrielle Alioths Kunst besteht auch in diesem neuen Roman darin, das Netz aus Themen und Motiven, Taten und Träumen, Schuld und Rachewünschen, in dem ihre Figuren festhängen, fein, geduldig und behutsam zu knüpfen.
— Verena Stössinger, ProgrammZeitung
Ein einfühlsames Lebensbild des Wandermönchs.
— Felix Münger, Schweizer Radio
»Gallus, der Fremde« nimmt einen mit auf eine Reise ins Unbekannte, im Wissen darum, dass man nie ankommt.
— Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch