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Lenos Verlag
Jeannette Hunziker
Für immer alles
Roman
Die Autorin dankt Kultur Stadt Bern sowie SWISSLOS / Kultur
Kanton Bern für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.
Der Verlag dankt Kultur Stadt Bern sowie
SWISSLOS / Kultur
Kanton Bern für die Unterstützung.
Erste Auflage 2024
Copyright © 2024 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Liliane Studer
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Leo Matkovic
Foto: Julien Balmer
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 038 7
Für denjenigen, der seinen eigenen Stosszahn brach
und damit die ersten Verse schrieb.
Für Ruth.
A perfect falcon, for no reason, has landed on your shoulder,
and become yours.
Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī
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Ich glasiere die Kastanien, als es klingelt. Gleich würde
ich die kleinen grünen Rosetten des Feldsalates aus dem
Garten holen und den Teig für die Pizzoccheri von der
Fensterbank nehmen.
Ich habe mir eine Flasche Wein geönet.
Ich stelle mich ans Küchenfenster, um zu schauen, wer
geklingelt hat.
Vor dem Haus stehen zwei Beamte in Uniform. Ich
kann mir nicht vorstellen, was sie von mir wollen.
Ich lebe in einem alten Haus, wir haben keinen automa-
tischen Türöner. Ich muss die drei Treppenabsätze bis
hinunter zur Haustür gegangen sein. Es ist der 2. No-
vember 2021.
Heute, mehr als ein Jahr später, denke ich an eine Land-
schaft bei Ebbe.
Ich wate durch dieses Land, als ich auf die Tür zugehe.
Das Wasser hat sich weit an den Horizont zurückgezo-
gen.
Ich laufe auf dem blossgelegten Grund, als liefe ich auf
der Zeit selbst.
Ich erinnere mich, wie ich denke: So ist es im Film.
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Und wie ich denke, weil ich diesen Filmgedanken
habe, dass die Situation nicht echt sein kann. Mir nicht
wirklich passiert, was gerade passiert. Das Klischee als
Schutz, als Puer.
Ich weiss, dass ich dabei bin, eine fatale Nachricht zu er-
halten.
In meinem Kopf gehe ich sie alle durch. Angefangen
mit dem Schlimmsten.
Ich öne den Beamten die Tür. Ich möchte Halt sagen.
Ich möchte sagen: Stopp, lassen Sie mich erst überlegen.
Wer wird sich um die rasende Wildheit der Ohnmächti-
gen in mir kümmern, wenn die Worte erst einmal draus-
sen sind, sie sich nicht mehr zurück in den Mund schie-
ben, der Mund sich nicht wieder um sie schliessen lassen
würde.
Die Frage ist müssig, ich kenne die Antwort. Es ist im-
mer dieselbe.
Ich denke kurz an Han.
Ich denke an seine Alleingänge in die Berge, in die
Weiten des Nordens mit der Kamera.
Nie kann ich gewiss sein, wo er sich gerade bendet.
Mobile Nachrichten bleiben manchmal wochenlang un-
beantwortet.
Die Angst kümmert sich nicht um Unwahrscheinlich-
keiten. Die Unwahrscheinlichkeit, dass zwei Polizisten
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mir den Tod meines Geliebten überbringen, ist der Angst
schnurz. So wichtig nimmt sie sich.
Wir gehen nach oben. Einer der Beamten setzt sich mir
gegenüber an den Küchentisch, der andere bleibt in der
Tür zum Flur stehen. Ob er einen Fluchtversuch fürch-
tet.
Ich blicke auf seine polierten Stiefel auf dem petrol-
farbenen Linoleumboden. Es riecht nach Karamell, es
riecht nach verbranntem Fell. Ich stehe auf und mache
die Herdplatte aus.
Ich erinnere mich, wie ich denke, wie aufwendig ihr
Aufzug ist.
Ich bestätige die erste Frage des Beamten und bin so-
fort erleichtert.
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Ja, ich bin die Tochter.
Vater ist tot.
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Vater ist an ebendiesem Tag, diesem 2. November, ge-
gen neun Uhr morgens von einem seiner Kumpel tot
in seiner Wohnung gefunden worden. Er habe im Bett
gelegen und die Atemmaske aufgehabt, die er wegen sei-
ner Schlafapnoe tragen musste. Das Gerät lief noch. Ein
Suizid oder Fremdeinwirkung konnten ausgeschlossen
werden, versicherte mir der Beamte.
Dieser Freund, dessen Name mir nichts sagt, von dem
ich noch nie gehört habe, hätte ihn zu einem Arzttermin
fahren sollen. Stattdessen rief er erst den Notarzt und
daraufhin die Polizei.
Ich versuche, vor dem Beamten zu verbergen, dass ich
keine Ahnung habe, wer dieser Mann ist, der Vater ge-
funden hat. Dann kommt mir der Gedanke, dass die bei-
den vermutlich in Vaters Wohnung waren, bevor sie zu
mir gefahren sind.
Dass es nicht viel Sinn macht, etwas verbergen zu wol-
len.
Mit Sicherheit waren die beiden vertraut mit dem Zu-
stand solcher Wohnungen. Solcher Wohnungen wie Va-
ters Wohnung. Vertrauter als ich.
Vater und seine zweite Frau befanden sich zum Zeitpunkt
seines Todes in einem schwierigen Scheidungsverfahren.
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Mit seinem noch lebenden Bruder hatte er sich zerstrit-
ten. Ich bin sein einziges ozielles Kind.
War.
Ich war sein einziges ozielles Kind.
Der Beamte notiert auf dem angefangenen Einkaufszettel
mit den Dingen, von denen ich an ebendem Tag geglaubt
habe, dass ich sie brauchen würde, unter Honig Datteln
Kaee Kalkreiniger eine Nummer. Falls ich Fragen hätte.
Der zuständige Bestatter werde mich am nächsten Tag
kontaktieren. Dann gehen sie.
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Die Flut kommt angerollt in Zeitlupe, eine blauschwarze
Wand. Die Welle von Hokusai.
Ich bin wieder allein mit mir.
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Ich müsste Mutter und Vaters zweite Frau anrufen.
Ich nehme alle Önungen des Mantels auf einmal und
verheddere mich, mache ein paar Schritte vor der Garde-
robe. Tanze wie ein Boxer.
Ich könnte über die Strasse gehen. In Murals Werkstatt
brennt noch Licht. Ich könnte hinübergehen und ihn
um einen Spaziergang bitten. Es würde ihm nicht unge-
wöhnlich vorkommen.
Ich könnte den ersten wirklich wichtigen Satz meines
Lebens ausprobieren. Ein Satz wie ein Paar neue Schuhe,
die nun für den Rest des Lebens passen müssen.
Vater ist tot.
Doch so nahe sind wir uns nicht, Mural und ich. Denke
ich. Nicht nah genug für diesen Satz.
Wie nah sind wir dann.
Daraufhin im Kopf unzählige angefangene Sätze, die wie
die Schlange Ouroboros im eigenen Schwanz verschwin-
den.
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Ich hole den Salat aus dem Garten, lasse die blassen Teig-
stücke für die Pizzoccheri ins sprudelnde Wasser fallen.
Rotkraut, Karamellkastanien.
Dazwischen trinke ich kleine versichernde Schlucke
vom Wein.
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Vater war ein guter Koch. Er war auch Überlebenskünst-
ler, was ihn nicht vor dem lebenslangen Trinken bewahrt
hat.
Wenn ich ihn als Kind in seiner Wohnung besuchte,
die ganz in der Nähe unserer alten Wohnung lag, machte
er eine Dose süsser Prsichhälften auf.
Er verteilte den Inhalt in zwei Schüsselchen. Aus dem
oenen Gefrierfach entwich die Kälte in die Wohnung
wie Rauch. Er nahm den in Silberfolie gewickelten Klum-
pen Vanilleeis und stach zwei exakt gleich grosse Schei-
ben ab. Er legte das Eis sorgfältig auf die Prsichhälften.
Dann setzten wir uns nebeneinander aufs Sofa, löf-
felten die klebrigen Prsiche und das Eis und schauten
dabei den beiden Katzen zu, die sich gegen das Netz auf
dem Balkon warfen, sich darin verkrallten, fauchten, ab-
sprangen, davonstoben.
Der Haustür direkt gegenüber stand an die Wand gescho-
ben ein rundes Bistrotischchen mit einem gegossenen
Fuss. An der Wand über dem Tischchen hing ein Bild,
das den Eingang einer Metrostation zeigte. Das Bild war
lila, türkis und von einem unheimlichen sandigen Blau.
Kein Mensch war auf dem Bild zu sehen. Ein altmo-
disches Damenrad lehnte am Treppenabgang. Das Schild
mit dem Namen der Station war blank. Blank wie ein
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Traumgesicht. Ganz ohne bestimmte Merkmale. Und
doch bestand kein Zweifel daran, wo es zu verorten war.
Auf dem Tischchen stand eine schlanke Keramikvase,
darin steckte eine schwarze Rose.
Die Rose war ganz und gar schwarz. In der Vase war
kein Wasser. Ich habe das einmal geprüft. Die Rose mit
vorsichtigen Fingern aus dem langen dünnen Hals der
Vase gezogen und die Vase umgedreht. Ich besah die
Rose genau. Sie war mit nachtschwarzem Lack besprüht.
Ich kannte den Lack von der Aussenkiste auf dem Dach
unseres
VW-Busses.
Neben der Rose lag ein dickes schwarzes Buch, das
Vater mit Packschnur umwickelt hatte. Um die Schnur
ein Schloss. Selbst als Kind wusste ich, dass das Buch die
Hochzeitsbibel meiner Eltern und diese Geste von Vater
pathetisch war.
Einmal, als Kind, habe ich in dieser Kiste auf dem Dach
des
VW-Busses geschlafen, freiwillig und mit aufgeklapp-
tem Deckel.
Ich kletterte über die Leiter an der Rückseite des Wa-
gens aufs Dach und önete die Kiste. Sie war mit einem
Zahlenschloss gesichert. Unsere drei Jahrgänge ohne die
Neunzehn hintereinander.
Ich nahm die Spaghetti, die Dosen mit der Tomaten-
sauce, die Kekse und Geschirrspülmittelaschen und sta-
pelte alles auf dem Autodach. Die Packungen mit dem
Instantkaee verteilte ich auf dem Boden der Kiste. Dann
holte ich meinen Schlafsack und putzte mir die Zähne.
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Die luftgetrockneten Brösel des Instantkaees mach-
ten knackende Geräusche, als ich mich in die Kiste legte.
Von weitem hörte ich die Stimmen meiner Eltern, ihrer
Freunde, die in der Strandbar bei einem Schlummer-
trunk sassen, wo sie Kaeelikör mit eiskalten glattkanti-
gen Würfeln tranken, der einem an den Zähnen zog, so
süss war er.
Die Sterne standen überaus klar in ihren hell gerissenen
Löchern. Schnell schlief ich unter einer schwer nachvoll-
ziehbaren Dunkelheit weg.
So frei wie eines dieser Löcher, versprach ich einem
gleichgültigen Himmel, würde ich werden, wenn ich
gross bin.
Neben dem Bistrotischchen mit dem gegossenen Fuss
in Vaters Wohnung lag die Tür zum Badezimmer. Meine
erste Periode habe ich während eines Vaterbesuches be-
kommen. Das kaum zu erwähnende Blut war bereits als
eine rostige Spur in meiner Unterhose getrocknet.
Ich ging zu Mutters Wohnung, unserer Wohnung,
ohne ihr etwas davon zu sagen. Schloss mit meinem ei-
genen Schlüssel die Tür auf, was mir in diesem Moment
verkehrt vorkam.
Nicht wegen des Blutes, nicht wegen irgendeines dif-
fusen Überganges, der innerhalb der Grenzen meines
haltlosen Körpers stattfand.
Das Tageslicht, das durch die Fenster in die Wohnung
einel, und die Staubpartikel, die in den hellen Kelchen
tanzten, waren in Wahrheit dunkel. Zu dunkel, als dass
es geholfen hätte, die Augen zu schliessen. Ich schloss sie
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trotzdem. Die Wohnung roch fremd. Meine Haut pol-
terte gegen ihr Versteck.
Ich ging am Schlafzimmer von Mutter vorbei, er-
haschte einen Blick auf ihr ungemachtes Bett, sie war
nicht da, ging in ihr Badezimmer und klaubte drei Bin-
den aus der Schachtel.
Ich ging in meinen eigenen Fusstritten zurück, so als
ginge ich durch hohen Schnee. Ich verliess die Wohnung
wie ein Dieb.

Jeannette Hunziker
Für immer alles

Roman

E-Book
ISBN 978-3-03925-716-4
Seiten ca. 213
Erschienen 30. August 2024
€ 20.99

Sätze von atemberaubender Schönheit.
— Laudatio Auszeichnung Weiterschreiben der Stadt Bern

»Ja, ich bin die Tochter. Vater ist tot.« Die Erzählerin, die jahrelang keinen Kontakt zu ihm hatte, muss sich nun um die damit verbundenen Angelegenheiten kümmern, seine Wohnung räumen, die Beerdigung organisieren. Das Ordnen der Hinterlassenschaft wird zu einer Inventur ihres eigenen Lebens.
Als sie zwölf Jahre alt war, wurde ihr eröffnet, dass sie das Kind einer anonymen Samenspende ist. Vater und Mutter hatten sich damals auf diesem Weg ihren Kinderwunsch erfüllt und das Geheimnis anderen Familienmitgliedern nie verraten.
Wie der Vater ist auch die Erzählerin süchtig, sie hungert sich beinahe zu Tode und wird für eine gewisse Zeit in einer psychiatrischen Klinik betreut. Während sie versucht, wieder Halt zu finden, gelingt ihr endlich eine klare Einordnung ihrer familiären Verhältnisse. Sie entdeckt, wer sie wirklich ist und wer sie sein möchte.

Eine Geschichte von Aufbruch und Aufbegehren. Von Abhängigkeit, Suchterkrankung und der Suche nach dem eigenen Leben. Hellwach erzählt Für immer alles vom Verlieren und Finden, wenn wir lieben.

»Tote erzählen eine Menge Geschichten, nicht immer die Wahrheit. Die Wahrheit scheint dort, wo sie sind, eine andere Rolle zu haben. Als ob die Wahrheit für die Lebenden sei, während die Toten sie nicht brauchen.«

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