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Lenos Verlag
Iman Humaidan
Fünfzig Gramm Paradies
Roman aus dem Libanon
Aus dem Arabischen übersetzt
und mit einem Nachwort versehen
von Regina Karachouli
Die Übersetzerin
Regina Karachouli, geboren 1941 in Zwickau. Studium der Arabistik
und der Kulturwissenschaften in Leipzig. Promotion über Dramatik
und Theater in Syrien. Von 1975 bis 2002 Lehr- und Forschungs tätigkeit
am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Übersetzerin zahl-
reicher literarischer Werke aus dem Arabischen, u.a. von Sahar Khalifa,
Alia Mamduch, Hanna Mina, Sabri Mussa, Tajjib Salich, Habib Selmi,
Nihad Siris und Baha Taher.
Titel der arabischen Originalausgabe:
H
˘
amsûna g˙arâman min al-gˇanna
Copyright © 2016 by Iman Humaidan
Erste Auflage 2017
Copyright © der deutschen Übersetzung
2017 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlaggestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie, Zürich
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 478 9
Zeit ist fliessender Ort,
und Ort ist erstarrte Zeit …
Ibn Arabi (1164–1240)
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Beirut, August 1978
Die Knie wurden ihr weich, beinahe wäre sie auf den
Gehsteig gesrzt. Doch Nûra lief hastig weiter. Ihr Herz
schlug laut wie eine Trommel, pochte in ihren Ohren. Nur
noch diesen angstvollen Herzschlag vernahm sie, skan-
diert von ihrem immer heftigeren Keuchen. Sonst hörte sie
nichts und niemanden mehr, nicht einmal die Stimme des
Mannes, der sie verfolgte, seit sie die Botschaft nach dem
Bescheid des Angestellten, sie möge anderntags wiederkom-
men, verlassen hatte.
Autos rasten mit irrer Geschwindigkeit an ihr vorbei. Die
glühende Sonne spiegelte sich in ihren heissen Karosserien
und heizte die Luft weiter auf, als wollte die Hölle den lich-
ten Tag mit allem, was darin war, verschlingen. Irgendwo
knallten Schüsse, bald näher, bald ferner, wie eine Schaukel
aus Geräuschen, die in stetem Rhythmus Furchen über den
Himmel zog. Feuerstösse, Militärjeeps, Alarmsirenen. Nûra
schwankte, ob sie hier in der Nähe warten oder rasch nach
Hause zurückkehren sollte. Aber schliesslich fand sie, dass
Warten keinen Zweck hätte, es gab keinen festen Termin
r Anfang oder Ende der Gewaltausbrüche. Irgendwann
begannen sie, dehnten ihre Kreise aus, dann hörten sie wie-
der auf. Die Menschen hatten sich, so gut es ging, in ihrem
Schatten eingerichtet.
Sie musste ein Taxi finden, das sie zu Sabahs Wohnung
brachte, dort war ihr Baby. Unweit der Botschaft hatte sie
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plötzlich bemerkt, dass dieser Mann im Auto neben ihr
herfuhr. Vielleicht rde er sogar anhalten, dachte sie, er
nnte aussteigen und auf sie zukommen, doch es schien
ihm Spass zu machen, ihr Angst einzujagen. Nûra ging ein
wenig langsamer. »Du denkst wohl, du kannst abhauen?«,
zischte er und streckte den Kopf aus dem Autofenster.
»Ich kriege dich, auch wenn du zu den Sternen auffliegst,
du elende Spionin! Den Hunden werfe ich dich vor, du
Hure « Bei all ihrer Angst musste sie fast lächeln. Am
liebsten hätte sie ihm gesagt, dass sie dennoch weiterschrei-
ben und nie damit aufhören würde. Dass sie geheiratet und
ein Kind geboren habe, was er trotz seiner Schnüffeldienste
nicht wissen konnte. Dass sie seinesgleichen schon einmal
entkommen sei und auch diesmal wieder entwischen würde.
Dass er sie nie kriegen würde! Sie ging weiter zur Haupt-
strasse, um ein Taxi anzuhalten. Sie dachte an all die Orte,
die sie verlassen hatte, seit sie aus Syrien emigriert war, an
ihre langen Spaziergänge um das Dorf Rummâna auf dem
Dschebel al-Arab, durch seine Weinberge, seine saftigen
Frühlingswiesen. Dachte an die Zusammenkünfte mit ih-
ren Kommilitonen an der Universität Damaskus, von deren
Verhaftung sie zwei Jahre zuvor erfahren hatte. An Suhail
dachte sie, ihren einstigen Liebsten, der sie in Beirut besucht
hatte, dem sie half, sich zu retten und als politischer Flücht-
ling nach Schweden auszuwandern. An all die Freunde, die
auf der Flucht vor dem Tod zur Emigration gezwungen wor-
den waren. Dachte an ihren Vater, der als gebrochener Mann
aus dem Gefängnis heimgekommen war, und an ihre Gross-
mutter, deren Stimme sie auch nach ihrem Hinscheiden vor
zwei Jahren noch immer begleitete. Sie erinnerte sich an das
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Jahr ihrer Ankunft in Beirut und die darauffolgenden Jahre,
und sie rief sich die Ferientage zurück, die sie früher bei der
Grossmutter in dem kleinen Dorf verlebt hatte. Sie gedachte
ihrer Schwester Hanâ, die in jenem Sommer dort Selbstmord
beging. Die Familie hatte damals den Suizid zu vertuschen
gesucht und das Gerücht gestreut, sie sei am Biss einer Gift-
schlange gestorben. In der »Bâke«, dem Schuppen, wo die
landwirtschaftlichen Geräte und Schädlingsbekämpfungs-
mittel aufbewahrt und die Tiere während der Winterszeit
untergebracht wurden, habe man ihren Leichnam gefunden.
Aber Nûra kannte die Wahrheit, sie wusste, wie ihre Schwes-
ter gestorben war. Sie hatte ihren langen Abschiedsbrief im
Bett gefunden, wo sie immer gemeinsam geschlafen hatten,
im Hause von Grossmutter Schahla oder Teta Schahani, wie
Nûra sie am liebsten nannte. Den Brief hatte sie gelesen
und ganz unten zwischen ihrer Wäsche in der Schublade
versteckt. Als sie nach der Beerdigung vom Friedhof zu-
rückkehrte, glaubte sie zu ersticken. Sie wollte die Wahrheit
laut herausschreien, doch sie musste schweigen, als wäre der
Grund für den Selbstmord ihrer Schwester etwas Schändli-
ches, das niemals offenbar werden durfte. Eine Affäre mit
einem Offizier! Eine Schwangerschaft! »Mach es weg, das ist
deine Schande, treib es ab!«, hatte er zu ihr gesagt, dann war
er untergetaucht und reagierte nicht mehr auf ihre Anrufe.
Was sie am Ende abgetrieben hatte, war ihr eigenes Leben
gewesen. In der Nacht vor Hanâs Suizid war Nûra von ih-
rem unterdrückten Schluchzen wach geworden. Sie lagen zu-
sammen im Bett. Hanâ erklärte, sie habe Bauchschmerzen
von ihrer Regel, und sie glaubte ihr. Sie umarmten sich, und
Nûra schlief wieder ein. Ihre Hand liess sie auf dem Bauch
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der Schwester liegen, an der Stelle, wo sie meinte, dass der
Schmerz sass. Dieselbe Stelle, deretwegen ihre Schwester am
folgenden Tag in den Tod gegangen war.
All das schwirrte Nûra durch den Kopf, während sie ins
Taxi schlüpfte. Durch das Fenster sah sie den Mann in sei-
nem Auto sitzen, er parkte am Strassenrand. Als sie sich
nach ihm umdrehte, bemerkte sie, dass er losfuhr und ihr
folgte.
»Du verdienst nicht zu leben!« Sie dachte an seine Worte,
die er mehrmals wiederholt hatte. Zorn erwachte in ihr, so
rasend, dass er, wenn sie ihn zur Faust hätte ballen können,
glatt ihren Autositz zertrümmert oder sogar diesen Kerl
hinter ihr erschlagen hätte. Es war einer dieser Momente,
der sie von neuem mit einer überwunden geglaubten Rea-
lität konfrontierte, einer Vergangenheit, die sie für abgetan
und abgehakt gehalten hatte. O nein, nichts war vorbei,
wieder stand sie vor verschlossener Tür, und es gab kein
Entrinnen.
Sie stieg aus dem Taxi und huschte in eine Gasse, die von
der Corniche al-Masrâa abzweigte. Der Chauffeur sollte sie
nicht bis vors Haus bringen, ihr Verfolger durfte die Adresse
nicht erfahren. Sie trat in einen Lebensmittelladen und ver-
steckte sich für ein paar Minuten. Inzwischen würde sie Sa-
bah anrufen und nachfragen, ob sie bereits in ihrer Woh-
nung gewesen war. Heute früh hatte sie Sabah gebeten, alle
ihre Sachen, auch die Kleidung und das Essen fürs Baby zu
sich zu holen. Sie würde ihr sagen, dass sie Angst habe und
nicht nach Hause gehen könne, womöglich habe ihr Verfol-
ger schon alles ausgekundschaftet und wisse, wo sie wohne.
Sabahs Telefon klingelte, doch niemand hob ab. Sie legte
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den rer auf und verliess den Laden. Sobald es ihr gelun-
gen wäre, den Mann abzuschütteln, würde sie ein anderes
Taxi nehmen. Aber plötzlich ging sie langsamer, sie dachte
an den Moment bei Tagesanbruch, als ihr Sabah den Jungen
aus den Armen genommen hatte. Er öffnete seine Augen,
sekundenlang schaute er zu ihr auf, und dann lächelte er sie
an, zum allerersten Mal, bevor er wieder einschlief.
Eine schwere Last drückte sie nieder, sie kam nicht mehr
weiter. Jetzt musste sie bezahlen r eine Vergangenheit, die
sie einholen würde, bevor sie endgültig mit ihr abgerechnet
hatte. Aber ein solches Leben konnte sie doch nicht führen,
immer im Davonlaufen, immer auf der Flucht. Sie müsste
ein wenig innehalten, um nachzudenken und zu entschei-
den, was sie tun sollte. Denn nun war sie Mutter. Die Zu-
kunft ihres Sohnes rde auf irgendeine Weise mit ihrer
Vergangenheit verbunden sein, und sie wollte ihm keine
schmerzliche Erinnerung hinterlassen. Sie würde ganz ein-
fach stehen bleiben, dachte sie, und sich umdrehen nach
dem Auto, das ihr langsam gefolgt war. Sie würde dem
Mann fest in die Augen blicken und ihm sagen, dass sie
sich nicht mit der Veröffentlichung von Hanâs Geschichte
begnügen werde. Auch über ihn werde sie schreiben, und
das wieder und wieder. Und alles, was sie geschrieben hatte,
würde sie publizieren – über die Gefängnisse, jene dunklen
Verliese, die ihre Freunde geschluckt hatten, ihre Kommili-
tonen, die verschollen waren und deren Eltern nicht wagten,
nach ihnen zu fragen.
Vielleicht war sie wirklich stehen geblieben, vielleicht
hatte sie sogar ein, zwei Worte gesprochen. Vielleicht hatte
sie ihre letzten Worte noch nicht zu Ende gedacht viel-

Iman Humaidan
Fünfzig Gramm Paradies

Roman aus dem Libanon

Aus dem Arabischen von Regina Karachouli


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-478-9
Seiten 267
Erschienen 17. Februar 2017
€ 22.00 / Fr. 29.00

Ein aufschlussreiches Psychogramm vom Leben in Beirut nach dem Krieg.
— Ingo Arend, Deutschlandfunk Kultur

Beirut, 1994. Zehn Jahre sind vergangen, seit Maja ihre Stadt gen Paris verlassen hatte. Nun ist sie in den Libanon zurückgekehrt, die Verheerungen des zu Ende gegangenen Bürgerkrieges sind allerorten sichtbar, nicht nur in den Strassen, auch in den Seelen der Menschen. Bei Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm stösst sie in den Ruinen auf einen abgewetzten Lederkoffer, dessen Inhalt - Briefe, Fotos und Tagebücher – ihr Leben fortan auf den Kopf stellt. Majas unablässige Recherchen führen sie auf die Spur der syrischen Journalistin Nûra, die einst die Flucht wagte, nachdem sich ihr der Geheimdienst an die Fersen geheftet hatte.

Iman Humaidan zeichnet in ihrem Roman kaleidoskopartig ein vielschichtiges Bild vom Leben während des libanesischen Bürgerkrieges und der Zeit danach. Dabei beleuchtet sie das Verdrängen kollektiver und persönlicher Schuld und die Schicksale von Minderheiten – Kurden, Armenier, Juden – in der multikonfessionellen Region.

Fünfzig Gramm Paradies wurde 2016 mit dem Katara-Preis für den arabischen Roman ausgezeichnet.

Pressestimmen

Ein hochinteressantes historisches Panorama (…) es öffnet jemand seine Seele, dem der Krieg alles genommen hat.
— Dina Netz, Südwestrundfunk
Der tonnenschweren, leidgeprägten Geschichte Libanons setzt Iman Humaidan mit Leidenschaft und freiem Geist fünfzig Gramm Paradies entgegen. Spannend wie ein Krimi erzählt, gibt der Roman einen tiefen Einblick in die Mentalität einer Gesellschaft, für die der Ausnahmezustand zur Normalität geworden ist.
— Susanne Schanda, NZZ am Sonntag
Wer verstehen will, warum die Lage im Libanon immer so fragil war und noch ist, muss »Fünfzig Gramm Paradies« lesen.
— Rolf Brockschmidt, Der Tagesspiegel
Humaidan zeichnet ein aufschlussreiches Psychogramm vom Leben in Beirut nach dem Krieg. Und so geschickt, wie sie Erzählstimme, Tagebuchnotizen oder die inneren Monologe der drei Frauen verknüpft, gelingt ihr ein überzeugendes Bild davon, wie die Schicksale der Menschen, wie Gegenwart und Vergangenheit in der Region unauflöslich verknüpft sind.
— Deutschlandradio Kultur
»Fünfzig Gramm Paradies« fehlen die bunten Farben des Orients weitgehend, es ist ein Buch der Grautöne in zahllosen Schattierungen, die sich da zwischen Schwarz und Weiss mischen und den Kolorit der Gesellschaft des Nahen Ostens in einer dramatischen Epoche nachzeichnen.
— Gudrun Braunsperger, Österreichischer Rundfunk
Iman Humaidans eindringlicher Roman handelt von Menschen zwischen den Mahlsteinen der Politik, gefangen auch in familiärer und religiöser Tradition. (…) Mit ihren Figuren macht sie Fremdes vertraut.
— Cornelia Geissler, Frankfurter Rundschau
Iman Humaidan zeigt – und das anhand von manchmal nur winzigen Miniaturen – das weibliche Gesicht von Krieg, Flucht und Emigration. Wir sehen es viel zu selten, nicht immer. »Fünfzig Gramm Paradies« ist nicht zuletzt deshalb Lektüre von drängender Aktualität.
— Claudia Kramatschek, Qantara.de