LENOS
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LP 240
In einem abgelegenen Bergdorf lernt die Journalis-
tin Vera einen jungen Fremden kennen. Sie schreibt
an einem Artikel über rätoromanische Literatur, er
hat ein altes Haus geerbt und versucht seine Kriegs
-
erinnerungen hierhin zu verbannen. Die beiden
treen sich zu Spaziergängen, essen zusammen in
der Dorfbeiz und erzählen sich nach und nach mit
wenigen Worten von ihrer Vergangenheit. Kálmán
erinnert Vera an ihre ältere Schwester Sophia, die
ihrerseits in einer eigenen Welt lebt. Als Sophia zu
Besuch kommt, begegnet auch sie dem geheimnis
-
vollen Kálmán, und es entsteht eine überraschende
Verbindung, die beide verändert.
Mit starken Bildern erzählt Gianna Olinda Cado
-
nau von der Begegnung traumatisierter Menschen.
Ein Roman, der ohne Erklärungen auskommt und
gleichzeitig Unsagbares sichtbar macht. Ein univer
-
selles, beeindruckendes Debüt.
Lenos Verlag
Gianna Olinda Cadonau
Feuerlilie
Roman
LP 240
Erste Auflage 2024
Copyright © 2023 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagillustration: Andrew Boligolov / Shutterstock
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 840 4
www.lenos.ch
Ausgezeichnet mit dem Studer/Ganz-Preis
für das beste Debütmanuskript.
Was ist mir zugedacht
an Fragen, dir in
deine dichter werdende
Fremdheit folgend?
Mariella Mehr
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Vera
Am Bahnhof
Er wacht auf, als der Zug hält. Sein Kopf ist nicht
vornübergekippt und unkontrolliert hin und her
gezuckt und hochgeschreckt wie bei mir, wie bei
vielen Zugschläfern. Sein Kopf kippte etwas nach
hinten, die Augen waren manchmal ein bisschen of
-
fen. Ganz ruhig. Anfangs genierte ich mich, ihn zu
beobachten, dann wurde auch ich ganz ruhig und
betrachtete ihn. Seine Haut ist hellbraun, die Wim
-
pern ziemlich dicht, kein Bart. Eine dünne Narbe
zieht sich über seine rechte Wange, durchschnei
-
det die rechte Augenbraue und verschwindet in der
Mitte der Stirn, kurz vor dem Haaransatz.
Der Zug hält auf einer Brücke. Zwischen den
Brettern der Brückenwand scheint Licht hindurch
und zeichnet helle Flecke auf seine Haut. Seine
Narbe verschwindet in den Licht- und Schatten
-
zeichnungen auf seiner Haut. Er önet die Augen,
sieht zum Fenster hinaus. Dann schaut er kurz zu
mir und wieder zum Fenster hinaus.
Er sagt leise, mehr zu sich selbst als zu mir: »Ist
das – sind wir …«
Ich erschrecke ein bisschen, bin nicht sicher,
ob er mit mir spricht, ob er eine Antwort möchte.
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»Nein«, sage ich schliesslich und zucke die Schul-
tern.
Er zögert, senkt den Blick, als ob er sich geirrt
hätte. Mein Puls geht schneller. Ich ärgere mich,
dass ich nicht mehr gesagt habe, einen ganzen Satz.
Zum Beispiel: Ich weiss auch nicht – oder: Wir
fahren sicher gleich weiter. Aber der Mann hat den
Kopf wieder zurückgelehnt und die Augen geschlos
-
sen. Er önet sie auch nicht, als der Zug langsam
wieder anfährt.
Wir steigen beide an der Endstation aus, ich vor
ihm, stelle mein Gepäck auf den Boden, schaue dem
Zug entlang zurück, dann zur gegenüberliegenden
Talseite. Er bleibt neben mir stehen, gerade so weit
entfernt, dass man sehen könnte, wir gehören nicht
zusammen, wir haben nur im selben Zugabteil geses
-
sen, mehr nicht. Eine Weile stehen wir da, betrach-
ten die Berghänge, dunkle Nadelwälder, schmale,
steile Bachbetten, Geröll, die Bergspitzen verdeckt
von der Überdachung des Bahnsteigs. Dann wen
-
det er sich zu mir, schaut auf sein Gepäck, überlegt
eine Weile, schliesslich nickt er bestätigend, als hätte
ich etwas gesagt, wendet sich ab und geht. Ich habe
nicht darauf geachtet, ob sonst noch jemand aus
dem Zug gestiegen ist, jetzt ist der Bahnsteig leer. Bis
auf ihn. Ich schaue ihm nach. Er hinkt.
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In der mittleren Gasse
Der Hausschlüssel hat einen violetten Schlüsselring.
Ich habe ihn selten benutzt. Ich bin nie ohne die
anderen hier gewesen, die auch alle einen Schlüssel
hatten und von denen meistens jemand vor mir an
der Haustür war.
Sophias Schlüsselbund ist mir zugeschickt
worden, damit ich, falls nötig, in ihre Wohnung
komme. Daran ist auch ihr Schlüssel zum Haus. Er
hat einen metallenen Ring.
Das Haus ist alt, hundertdreiundsechzig Jahre alt.
Ich weiss nicht, ob das sehr alt ist, so alt, dass man
deswegen stolz sein kann. Soweit ich weiss, ist nichts
Ungewöhnliches darin passiert, die Menschen ha
-
ben darin gelebt und sind darin gestorben, wie sonst
wo auch. Ich kenne ihre Geschichten nicht genau.
Wenn das Wetter umschlägt, knackt es im Gebälk
unterm Dach. Im Keller und im anliegenden Stall,
der schon seit Jahrzehnten leer steht, ist es manch
-
mal ein bisschen unheimlich. Mehr ist da nicht.
Ich packe mein Necessaire aus, stelle alles ins
Bad, lege meine Kleider in den grossen Schrank im
Schlafzimmer und räume die wenigen Lebensmittel,
die ich mitgebracht habe, in den Kühlschrank ein.
Es ist Freitagabend.
Mit Sophia bin ich oft durchs Dorf gegangen,
am liebsten dann, wenn es wie jetzt menschenleer
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war. Wir sind den Dorfbewohnern selten begegnet,
in der Beiz waren wir immer nur nachmittags, ha
-
ben auf der kleinen Terrasse heisse Schokolade mit
Rum getrunken, oder Campari, je nach Jahreszeit,
und geraucht.
Jetzt sitze ich am Küchentisch auf der Eckbank,
klappe meinen Laptop auf und versuche, einen
Arbeitsplan für die nächsten Wochen zu machen.
Eine Weile gelingt das ganz gut, dann schaue ich
aus dem Fenster auf das Nachbarhaus, ich sehe nur
das Dach und darüber die Berge, die jetzt schwarz
sind vor dem dunkelblauen Himmel. Ich denke an
den Mann im Zug und bin froh, ist Sophia jetzt
nicht hier und sieht mich an. Sie würde merken,
dass ich nicht bei der Sache bin, nicht an die Arbeit
denke, sondern an etwas anderes, wonach sie fragen
würde.
In der Beiz
Es dauert ein paar Tage, bis ich ihn wiedersehe. Er
steht oben an der steilen Strasse, schaut eine be
-
malte Hausfassade an, sieht hinauf zum Dorfrand
und zur Kirche. Ich bleibe stehen. Betrachte ihn,
wie er wieder die Fassade mustert, ein bisschen der
Hausmauer entlanggeht, in den Himmel blickt, als
müsse er dort etwas prüfen, wieder die Mauer an
-
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sieht und dann mich. Wir sehen uns an, die steile
Strasse zwischen uns. Ich denke daran, dass ich
schon weiss, wie seine Stimme klingt, dass mich das
beruhigt. Einer von uns könnte sich jetzt abwenden,
dann könnten wir das aufschieben, für eine weitere
Weile, das erste Gespräch zwischen zwei Fremden,
die Fragen, wer der andere ist, die andere, warum er
hier ist und ich, warum gerade hier.
Stattdessen setzt er sich in Bewegung, die Strasse
hinunter in meine Richtung. Ich bleibe stehen. Er
hinkt stärker beim Abwärtsgehen, die Hände in
den Manteltaschen, seinen Blick auf die Strasse ge
-
richtet, konzentriert. Er hebt ihn erst, als er wenige
Schritte vor mir stehen bleibt. Er nickt leicht, sagt
nichts, und wir gehen gemeinsam weiter, als ob wir
verabredet wären, vorbei am grossen Dorfbrunnen,
biegen in die Hauptstrasse ein, die zur Beiz führt.
Wir setzen uns an einen der kleinen Tische auf
der Terrasse, warten, bis die Bedienung kommt, die
mich vertraut und ihn höflich grüsst, bestellen und
warten wieder. Als die Getränke vor uns stehen, Kaf
-
fee, wissen wir immer noch nicht, wie beginnen, als
ob wir einfach nur beisammensitzen wollten, ohne
etwas vom anderen zu erfahren. Als ob wir den an
-
deren auf Abstand halten wollten, weil wir einander
so wertvoller sind, jetzt, in diesem Dorf, das weder
seins ist noch meins. Drinnen am Stammtisch sitzen
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zwei Bauern und der Kondukteur. Sie haben Pause.
Sie schauen zu uns raus.
»Wie lange bleibst du hier?«, frage ich.
Er atmet ein, schüttelt ganz leicht den Kopf.
»Eine Weile – zwei, drei Wochen sicher. Wahr
-
scheinlich brauche ich länger. Und du?«
»Ja, auch etwa so. Mal schauen, wie gut ich vor
-
ankomme.«
Wir belassen es dabei.
»Ist es gut, da, wo du wohnst?«, frage ich.
»Ja, das ist gut«, sagt er und: »Bei dir auch?«
»Ja«, antworte ich.
»Es ist wichtig, ohne das kann man nichts tun«,
sagt er, »man müsste dann erst mal das Wohnen er
-
ledigen – vor allem anderen.«
Da muss ich lächeln. Ich stelle mir vor, wie ich
das tun würde, das Wohnen erledigen, stelle es mir
anstrengend vor. Er sieht mich an. Lächelt dann
auch ein bisschen und senkt den Blick, trinkt einen
Schluck.
»Kennst du diesen Ort? Das Haus?«, frage ich.
»Nein, nur von Erzählungen. – Du kennst es,
nicht wahr?«
»Ja, von früher
Dann reden wir weiter, er beschreibt das Haus,
in dem er wohnt, es ist jetzt seins, ich beschreibe
meins, das nicht nur meins ist, es gehört auch
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Sophia. Wir zählen Zimmer um Zimmer auf, blei-
ben bei Einzelheiten hängen, Dingen, die wir mö-
gen, das Geländer meiner Kellertreppe, der niedrige
Türrahmen seines Schlafzimmers. Beschreiben das
Wohnen in diesen Zimmern, die sich noch sträu
-
ben, unsere Gewohnheiten anzunehmen, und dabei
hält er manchmal inne, erzählt nichts vom Zimmer,
sondern beschreibt nur dessen Tür, die Aussicht aus
dem Fenster. Danach schweigen wir wieder, die Kaf
-
feetassen sind leer. Es ist kühl jetzt.
Später gehen wir die Hauptstrasse entlang bis zum
Brunnen, wo wir einander zunicken und ich in
die mittlere Gasse einbiege und er die steile Strasse
Richtung Dorfrand nimmt. Eine Schar Dohlen
iegt über den obersten Häusern.
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Kálmán
Am oberen Dorfrand
Hier träume ich. In der Stadt war der Schlaf leer,
dunkelgrau, gross. Gegen Morgen, wenn das Zeug
nicht mehr wirkte, wurde er hellgrau und schwer.
Aber jetzt bin ich hier.
Im Schlaf bin ich in den anderen Zimmern, den
Zimmern von früher, ich sehe die Zelle, da sind
Stimmen. Sie kommen, sie kommen alle. Ich sehe
keinen. Sie sind bald da. Das kann nicht sein. Nicht
hier in diesem Zimmer. Ich weiss, ich schlafe.
Dann vergesse ich es, jetzt bin ich angekettet, hin
-
ter mir eine Felswand oder eine Mauer. Es ist feucht.
Auch jetzt kommen sie, ich höre sie. Aber jetzt habe
ich ein Messer in der rechten Hand. Ich sehe es nicht,
es ist schwer. Die Hände sind seitlich über mir an
-
gekettet. Ich kann die Ketten nicht zerschlagen. Ein
Junge kommt, er ist weiss, wie die Menschen hier,
wie die Frau im Zug. Er steht vor mir. Ihn erreiche
ich mit dem Messer. Ich stosse es in seine Brust. Jetzt
kann er nichts tun. Aber er spricht mit mir. Er erklärt
etwas. Ich verstehe nicht. Er ruft. Er ruft meinen Na
-
men, aber ich verstehe ihn nicht. Etwas rauscht. Er
beschreibt einen Weg. Das verstehe ich jetzt. Wieder

Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt

Roman

LP 240
Paperback
ISBN 978-3-85787-840-4
Seiten 171
Erschienen 15. Januar 2024
€ 18.00 / Fr. 18.00

Mit starken Bildern und gleichzeitig behutsam erzählt Gianna Olinda Cadonau vom eigentlich Unsagbaren.
— Liliane Studer

In einem abgelegenen Bergdorf lernt die Journalistin Vera einen jungen Fremden kennen. Sie schreibt an einem Artikel über rätoromanische Literatur, er hat ein altes Haus geerbt und versucht seine Kriegserinnerungen hierhin zu verbannen. Die beiden treffen sich zu Spaziergängen, essen zusammen in der Dorfbeiz und erzählen sich nach und nach mit wenigen Worten von ihrer Vergangenheit. Kálmán erinnert Vera an ihre ältere Schwester Sophia, die ihrerseits in einer eigenen Welt lebt. Als Sophia zu Besuch kommt, begegnet auch sie dem geheimnisvollen Kálmán, und es entsteht eine überraschende Verbindung, die beide verändert.

Mit starken Bildern erzählt Gianna Olinda Cadonau von der Begegnung traumatisierter Menschen. Ein Roman, der ohne Erklärungen auskommt und gleichzeitig Unsagbares sichtbar macht. Ein universelles, beeindruckendes Debüt.

Der Roman wurde 2022 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debütmanuskript ausgezeichnet.

Pressestimmen

Sprachlich überzeugend unterläuft der Roman Erwartungshaltungen und schafft eine über das Heute hinausführende Aktualität.
— Jury des Studer/Ganz-Preises
Gianna Olinda Cadonau schafft es mit wenigen, dafür umso bewusster gewählten Worten, eine Geschichte vom Aufeinandertreffen verschiedener Charaktere zu erzählen, die sich gegenseitig dabei helfen, Türen zu öffnen, und sich so behutsam ihren eigenen Ängsten stellen. Vor der Kulisse der Bündner Bergwelt … verleiht dies der Erzählung eine besonders eindrückliche Atmosphäre.
— Hanna Wenger, Schweizer Monat
Wer sich auf die Lektüre einlässt, dem offenbaren sich zentrale Fragen rund um den Umgang mit traumatisierten Menschen. Und zwischen den Zeilen schimmert die Kraft hindurch, die schweigend Brücken baut.
— Bettina Gugger, Engadiner Post
»Feuerlilie« ist eine literarische Symphonie von Bildern, Stimmungen, Stimmen und Träumen. Eine Reise in die Tiefe der menschlichen Psyche.
— Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch
Cadonau ist ein hervorragendes Debüt gelungen, das gerade in seiner Reduktion des Settings und des Tempos faszinierende Räume einer Innenwelt öffnet, die – wie könnte es heutzutage auch anders sein – nicht frei ist von Verletzungen und Narben, aber in der sich mit ein bisschen Glück doch noch das Geheimnisvolle finden lässt. Insofern ist »Feuerlilie« auch und nicht zuletzt ein Buch grosser Hoffnung und daher so wichtig in so finsteren Zeiten wie diesen.
— Christian Ruch, Bündner Zeitung
Eine interessante neue Stimme, die darauf verzichtet, Erwartungshaltungen zu bedienen.
— Andreas Schiendorfer, Schaffhauser Nachrichten
Selten liest man in der Schweizer Literatur derartig geheimnisvoll verstrickte, in der Sprache sowohl lakonisch als auch ausufernd bebilderte Geschichten.
— Karsten Redmann, thurgaukultur.ch

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