LENOS
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Lenos Verlag
Nicolas Bouvier
Es wird kein Bleiben geben
Herausgegeben von François Laut
Mit einem Geleitwort von Mario Pasa
Aus dem Französischen von Yla M. von Dach
Titel der französischen Originalausgabe:
Il faudra repartir. Voyages inédits
Copyright © 2012 by Editions Payot & Rivages, Paris
Erste Auflage 2013
Copyright © der deutschen Übersetzung
2013 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Keystone/Photopress-Archiv
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 437 6
Die Übersetzerin
Yla Margrit von Dach, geboren 1946, lebt seit 1977 als freischaffende
Übersetzerin und Schriftstellerin in Paris und Biel. Sie hat unter ande-
rem Sandrine Fabbri, Nathacha Appanah, Marie-Claire Dewarrat, Henri
Roorda, Catherine Colomb, Sylviane Chatelain (Prosa), Isabelle Daccord
und Michel Beretti (dramatische Texte) übersetzt und wurde 2000 mit
dem Prix Lémanique de la Traduction ausgezeichnet.
Der Verlag dankt dem Migros-Kulturprozent und der Schweizer Kul-
turstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung.
Inhalt
Geleitwort von Mario Pasa 7
Genf–Kopenhagen Sommer 1948 11
Frankreich 1957/58 35
Nordafrika Herbst 1958 63
Indonesien Sommer 1970 85
China Sommer 1986 121
Kanada Herbst 1991 159
Neuseeland Sommer 1992 175
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Geleitwort
Diese unveröffentlichten Reisenotizen von Nicolas Bouvier
(1925–1998) aus Ländern, die in seinem publizierten Werk
nicht oder kaum vorkommen, vermitteln ein Gefühl von
Neuheit und postumer Intimität. Das ist auch der Mit-
arbeit von Madame Eliane Bouvier und von Barbara Prout,
Archivarin der Abteilung Manuskripte der Bibliothèque de
Genève, in der die hier versammelten Texte aufbewahrt sind,
zu verdanken. Für seine Arbeit an der Biographie des Autors
(Nicolas Bouvier. Lœil qui écrit. Paris: Payot 2008) hatte sich
François Laut, der die Texte bereits kannte, von diesen nicht
immer leicht zu entziffernden Aufzeichnungen inspirieren
lassen. Abgesehen davon, dass er damit ganz natürlich seine
Forschungsarbeit weiterhrte, gab es fast eine familiäre Ver-
pflichtung, diese Perlen zusammenzutragen, denn Ende der
1980er Jahre hatte sich zwischen dem Genfer Autor und den
Editions Payot, die namentlich so unumgängliche Titel wie
LUsage du monde und Chronique japonaise in der »Petite Bi-
bliothèque Payot/Voyageurs« herausbrachten, eine starke Be-
ziehung entwickelt.
Als Reisender geht Nicolas Bouvier weit über die Kanons
des Travel Writing hinaus, das mit seinem Boom aber doch
dazu beitrug, dass er zu Anerkennung gelangte. Die vor-
liegenden Aufzeichnungen sind zwar historische Zeugnisse
(über das Deutschland von 1948, Frankreich und Nordafrika
im Jahr 1958, Indonesien 1970, China 1986), doch vor al-
lem sind sie das Echo einer ganzen Reihe von Reisen mit
initiatorischem Charakter in unterschiedlichen Lebensaltern,
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und als solche bilden sie eine Art unfreiwillige Autobiogra-
phie. Man könnte Skrupel haben, etwas zu veröffentlichen,
was ein Autor nur für sich selbst schriftlich festgehalten hat,
doch die herausgeberische Arbeit hat es möglich gemacht,
ohne an ihm Verrat zu üben, eine Verzettelung zu vermei-
den, gewisse allzu sehr im Telegrammstil gehaltene Passagen
wegzulassen, da und dort eine Stelle durch Anmerkungen zu
präzisieren und r die 1950er Jahre mehrere Abschnitte in
eine chronologische Reihenfolge zu bringen. So tauchen aus
einer üppigen Stofffülle Momentaufnahmen des Reisens und
des Lebens auf, deren einige in ihrer minimalistischen Poesie
nicht zuletzt an Haikus erinnern.
Mario Pasa
IL FAUDRA REPARTIR
et vous, ravissements, ciels gonflés détoiles, pois-
sons, morsures du ur, lumière embrasante des
regards, échos et prestiges, serez-vous encore là?
ES WIRD KEIN BLEIBEN GEBEN
und ihr, Entrückungen, gebauschte Sternenhim-
mel, Fische, Bisswunden des Herzens, Brand-
fackel licht der Blicke, Echos und Prestigegefun-
kel, werdet ihr noch da sein?
Nicolas Bouvier, Frankreich, 1958
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Genf–Kopenhagen
Sommer 1948
Dienstag, 13. Juli. Abreise nach Finnland. Bei mir ziem-
lich trist. Ich rauche die flämische Pfeife, die ich gestern
aus Bern zurückgebracht habe. Meine Freunde haben dem
Abschied gestern einen derartigen Anstrich von Letzter
Ölung gegeben, dass ich mich heute Morgen nicht traue,
sie anzurufen. Keinerlei familiäre Empfehlung, ich möchte
sehr lange verreisen. Treffe Assaël
1
im Hôtel de Russie und
hole mit ihm den Wagen. Feudaler blauer Chevrolet, mit
Zigarettenanzünder und Monogrammen auf den Türen.
Fahren mit C., reserviert, zuvorkommend, wahrscheinlich
ganz Geschäftsmann, und B., sehr rund im Gesicht und im
Charakter sogar sehr angenehm, ungemein belesen, hat sich
ein bisschen zum Reisen zwingen müssen vor dem Krieg,
ist viel gereist, hat sich seither beruhigt, »wegen des Mili-
tärdienstes«, sagt er; muss mit seiner Mutter sehr nett und
als Onkel sehr beliebt sein.
Verlassen Genf um Viertel nach 9. Ziel Saint-Cergues.
Zoll im Grenzgebiet mit riesigen roten Spassvögeln von Be-
amten, die ausnahmsweise diese Arbeit machen und noch
ein Vergnügen erster Güte dabei finden, einen Pass auf- und
zuzuklappen.
1 Harald Assaël, Geschäftsmann, ausgebildeter Ökonom, hat 1945 in
der Revue économique et sociale eine Studie zum Recht auf das Existenz-
minimum publiziert (»Le Droit au minimum vital«), von der er Nicolas
Bouvier im Laufe ihrer Reise einen mit Widmung versehenen Sonder-
druck schenkte. (Anmerkungen vom Herausgeber, wenn nicht anders vermerkt)
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Der Jura, wie er leibt und lebt, hässlich, trist, grün, trüb-
sinniges Grau. Alle Kinder sehen aus wie Greise, vor den
Blechhäusern saugen sich Holzhaufen mit Regen voll.
Nachdem wir gut gefahren sind, Ankunft in Dijon um
1 Uhr. Der Wagen ist äusserst komfortabel. In Dijon berei-
tet man sich natürlich auf den 14. Juli vor. Mittagessen bei
Racouchot, Restaurant, das von einem antiquierten Ruf lebt
und wo die letzte Pomme frite schlecht frittiert und weihe-
voll daherkommt.
Essen ziemlich bescheiden, zum Verdruss mehrerer Lakaien
von sehr überholtem Gebaren, die sich zu dritt bemühen, uns
ein Stück Brot zu bringen. Monsieur Assaël ist zu viel gereist,
um sich von diesen alten Fallstrickrestaurants hereinlegen zu
lassen. Er erzählt uns auf fesselnde Art von seinem Aufenthalt
in den Klöstern des Berges Athos. Klosterrepublik, zu der
kein weibliches Wesen, Tier oder Frau, Zutritt hat.
Treffen um 4 Uhr 30 in Joinville ein. Der siebenhun-
dertste Jahrestag des Aufbruchs ihres Herrn zum Kreuzzug
Ludwigs des Heiligen. Alle sind zwischen zwei Räuschen,
der Regen kann sich an doppelt so vielen Fahnen auslassen.
Erreichen Reims über Châlons-sur-Marne. Zunächst sehr
schöne, grüne und einsame Landschaft, von reglosen Kanälen
durchzogen, Weiden und Pappeln. Dann riesige flache Ge-
treideebenen mit atemberaubenden Lichteffekten und Wol-
ken. Lassen Paris in 60 Kilometer Entfernung linker Hand
liegen. Reims um 8 Uhr abends. Die Kathedrale scheint sehr
schön zu sein, der Rest nicht, die Franzosen sind unübertrof-
fen im Unterbringen von Garagen in Häusern im Stil des
Louis-quatorze und im Organisieren von Tanzabenden auf
Plätzen mit Grammophonen und im Regen zerfliessenden
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Papierrosen, wo eine ziemlich alte Jugend tanzt, und die mich
sofort trübe stimmen. Daran ist nicht der Krieg schuld.
Wohnen im Hôtel du Lion d’or. Hässliches, aber komfor-
tables Zimmer mit Telefonskeletten und einigen Klingeln.
Prachtvolle gestreifte Samtvorhänge, deren dekorative Qua-
litäten die Besitzer bestimmt nicht zu schätzen wissen. Rie-
siges Bett, fast viereckig, mit Schlummerrolle.
In meinem Zimmer, das auf den Hof hinausgeht, höre ich
den öffentlichen Tanzabend, der von Tangos über Blasmusik
langsam dem Morgen entgegendudeln wird. Es ist wirklich
so, dass Paris ganz Frankreich ausgepumpt hat, alles, was in
der Provinz erschaffen wird, ist dazu verurteilt, aus der Mode
zu sein, bevor es überhaupt das Licht der Welt erblickt, aus-
ser, dünkt mich, im Süden.
Morgen früh werde ich die grosse Messe besuchen.
Mittwoch, 14. Juli. Exquisites Erwachen in einem riesigen
weichen, warmen, leichten Bett. Um 8 Uhr gefrühstückt. In
der Eingangshalle mit Assaël, graues Wetter.
Spaziergang durch Reims, voller Flics und voller Offiziere
in zweifelhaften, zerknitterten Parademonturen.
Die Kathedrale ist eine Pracht, doch keiner kommt hin,
sie ist umstellt von Baracken, Büros, Garagen usw. Unerhörte
Reinheit der Linien und der Dekoration, das Licht der Roset-
ten spiritualisiert und abstrahiert die Architektur; es ist we-
niger menschlich als die italienischen Kirchen. Brechen um
10 Uhr auf, nachdem wir die Militärzeremonie zum 14. Juli
gesehen haben, bei der mir alles verschossen und zwecklos
vorkam, bis zu den Witwen, die man mit postumen Medail-
len auszeichnet.
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Im Grunde genommen ist das, was den 14. Juli kaputt-
macht, die Tatsache, dass ein gutes Drittel Frankreichs un-
bewusst das Verschwinden eines Königs bedauert, der vor-
teilhaft die gegenwärtige Sauwirtschaft ersetzen rde. Die
republikanische Armee hat nur eine magere Vorgeschichte.
Fahren an Vervins, Laon, Maubeuge, an riesigen Getreide-
feldern und riesigen Militärfriedhöfen aus dem Ersten Welt-
krieg vorbei. Beim Chemin des Dames weiden zwischen
den Schützengräben und den Granatlöchern, die man un-
ter dem wildwuchernden Gras ausmachen kann, lautlos ein
paar Kühe. Es ist kein Mensch auf der Strasse, wir fahren im
Schnitt mit 80 Stundenkilometern, mein Sitznachbar B. ist
über jede Bruchbude in höchstem Masse beglückt.
Viel Ärger an der französischen Grenze mit streikenden
Zöllnern, die sich erst nach endlosen Einwänden dazu her-
beilassen, auf dem Triptychon die für den Übertritt nach
Belgien notwendigen Stempel anzubringen. Sie wollen nicht
den mindesten Koffer anschauen, und wäre er voller Gold,
und wir passieren mit unserem Wagen vom Typ übler Ge-
schäftemacher die Grenze wie ein unsichtbarer Lufthauch.
Der belgische Zöllner, der uns irrtümlicherweise oder über-
eifrig sinnlose Schwierigkeiten bereitet hat, schämt sich der-
massen, dass er nicht wagt, unsere Koffer anzuschauen.
Mittagessen nach der Grenze, alles ist sogleich fett, sau-
ber, blutig und schwer.
Im Hintergrund, gegen Mons hin, unwahrscheinliche
Kohle- oder Schlackenhügel, riesig, in merkwürdig regel-
mässigen Formen, die die Landschaft bedecken. Trostlos
schwarzes, aber reiches Land.
Erreichen Brüssel im Regen.
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Tisch im riesigen tel Métropole, wo Bedienstete aller
Abteilungen herumrennen wie müde gelbe Hunde.
Studentenwohnheim, grosse, trostlose Kaserne, grau, aber
durchdacht konzipiert.
Die belgischen Studenten plump und hässlich, aber nicht
bösartig, ihre Schirmmütze rasselt von etwas Cabochon-
artigem, das man an ihren Rand ngt. Sie sind innerlich
viel weiter von Frankreich entfernt als wir, und was ihnen
am meisten fehlt, ist der Charme, sie essen bestimmt zu
viel, um leichte Ideen zu haben. Ich mache mein Bett in
einer Art kahler, einfacher Zelle, wo ich Ruhe habe; am
Abend, als ich zurückkomme, finde ich einen oder vielmehr
zwei riesige Dänen vor, deren einer im zweiten Bett schlafen
muss, beide sind angenehm und sprechen ziemlich schlecht
Deutsch.
Ich nehme entzückt ein Bad in einem grossen, modernen
Badezimmer.
15. Juli. Spät aufgestanden, scheussliches Wetter, vor dem
Fenster sehe ich Studentinnen durch die Alleen gehen, Pfer-
deprofil, Füsse nach innen, so ein Jammer! Freue mich, T. zu
sehen.
Reichhaltiges Frühstück in einem riesigen Speisesaal. Still
und leer. Alte, natürlich ssliche, aber tterliche Kellne-
rinnen.
Am Vormittag führe ich die Dänen in Brüssel spazieren.
Gewaltiges Gewitter und wolkenbruchartiger Regen um
2 Uhr, stelle mich in einer Apotheke unter, in der dreissig
tropfnasse Kerle in einem Weltuntergangslicht langsam
Bsseler Dialekt reden.

Nicolas Bouvier
Es wird kein Bleiben geben

Aus dem Französischen von Yla M. von Dach
Herausgegeben von François Laut


Lenos Pocket 183
Paperback
ISBN 978-3-85787-783-4
Seiten 208
Erschienen 3. August 2016
€ 14.50 / Fr. 18.00

Unveröffentlichte Texte aus beinahe einem halben Jahrhundert versammelt dieser Band, aufgezeichnet in Ländern, über die Nicolas Bouvier zu Lebzeiten nie etwas publizierte. 1948, im Alter von neunzehn Jahren und voller Träume, verfasst er auf der Fahrt von Genf nach Kopenhagen seinen ersten Bericht. 1992 streift der mittlerweile berühmte Schriftsteller durch Neuseeland, müde zwar, doch mit unvermindertem Staunen. Dazwischen begleiten wir ihn zu so unterschiedlichen Reisezielen wie Frankreich und Nordafrika (1957/58), Indonesien (1970), China (1986) und Kanada (1991).

Die Texte, sorgfältig zusammengestellt von François Laut, lassen Nicolas Bouviers vielseitiges Talent sichtbar werden: ein unvergleichlicher Beobachter und Porträtist, aber auch ein Reporter, Ethnograph, Historiker, Fotograf und Dichter.

»Die Aufzeichnungen sind zwar historische Zeugnisse, doch vor allem sind sie das Echo einer ganzen Reihe von Reisen mit initiatorischem Charakter in unterschiedlichen Lebensaltern, und als solche bilden sie eine Art unfreiwillige Autobiographie. Aus einer üppigen Stofffülle tauchen Momentaufnahmen des Reisens und des Lebens auf, von denen einige in ihrer minimalistischen Poesie nicht zuletzt an Haikus erinnern« (Mario Pasa).

Pressestimmen

Für erprobte Bouvier-Leser ein Muss, für Neulinge ein guter Einstieg in den poetischen Kosmos des sensiblen Weltenbummlers.
— NZZ am Sonntag

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