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Lenos Verlag
Sumaya Farhat-Naser
Ein Leben für den Frieden
Lesebuch aus Palästina
Mit einem Essay von Ernest Goldberger
Erste Auflage 2017
Copyright © 2017 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: Klaus Petrus
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 479 6
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Die Autorin
Sumaya Farhat-Naser, geboren 1948 in Birseit bei Ramallah, studierte
Biologie, Geographie und Erziehungswissenschaft an der Universität
Hamburg. Promotion in Angewandter Botanik. Ab 1982 Dozentin für
Botanik und Ökologie an der Universität Birseit. Mitbegründerin und
Mitglied zahlreicher Organisationen, u. a. von Women Waging Peace
an der Harvard-Universität und von Global Fund for Women in San
Francisco. Von 1997 bis 2001 Leiterin des palästinensischen Jerusalem
Center for Women. Regelmässige Vorträge in Deutschland, Österreich
und der Schweiz, u. a. über Erziehung, Alltag, Ökologie, Frauen und die
politische Lage in Palästina. Sie lebt in Birseit.
1989 erhielt Sumaya Farhat-Naser die Ehrendoktorrde der Theologi-
schen Fakultät der Universität Münster. 1995 wurde sie mit dem Bruno-
Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte und 1997 mit
dem Evangelischen Buchpreis des Deutschen Verbands Evangelischer
Büchereien sowie dem Versöhnungspreis Mount Zion Award in Jeru-
salem ausgezeichnet. Zudem erhielt sie 2000 den Augsburger Friedens-
preis, ihr wurden die Hermann-Kesten-Medaille des P.E.N.-Zentrums
Deutschland (2002), der Bremer Solidaritätspreis (2002), der Profaxpreis
(2003) und der AMOS-Preis für Zivilcourage in Religion, Kirchen und
Gesellschaft (2011) verliehen.
Ein Leben für den Frieden
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1948
Rings um meinen Heimatort Birseit wachsen Olivenbäume.
Sie verbreiten eine Atmosphäre der Gelassenheit und Stand-
haftigkeit. Sie fordern Geduld und Genügsamkeit und ver-
sprechen ein gutes Leben. Früher wurden die reichen Vor-
räte an Olivenöl in Felszisternen gelagert, daher der Name
Birseit – Ölbrunnen. Der Duft von Thymian und Oregano,
Pistazien und Ginster, Pfefferminz und Salbei, von Zitrus-
und Mandelbten begleitet uns. Quellen sprudeln aus dem
Gestein hervor und spenden kostbares Wasser. Dichter und
Dichterinnen, Erzähler und Erzählerinnen haben seit je Pa-
lästina, diesen Ort der Freude, und ihre Liebe zu Land und
Erde besungen. Wer Palästina verlassen hat, träumt von
der Heimkehr und sehnt sich nach dem Duft der Sträu-
cher, dem Schatten der Olivenbäume und dem Rauschen
der Quellen.
Meine Familie lebt seit Jahrhunderten in Palästina. Frü-
her hatten die semitischen Stämme im Winter diesseits, im
Sommer jenseits des Jordans ihr Lager und begnügten sich
dankbar mit dem, was der Boden hervorbrachte. Wie un-
sere Familie von dort nach Birseit gelangt ist, erzählt eine
Geschichte, die von Generation zu Generation weitergege-
ben wird: Als eines Tages im Haus unseres Urahnen Farach
ein Mädchen geboren wurde, war die Enttäuschung gross.
Unter den Leuten, die sich bei Farach versammelt hatten
und ihm Trost spendeten, befand sich auch ein fremder
Gast, ein Muslim. Dessen Trostspruch erwiderte Farach mit
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den Worten: »Das Kind sei dir geschenkt.« Solche Aus-
sprüche waren gebräuchliche Zeichen der Gastfreundschaft
und Grosszügigkeit. Als aber das dchen sechzehn gewor-
den war, kam jener Gast von damals wieder und forderte
sein Geschenk. Der Vater erkannte, dass es dem Mann ernst
war, und bereute seinen Ausspruch sehr – denn wie konnte
er als Christ seine Tochter einem Muslim verschenken? Er
bat um etwas Zeit für die Vorbereitungen, und sie wurde
ihm gewährt. Als es Nacht wurde, oh Farach um der
Schande zu entgehen mit seiner ganzen Familie in die
Berge und liess sich im Dorf Ain Arîk bei Ramallah nieder.
Einer seiner Söhne wanderte später weiter nach Birseit. Von
ihm stammen die vier grossen Sippen des Ortes ab. Neben
diesen christlichen Familien lebten auch zwei muslimische
Sippen in Birseit. Das Zusammenleben all dieser Menschen
beruhte auf Respekt und friedlicher Nachbarschaft.
Die Eltern meines Vaters wurden gegen Ende des 19. Jahr-
hunderts geboren. Sie erlebten türkische, britische und jor-
danische Besatzung, Kriege und Armut. Die muslimischen
Männer mussten an der Seite der Türken in den Ersten
Weltkrieg ziehen. Den Christen war der Heeresdienst ver-
boten; sie mussten stattdessen Steuern zahlen.
Tagsüber arbeiteten Männer und Frauen auf dem Felde.
Abends versammelten sich die Männer im Diwân, im Haus
des Sippenältesten. Sie schlürften Tee, erzählten sich Ge-
schichten und bestimmten über Dorf- und Familienpolitik.
Oft war einer der Männer damit beschäftigt, Kaffeebohnen
in einem Holzmörser zu zerstampfen. Weithin waren die un-
gewöhnlichen Rhythmen seiner Schläge zu ren. Das Ge-
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räusch verriet allen, wo sich die Männer versammelt hatten,
und wirkte auch einladend für Gäste, die ins Dorf kamen.
Für die Frauen aber war der Arbeitstag, wenn sie vom
Feld heimkehrten, noch nicht zu Ende. Sie kümmerten sich
um den Haushalt und versorgten die versammelten Männer
wie auch die eigene Familie mit Speis und Trank.
Meine Grossmutter erzählte häufig Geschichten aus ihrem
Leben, und ich hörte ihr leidenschaftlich gerne zu. Sie erzählte
aus ihrem Alltag, wie sie den ganzen Tag unter der glühen-
den Sonne auf dem Feld arbeitete, abends Weizen drosch und
die rner in ihrer Steinmühle mahlte. Dabei liess sie sich
vom wellenartig an- und abschwellenden Geräusch der sich
reibenden Steine tragen und hing ihren Gedanken nach. Sie
dachte an ihre Leute, auch an die Verstorbenen. Oft weinte
sie dabei vor Müdigkeit, und die Tränen erleichterten sie.
Sie genoss diesen Moment der Ruhe. Danach knetete sie den
Teig, der noch vor Sonnenaufgang im Holzbackofen geba-
cken wurde. Kurz darauf brach sie auf und gelangte nach
zwei Stunden – den Säugling samt dem noch warmen Brot,
Oliven, Öl und Gemüse in einem grossen, flachen Korb auf
dem Kopf tragend – auf steinigem Weg zum Feld.
Grossmutter erzählte auch gerne von der einzigen Reise
ihres Lebens: »Es war zur Zeit des Ersten Weltkrieges.
Ich war damals noch ein junges Mädchen. Die Engländer
kämpften gegen die Türken, und wir lebten mitten im
Kriegsgebiet in Not und Angst. Mehrere Leute aus unserem
Dorf, auch aus unserer Familie, waren in den Kämpfen ge-
tet worden. Viele flüchteten aus Angst in die Städte an der
Küste, wo bereits die Engländer standen, oder nach Istan-
bul. Ich schloss mich dem Strom von Menschen aus unse-
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rer Gegend an, die zu Fuss nach Istanbul unterwegs waren.
Die Flucht dauerte zwei Monate. In Istanbul erkannte mich
ein Soldat aus unserem Dorf; er kümmerte sich um mich
und schickte mich mit der nächsten Karawane zurück nach
Birseit. Ohne ihn wäre ich wohl nie wieder nach Hause
zurückgekehrt. Das war die erste und letzte Reise meines
Lebens.« Als die Türken in Ramallah, zehn Kilometer von
Birseit entfernt, von den Engländern besiegt wurden, kam
es zu einem Waffenstillstand. Die Flüchtlinge kehrten nach
und nach zurück. Ihre user waren von den Türken ge-
plündert worden, die Felder abgeerntet.
Ein andermal erzählte Grossmutter, wie es dazu kam,
dass die Frauen im Dorf Schuhe tragen durften. Als Anfang
des 20. Jahrhunderts die ersten einfachen Lederschuhe auf-
kamen, waren sie den Männern vorbehalten, obwohl gerade
die Frauen bei ihrer harten Arbeit auf dem Feld oft wunde
Füsse hatten.
»Wir Frauen besassen zwar Schuhe, aber es ziemte sich
nicht, sich damit im Dorf zu zeigen. So zogen wir sie erst
ausserhalb des Dorfes an. Als wir eines Tages mit schweren
Holzbürden auf dem Kopf ins Dorf zurückkamen, beeilten
wir uns wie immer, die Schuhe rechtzeitig auszuziehen und
zwischen dem Holz zu verstecken. Aber Salma, Mansûrs
Tochter, hatte wunde, schmerzende Füsse und beschloss, die
Schuhe nicht auszuziehen. Kaum war sie zu Hause ange-
kommen, stürzte sich ihr Vater mit einem Stock wütend
auf sie: Wie wagst du es, mir diese Schande anzutun! Das
ganze Dorf spricht über die Tochter des Mansûr.
Bitte, Vater, flehte sie, im Namen der heiligen Ma-
ria und des heiligen Georg, hör mich an, bevor du mich
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schlägst! Sag mir: Was ist besser und anständiger: die
Schuhe an den Füssen oder auf dem Kopf zu tragen?
Verblüfft liess der Vater den erhobenen Arm sinken und
antwortete: Du hast recht, meine Tochter.Und er verliess
das Haus.
Darauf ging Salma zu ihren Freundinnen und erzählte
ihnen die Geschichte. Und sie beschlossen, von nun an die
Schuhe anzubehalten. Und dabei blieb es.«
Meine Eltern wuchsen zur Zeit des britischen Mandats in
Palästina auf. Die Engländer wollten die Gesellschaft mo-
dernisieren und mit der Gründung von Schulen ihren Ein-
uss verstärken. Mein Vater erhielt eine gute Schulbildung
in Jerusalem, wo Grossvater in der Klinik der lutherischen
Kirche als Hilfskraft arbeitete. Grossvater war offen r
Neues und wusste auch Bescheid über das, was sich jenseits
der Dorfgrenzen abspielte.
Meine Mutter, Tochter einer einfachen Bauernfamilie,
hatte sich geweigert, die Schule zu besuchen, und blieb An-
alphabetin. Denn nach Vorschrift der Engländer hätte sie,
wie alle Schülerinnen, eine Schuluniform tragen müssen.
Meine Mutter und andere Mädchen ihres Alters brachten
es nicht über sich, ihre palästinensische Tracht abzulegen,
sich derart zu entblössen und ihre Kultur und Tradition
preiszugeben. Heute leben in Birseit nur noch etwa dreissig
Frauen, die diese Tradition beibehalten haben. Die meisten
von ihnen sind Analphabetinnen.
Meine Mutter wurde mit siebzehn Jahren verheiratet.
Sie brachte neun Kinder zur Welt, nf Mädchen und vier
Knaben. Die Geburt eines Kindes ist die Bestätigung der

Sumaya Farhat-Naser
Ein Leben für den Frieden

Lesebuch aus Palästina

Mit einem Essay von Ernest Goldberger


E-Book
ISBN 978-3-85787-956-2
Seiten ca. 301
Erschienen 28. August 2017
€ 16.99

Der Lebensweg der vielfach ausgezeichneten palästinensischen Friedensvermittlerin anhand einer Auswahl ihrer Texte.

Geboren im Jahr der israelischen Staatsgründung, die aufgrund der Vertreibungen als Nakba (Katastrophe) ins kollektive Gedächtnis der Palästinenser eingegangen ist, wuchs Sumaya Farhat-Naser im Westjordanland auf, das seit nunmehr über fünfzig Jahren von Israel besetzt gehalten wird. In Friedensinitiativen und Frauengruppen sowie in Seminaren mit Jugendlichen setzt sie sich seit Jahrzehnten für Dialog und Gewaltverzicht bei der Lösung des Nahostkonflikts ein. In mittlerweile vier Büchern und auf zahlreichen Vortragsreisen hat Sumaya Farhat-Naser von ihrer Arbeit und vom Alltag unter Besatzung berichtet.

Dieser Band zeichnet anhand einer Auswahl ihrer Texte den Lebensweg der vielfach ausgezeichneten Friedensvermittlerin von 1948 bis in die Gegenwart nach.


Pressestimmen

Da berichtet eine unbestechliche Zeitzeugin, deren Engagement in einem tiefen Glauben in gewaltfreien Widerstand wurzelt.
— Neue Zürcher Zeitung

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