LENOS
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LP 248
In seinem Prosawerk Ein Gedächtnis für das Vergessen schildert Mach-
mud Darwisch in einer dichten, poetischen, mitunter auch zynischen
Sprache einen Tag im August 1982 in Beirut, während der israelischen
Belagerung, die die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung
aus der libanesischen Metropole zum Ziel hatte.
Machmud Darwisch
Ein Gedächtnis
für das Vergessen
Beirut, August 1982
Aus dem Arabischen
von Kristina Stock
Lenos Verlag
Der Autor
Machmud Darwisch wurde 1941 in al-Birwa (Palästina) geboren und üch-
tete 1948 in den Libanon. Nach der Gründung des Staates Israel kehrte er
heimlich zurück. Sein Gedichtband Ölbaumblätter machte ihn in den 1960er
Jahren berühmt. Wegen zunehmender Repression verliess Darwisch 1970 Is-
rael erneut und lebte jahrelang im Exil. 1987 wurde er Mitglied der PLO, aus
der er jedoch 1993 (Oslo-Abkommen) wieder austrat. Für seine einussreiche
und weltberühmte Lyrik wurde er 2004 mit dem Prince Claus Award ausge-
zeichnet. Er starb 2008 in Houston, Texas, und wurde in Ramallah (Palästina)
begraben. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Titel der arabischen Originalausgabe:
Dhâkira lin-nisyân
Copyright © 1987 by Machmud Darwisch
Die deutsche Übersetzung basiert auf der zweiten Auflage 1990
LP 248
Erste Auflage 2025
Copyright © der deutschen Übersetzung
2001 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: Aerial Panoramic View of Beirut. Maison Bonls
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 848 0
www.lenos.ch
Ein Gedächtnis für das Vergessen
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Traumgeborener Traum: »Geht es dir gut? Ich meine, bist
du noch am Leben?«
»Woher weisst du, mein Mädchen, dass ich gerade
meinen Kopf auf deine Knie legen und schlafen wollte?«
»Weil ich aufgewacht bin, als du dich in meinem Bauch
bewegt hast. Mir ist klargeworden, dass ich dein Sarg bin.
Bist du noch am Leben? Kannst du mich hören?«
»Passiert es eigentlich öfter? Dass mich ein Traum aus
meinem Traum reisst, ein Traum, der den vorangegange-
nen Traum interpretiert?«
»Das passiert nicht nur dir, mir auch. Bist du noch am
Leben?«
»So ziemlich.«
»Treiben schon die Teufel ihr böses Spiel mit dir?«
»Weiss nicht. Es ist genug Zeit zum Sterben.«
»Stirb nicht ganz!«
»Ich wills versuchen.«
»Stirb nie!«
»Ich wills versuchen.«
»Sag, wann ist das passiert? Ich meine: Wann sind wir
uns begegnet, wann haben wir uns getrennt?«
»Vor dreizehn Jahren.«
»Waren wir oft zusammen?«
»Zweimal: einmal im Regen, noch einmal im Regen,
und das dritte Mal gar nicht. Ich bin abgereist und habe
dich vergessen. Vor kurzem bist du mir wieder eingefal-
len. Mir ist eingefallen, dass ich dich vergessen hatte. Ich
habe die ganze Zeit geträumt.«
»Mir ist es genauso gegangen. Ich habe geträumt.
Schliesslich bekam ich deine Telefonnummer von einer
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schwedischen Freundin, die dich in Beirut getroen
hatte. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Vergiss nicht,
dass du nicht sterben darfst. Ich will dich noch immer.
Wenn du noch mal lebst, möchte ich, dass du mit mir
sprichst. Was für eine Zeit! Dreizehn Jahre. Nein, es ist
diese Nacht passiert. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«
Drei Uhr. Eine Morgenröte, in Feuer getaucht. Ein Alp-
traum, der vom Meer kommt. Metallenes Hähnekrähen.
Rauch. Eisen für das eiserne Fürstenbankett. Und eine
Morgenröte, die alle Sinne entfacht und erst dann sich
zeigt. Und ein Dröhnen, das mich aus dem Bett treibt
und in den engen Flur schleudert. Ich will nichts, wün-
sche mir nichts. Inmitten dieses totalen Chaos habe ich
meine Gliedmassen nicht mehr in der Gewalt. Keine Zeit
für Vorsicht, keine Zeit für Zeit. Wüsste ich bloss, wüsste
ich, wie ich diesen Todesstrudel zähme nur! Wüsste ich
bloss, wie ich die erstickten Schreie befreie nur, gefangen
in einem Leib, der nicht mehr der meine ist, während
ich verzweifelt darum ringe, dem unaufhaltsamen Bom-
benchaos zu entkommen. »Es reicht, es reicht«, üstere
ich, um mich zu vergewissern, ob ich noch in der Lage
bin, etwas zu tun, das mir sagt, dass ich bin und mir
die Stelle des Abgrunds zeigt, der sich in sechs Dimensio-
nen auftut. Ich will mich diesem Schicksal nicht ergeben,
kann mich ihm aber auch nicht widersetzen. Eisen, das
aufheult, während schon das nächste eine Antwort bellt.
Metalleber – die Hymne dieses Morgengrauens.
Würde diese Hölle doch nur fünf Minuten innehalten!
Und dann komme, was wolle. Fünf Minuten. Sozusagen:
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fünf Minuten, um eine einzige Vorkehrung zu treen.
Danach kann ich immer noch ans Sterben denken oder
ans Weiterleben. Fünf Minuten. Ob die wohl reichen? Ja,
sie reichen, um mich aus diesem engen Flur zu stehlen,
von dem Türen abgehen ins Schlafzimmer, ins Arbeits-
zimmer, ins Bad ohne einen Tropfen Wasser übrigens
und in die Küche, in die ich schon seit einer Stunde will,
aber mich nicht traue – niemals traue.
Vor zwei Stunden habe ich mir Watte in die Ohren
gestopft und mich hingelegt. Ich hörte noch Nachrichten
und schlief ein. Es war nicht gemeldet worden, dass ich
tot sei. Also war ich noch am Leben. Ich betaste meine
Körperteile. Sie sind alle noch dran: zehn Zehen, zehn
Finger, zwei Augen, zwei Ohren, eine lange Nase. Ein
Finger in der Mitte. Das Herz indes bleibt unsichtbar.
Es gibt nichts, was mir sagt, dass es da ist, ausser mei-
ner wundersamen Fähigkeit, meine Gliedmassen zusam-
menzuzählen, und der Pistole dort auf einem der Bü-
cherregale in meinem Arbeitszimmer. Eine feine Pistole,
sauber, glänzend, zierlich, ungeladen. Ich hatte auch eine
Schachtel Patronen dazubekommen, weiss allerdings
nicht mehr, wohin ich sie gelegt habe damals vor zwei
Jahren, als ich fürchtete, womöglich einmal im Zorn,
in einem plötzlichen Wutanfall, damit herumzuballern.
Jedenfalls bin ich noch am Leben. Genauer gesagt: Ich
existiere noch.
Kein Mensch vernimmt mein mit dem Rauch gen
Himmel steigendes Flehen: Wünsche mir fünf Minuten,
um dieser Morgendämmerung oder auch nur dem, was
ich von ihr habe, auf die Beine zu helfen und gut gerüstet
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diesen schmerzgeborenen Tag betreten zu können. Ha-
ben wir jetzt August? Ja, wir haben August. Der Krieg
hat sich in eine Belagerung verwandelt. Ich drehe am Ra-
dio, meiner dritten Hand mittlerweile, und will wissen,
was gerade vor sich geht, doch nde weder einen Bericht
noch eine Meldung. Das Radio schläft noch.
Ich habe es aufgegeben, zu fragen, wann das Stahl-
meergeheul verstummt. Ich wohne in der achten Etage
eines Hauses, das jeder Schütze gern aufs Korn nehmen
würde, ganz zu schweigen von der Kriegsotte, die dabei
ist, das Meer in einen Höllenquell zu verwandeln. Die
Nordseite des Gebäudes, fast ganz aus Glas, bot einst
den Bewohnern eine schöne Aussicht auf das gekräuselte
Meeresdach. Heute allerdings steht sie nackt dem Tod
gegenüber. Warum bin ich eigentlich hier eingezogen?
Welch dumme Frage! Das viele Glas hat mich doch die
ganzen zehn Jahre, die ich hier wohne, nie gestört.
Wie komme ich freilich in die Küche?
Ich will den Duft von Kaee. Will bloss den Duft von
Kaee. Will vom Leben nichts weiter als den Duft von
Kaee. Den Duft von Kaee, um bei Kräften zu blei-
ben, um mich auf den Beinen zu halten, um mich vom
Kriechtier wieder in ein menschliches Wesen zu verwan-
deln, damit sich mein Anteil an dieser Morgendämme-
rung auf den Beinen halten kann und wir das Tages-
licht und ich gemeinsam auf die Strasse gehen, um
einen besseren Ort zu suchen.
Wie soll ich bloss den Kaeeduft durch meine Zellen
strömen lassen, während die Granaten vom Meer auf
das Küchenfenster zugerast kommen und die Luft nach
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Pulver riecht, ja nach Tod schmeckt? Habe die Zeit-
spanne zwischen zwei Bomben gestoppt: eine Sekunde.
Eine Sekunde, kürzer als der Augenblick zwischen zwei
Atemseufzern, kürzer als der Augenblick zwischen zwei
Herzschlägen. Eine Sekunde reicht nicht, um sich an den
Gasherd direkt unter dem meerseitigen Fenster zu stellen.
Eine Sekunde reicht nicht, um eine Flasche zu önen.
Eine Sekunde reicht nicht, um das Wasser in den Kessel
zu giessen. Eine Sekunde reicht nicht, um ein Streichholz
anzuzünden. Aber eine Sekunde reicht, um in Flammen
aufzugehen.
Ich schalte das Radio aus, frage mich nicht, ob die Wand
des schmalen Flurs mich wirklich vor dem Bombenregen
schützt. Wichtig ist nur, dass da eine Wand ist, mich abzu-
schirmen vor der bleigeschmolzenen Luft, die das mensch-
liche Fleisch auf einen Schlag vernichtet, zerfetzt, unter
sich erstickt. Ein solcher undurchsichtiger Vorhang kann
in derartigen Situationen einen vermeintlichen Schutz
bieten. Tot bist du erst, wenn du den Tod erblickst.
Ich will den Duft von Kaee. Will fünf Minuten. Will
eine Feuerpause von fünf Minuten um des Kaees wil-
len. Das einzige, was ich mir noch wünsche, ist eine Tasse
Kaee. Diesem verrückten Verlangen gilt all mein Stre-
ben. All meine Sinne konzentrieren sich auf dieses eine
Flehen, mein dürstender Leib verzehrt sich nach dem ei-
nen nur: Kaee.
Kaee ist für einen Süchtigen wie mich der Schlüssel
zum Tag.
Kaee ist für einen Kenner wie mich etwas, was man
eigenhändig zubereiten muss und sich nicht auf einem
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Tablett servieren lässt, denn der Überbringer des Tabletts
überbringt auch Worte, doch der erste Kaee des Tages
wird von des Tages ersten Worten geschändet, denn er ist
der keusche Gefährte einer schweigsamen Morgendäm-
merung. Die Morgendämmerung, meine Morgendäm-
merung, ist antisprachlich. Der Duft von Kaee schluckt
jedes Geräusch, selbst ein sanftes »Guten Morgen«. Sonst
duftet er nicht.
O ja, Kaee ist diese unvergleichliche, behagliche,
frühmorgendliche Stille, in der du ganz allein bist mit
dem Wasser, das du ungestört und voller Musse aus
deinen Vorräten auswählst im kreativen Einklang mit
dir und der Welt. Sacht, ganz sacht giesst du es in ein
dunkel-geheimnisvoll schimmerndes bräunlichgelbes
Kupfertöpfchen. Dann plazierst du es auf einer kleinen
Flamme. Ach, wäre es doch ein Holzfeuer!
Lass den Topf eine Weile auf kleiner Flamme stehen
und schau auf die Strasse hinab, die gerade erwacht und
die Jagd nach ihrem täglich Brot aufnimmt. Das geht
schon so, seit der Ae von seinem Baum geklettert ist
und gelernt hat, sich auf zwei Beinen fortzubewegen.
Eine Strasse, die auf Obst- und Gemüsekarren daherrollt,
begleitet von diversen Krämerstimmen, die schwach im
Anpreisen, aber stark im Auspreisen sind. Atme die Luft,
die noch die Kühle der Nacht in sich trägt. Nun kehr zum
Herd zurück ach, wäre es doch ein Holzfeuer und
beobachte mit hingebungsvoller Geduld das Zusammen-
wirken der beiden Elemente: das Feuer, wie seine Farben
zwischen Grün und Blau wechseln, und das Wasser, wie
es sich kräuselt und kleine weisse Kügelchen ausspuckt,
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die alsbald eine zarte Haut bekommen, grösser werden,
grösser und grösser, zu Blasen anschwellen, sich schnel-
ler und schneller ausdehnen und schliesslich zerplatzen.
Sie schwellen abermals an, bis sie zerplatzen, sich nach
Zucker verzehrend. Sobald sich zwei Löel Rohzucker zu
ihnen gesellen, zischt es kurz auf, dann kehrt Ruhe ein.
Doch nach einem Weilchen geraten die Kreise auf der
Oberäche abermals in Panik und gieren nach einer an-
deren Substanz, nach schrillem Kaeepulver, dem stolzen
Gockel aus duftender orientalischer Männlichkeit.
Nimm den Topf von der Flamme, damit die keusch
duftende Hand, noch unbeeckt von Tabak und Tinte,
den Dialog mit der ersten ihrer Schöpfungen beginnen
kann, einer Schöpfung, die von diesem Augenblick an
den Geschmack deines Tages und den Bogen deines
Glückes bestimmt. Sie bestimmt, ob du arbeiten musst
oder ob du den ganzen Tag lang mit niemandem reden
kannst. Das, was diese erste rhythmische Regung zur
Folge hat, was mitgenommen wird aus der Welt des
Schlafes, geboren aus dem vorangegangenen Tag, was aus
der Dunkelheit deiner Seele nach aussen tritt es wird
das Antlitz deines neuen Tages formen.
Denn der Kaee, die erste Tasse Kaee, ist der Spie-
gel der Hand. Die Hand, die den Kaee bereitet, strahlt
auch die Seele aus, von der sie gelenkt wird. Kaee gleich
einer öentlichen Lesung aus dem aufgeschlagenen Buch
der Seele, gleich einem magischen Schlüssel zu den Ge-
heimnissen des bevorstehenden Tages.
Vom Meer naht noch immer das bleigemischte Mor-
gengrauen zu nie gehörten Klängen. Das Meer besteht
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nur noch aus umherschwirrenden Granaten. Das Meer
verliert seine Meeresnatur, metallisiert sich. Sind dies des
Todes viele Namen? »Wir werden gehen«, haben wir ge-
sagt. Warum ergiesst sich dann dieser rot-schwarz-graue
Regen über Mensch, Baum und Stein, über alle gleicher-
massen, mögen sie nun gehen oder bleiben? Wir haben
gesagt, dass wir gehen werden. »Übers Meer«, sagten sie.
»Übers Meer«, echoten wir. Warum bewanen sie dann
Wellen und Gischt mit diesen Geschützen? Damit wir
unsere Schritte beschleunigen, um ans Meer zu gelangen?
Erst einmal müssen sie aufhören, das Meer zu blockie-
ren, müssen den letzten Weg für das letzte Rinnsal un-
seres Blutes frei machen. Solange sich da nichts tut, wird
nichts geschehen. Dann gehen wir eben nicht. Egal, ich
mache mir jetzt meinen Kaee.
Die Vögel bei meinen Nachbarn zwitschern schon seit
sechs Uhr in der Früh. Wie gewohnt haben sie in Ge-
sellschaft des ersten zaghaften Lichts ihren neutralen Ge-
sang begonnen. Für wen singen sie eigentlich in diesem
Raketenhagel? Sie singen, um sich von einer Nacht zu
erholen, die bereits Vergangenheit ist. Sie singen für sich
selbst, nicht für uns. War uns das früher auch schon klar?
Die Vögel haben sich inmitten des Qualms der lodern-
den Stadt ihren eigenen Raum geschaen. Die trällern-
den Zickzackpfeile iegen in einem fort zwischen den
Bomben umher, und die Welt scheint in Ordnung zu
sein. Der Mörder muss morden, der Kämpfer kämpfen,
der Vogel singen. Ich aber will keine symbolhaften For-
mulierungen mehr, will keinesfalls weiter interpretieren
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müssen, denn der Krieg verschmäht nun einmal alles
Indirekte, reduziert er doch Menschen, Orte, Elemente
und Zeit auf ihre Urinstinkte. Nur daher können wir uns
über Wasser freuen, das aus einer zerborstenen Leitung
auf die Strasse tropft. Wasser kommt hier einem Wunder
gleich.
Wer hat behauptet, Wasser habe keine Farbe, keinen
Geschmack, keinen Geruch? Mit dem Durst bekommt
Wasser auch eine Farbe. Wasser hat die Farbe von Vo-
gelstimmen, besonders die von Spatzen, von Vögeln, die
dieser vom Meer her kommende Krieg nicht kümmert,
solange ihr Stück Himmel davon nicht betroen ist.
Wasser schmeckt nach Wasser und riecht nach dem Duft,
der mit der Nachmittagsluft von einem Weizenfeld her-
überweht, wo schwere Ähren wogen im Wechselspiel von
Licht und Schatten, sobald ein winziger Vogelügel im
Tiefug darüberattert und dunkle Flecken darauf malt.
Denn nicht alles, was iegt, ist ein Flugzeug. Vielleicht
ist das hässlichste arabische Wort das für Flugzeug, denn
es heisst Tâïra und ist die weibliche Form von Tâïr, was
Vogel bedeutet. Die Vögel singen weiter und bekommen
feste Stimmen inmitten des vom Meer heranrollenden
Grollens der Geschütze. Wer will da noch behaupten,
Wasser habe keine Farbe, keinen Geschmack, keinen Ge-
ruch? Wer will behaupten, dass diese Flugmaschinen die
weibliche Form von Vögeln seien?
Doch plötzlich verstummen die Vögel, reden nicht
mehr miteinander, drehen nicht mehr ihre routinemäs-
sigen Runden im Morgengrauen, seit sich der iegende
Eisensturm erhob. Hat sie das stählerne Krachen sprach-
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los gemacht oder etwa jene unproportionale Ähnlichkeit
in Gestalt und Namen: zwei silberne Eisenügel statt
zweier federnbesetzter Schwingen, ein elektronischer Ei-
senbauch statt eines Liederschnabels, eine Raketenfracht
statt eines Weizenkorns und eines Strohhalms. Aufgehört
haben die Vögel zu singen. Nicht mehr gleichgültig ist
ihnen der Krieg, denn ihr Stück Himmel ist nun auch
betroen.
Der Himmel hängt tief, als wäre er ein herabstürzendes
Betondach. Das Meer rückt näher, wird zu Festland.
Himmel und Meer sind vom selben Sto. Meer und
Himmel verstärken den Würgegri um meinen Hals.
Ich habe das Radio eingeschaltet, um zu hören, was es
Neues am Himmel gibt. Nichts ist zu hören. Die Zeit ist
erstarrt. Sie hat sich auf mich gesetzt, um mir die Kehle
zuzudrücken. Die Flugzeuge sind mir durch die Finger
gerast, haben meine Lunge durchschlagen. Wie komme
ich nur zum Duft von Kaee? Wie ausgetrocknet soll ich
sterben ohne den Duft von Kaee? Ich will nicht, ich will
nicht. Wo ist mein Wille geblieben?
Stehengeblieben, dort, auf der anderen Seite, an dem
Tag, als wir losschrien, damit die Legende aus dem Süden
uns verschone. An dem Tag, an dem der Menschen Lei-
ber die Muskeln ihrer Seelen in Spannung versetzten und
sich der Ruf erhob: »Sie werden nicht kommen, und wir
werden nicht gehen!« Die Leiber schlugen sich mit dem
Eisen und siegten über ranierte Kalkulationen. Die In-
vasoren blieben vor den Toren. Wir haben Zeit, die Toten
zu begraben, wir haben Zeit, die Waen zu ergreifen, wir

Machmud Darwisch
Ein Gedächtnis für das Vergessen

Aus dem Arabischen von Kristina Stock


LP 248
Paperback
ISBN 978-3-85787-848-0
Seiten 215
Erschienen 1. April 2025
€ 18.00 / Fr. 18.00

Ein stilistisch facettenreiches Werk, das von der eindrücklichen Sprachkraft und Sensibilität des Dichters lebt.
— Neue Zürcher Zeitung

Machmud Darwisch gilt als der bedeutendste palästinensische Dichter des 20. Jahrhunderts. In seinem Prosawerk Ein Gedächtnis für das Vergessen schildert er in einer dichten, poetischen, mitunter auch zynischen Sprache einen Tag im August 1982 in Beirut, während der israelischen Belagerung, die die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus der libanesischen Metropole zum Ziel hatte.

Schon der Tagesbeginn ist schwierig. Während eines Bombenangriffs kocht der Autor sich unter Lebensgefahr trotzig Kaffee, bevor er sich in die verwüsteten Strassen der Stadt hinauswagt. Sein Gang wird zu einer Reise ins persönliche und kollektive Gedächtnis. Reflexionen über das Schicksal seines Volkes, die Stadt Beirut, das Fremdsein und das Exil, Erinnerungen an die Liebe zu einer jüdischen Frau, an die Zeit im Gefängnis vermischen sich mit Träumen, Begegnungen mit Dichterkollegen, Schilderungen der sich überschlagenden Ängste zu einem vielschichtigen, meisterlich gefertigten Text von grosser künstlerischer Kraft.


Pressestimmen

Ein ungeheuer eindringlicher, sehr persönlicher Bericht aus Beirut unter dem israelischen Bombenhagel von 1982. Zynisch, trotzig, ironisch, poetisch, müde und traurig redet er von der Erfahrung, die alle Palästinenser seit Jahrzehnten machen: unerwünscht zu sein, auf der Flucht, im Exil.
— Gunhild Kübler, Die Weltwoche
Ein autobiographisch gefärbter Rechenschaftsbericht über die Zeit der Palästinenser im Libanon. Während vordergründig der Verlauf eines der letzten Tage der Belagerung erzählt wird, entsteht durch Erinnerungen, Träume, Charakterisierungen von Freunden, denen der Dichter begegnet, und Reflexionen über das Schicksal der Palästinenser das Kaleidoskop einer sich ihrem Ende zuneigenden Epoche der palästinensischen Diaspora.
— Stefan Weidner, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der Autor stösst in seinem Werk einen verzweifelten Schrei aus … Dieser nie endende Schrei scheint sich ins Unendliche auszudehnen: Er macht unaussprechliches Leid – die existentielle Bedrohung des Menschen, ja eines ganzen Volkes – hörbar und fühlbar.
— Helmtrud Rumpf, Deutsche Rundschau
Die eigentliche Stärke des Buches beruht darauf, dass Darwisch persönliche Erfahrungen und Fragmente seiner Biographie in den Mittelpunkt stellt.
— Fridolin Furger, Der Bund
Es ist erstaunlich, wie bedrückend aktuell sich die Aufzeichnungen von Machmud Darwisch in den gegenwärtigen politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen lesen. In einer poetisch dichten Sprache reflektiert er in immer neuen Kreisen die damaligen Ereignisse. Ein aktueller Text, der unter die Haut geht!
— LiteraturNachrichten

Ausserdem lieferbar