LENOS
×
LENOS POCKET 132
www.lenos.ch
Yvette Z’Graggen
Die Jahre des Schweigens
Aus dem Französischen
von Elfriede Riegler
Lenos Verlag
Die Übersetzerin
Elfriede Riegler, 1939 in der Steiermark geboren, seit 1963 in Genf. Übersetzte
zahlreiche literarische Texte (Romane, Kurzgeschichten, Essays) aus dem Fran-
zösischen und Englischen. Ist selbst Autorin von Gedichten, Kurzgeschichten
und Dramoletten.
LENOS POCKET 132
Titel der französischen Originalausgabe:
Les Années silencieuses
Copyright © 1982 by Editions de l’Aire, Vevey
Der französische Text wurde von der Autorin
r die vorliegende Übersetzung aktualisiert.
Erste Auflage 2010
Copyright der deutschen Übersetzung © 2001 by Lenos Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagbild: Staatsarchiv Basel-Stadt, Neg Hö A 7223
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 732 2
Die Jahre des Schweigens
7
1
Mai 1981
Die Deutschen da drüben öffneten die Schranke, während
das Dreigespann die Frau, der Alte und das kleine Mäd-
chen – die Brücke betrat. Für uns, die wir Bescheid wissen,
ist dieser Pseudoempfang woglich noch grausamer als
alles, was wir gerade gesehen haben.
Auf der Leinwand erscheint jetzt ein Text, der uns er-
klärt, was wir schon begriffen hatten: dass Judith, die Frau,
und Gitti, das kleine Mädchen, im Sommer 1942 von der
Schweiz zurückgewiesen und im Lager von Treblinka ver-
gast wurden. Und dass ihr Gefährte, der alte Herr, die end-
lose Fahrt in einem Viehwagen nicht überlebte.
Warum ging ich mir den Film von Markus Imhoof, Das
Boot ist voll, anschauen? Immerhin war es mir gelungen,
jene Enthüllungen, die seit der Veröffentlichung des Be-
richts Ludwig ständig zunahmen, jahrelang sozusagen am
Rande des Bewusstseins im dunkeln zu lassen. Die Enthül-
lungen betrafen die Art und Weise, wie die Schweiz wäh-
rend des Krieges Tausende an Leib und Leben gefährdeter
Juden ausgewiesen und sie damit ihren Henkern ausgelie-
fert hatte. Ich wollte nicht Bescheid wissen. Zuviel war um
uns herum, die wir bei Kriegsausbruch die Adoleszenz eben
erst hinter uns gebracht hatten, zusammengebrochen. Diese
Zurückweisungen, diese nner und Frauen, die man ver-
stossen hatte, obgleich sie voller Hoffnung angekommen
waren, dieses Land der Zuflucht, dieses gastfreundliche
8
Land, wie man ihnen gesagt hatte. Nein, bis zu dem Au-
genblick, als ich dieses Kino betrat, hatte ich von all dem
nichts hören wollen.
Noch einmal also: Warum beschloss ich, mir Das Boot ist
voll anzusehen? (Nichts zwang mich dazu. Es gibt viele in-
teressante Filme, die ich verpasse.) Ich glaube, dar gibt es
zwei Gründe. Der erste Grund war ein Interview mit Mar-
kus Imhoof, das ich wenige Tage zuvor in »La Suisse«
*
ge-
lesen hatte. »Ich werfe der vorhergehenden Generation vor«,
sagte er, »mir weisgemacht zu haben, die Schweiz hätte den
Flüchtlingen weit ihre Grenzen geöffnet. Mir verheimlicht
zu haben, dass sie mindestens 10 000 Menschen zurückwies,
von denen die meisten den Tod fanden, nachdem sie von
der Schweizer Polizei den Nazis übergeben worden waren.«
Zweifellos gehöre auch ich zu dieser vorhergehenden Gene-
ration, die Imhoof anklagt. Er ist vierzig, und ich war 1942
zweiundzwanzig Jahre alt, reif genug also, um mir so etwas
wie eine Meinung zu bilden, mich zu informieren, mir Ge-
danken zu machen. Doch so tief ich auch in meinen Erinne-
rungen grabe, ich finde darin nur die beruhigende Gewiss-
heit, dass die Schweiz ein mitfühlendes, r alle in Gefahr
befindlichen Flüchtigen weit offenes Land gewesen war.
Der zweite Grund: Kurz bevor der Film in den Gen-
fer Kinos gezeigt wurde, hatte ich einen Vormittag in
Auschwitz verbracht, einen Vormittag, den ich nicht verges-
sen konnte. Ich war ziellos durch die düsteren Blöcke aus ro-
tem Backstein gestreift, hatte die Frauenhaare gesehen und
* Genfer Tageszeitung, gegründet am 1. Mai 1898, eingestellt am
13.rz 1994.
9
die Teppiche, die man daraus gemacht hatte, die Brillen,
die Kinderschühchen, die zahllosen Zyklon-B-Schachteln
und die Listen, auf denen brave Beamte die Namen jener,
die gestorben waren, ordentlich abgehakt hatten (erledigt,
bedeuteten die mit fester Hand gezeichneten Häkchen). Ich
war in die Kerker von Block 11 hinabgestiegen, bis zu ei-
ner winzigen Zelle, in die die Gefangenen hineinkriechen
und wo sie tage- und nächtelang eng aneinandergedrückt
verharren mussten, unfähig, sich zu bewegen. Da wäre ich
beinahe in Ohnmacht gefallen, so sehr bedrückte mich das
Gefühl, von Tausenden von Gespenstern umgeben zu sein,
die mich vielleicht zur Rechenschaft zogen.
Vor allem aber war ich in einem Gang, wo man die ver-
grösserten Fotografien von mehreren Hundert Opfern an-
einandergereiht hatte, Jozefa begegnet. Jozefa, blutjung in
Auschwitz gestorben, hatte ein schönes Gesicht, ein Ge-
sicht, das noch nicht vom Lager gezeichnet war. Ich blieb
lange da stehen und schaute sie an. Ein paarmal versuchte
ich, von ihr weg- und zu den anderen hinzugehen, aber ich
kam wieder zurück. Mich an sie erinnern, dachte ich. Sie
nie vergessen. Da war auch noch etwas anderes. Jozefas Au-
gen, die fest auf mich gerichtet waren, stellten mir Fragen.
Und auch wenn diese Fragen in Wirklichkeit tief drin in
meinem Bewusstsein entstanden, so waren sie deshalb nicht
weniger drängend. Jeder Versuch, ihnen aus dem Weg zu
gehen, war sinnlos. Was hast du getan, fragte Jozefa, was
hast du getan, während ich in Auschwitz gestorben bin?
Und: Was hast du von uns gewusst?
Dieser Besuch, diese Begegnung waren r mich wie eine
Verpflichtung gewesen, dem Film von Markus Imhoof nicht
10
auszuweichen. Und jetzt war es der Film, der mir Fragen
stellte. Wie ist es glich, dass du von dem, was in deiner
unmittelbaren Nähe passierte, nichts gewusst hast? Wie
konnten 10 000 Menschen zurückgewiesen werden, ohne
dass du es bemerktest? Wie sst sich dein gutes Gewissen
erkren?
Nachdem ich den Film gesehen hatte, las ich das Buch, das
r Imhoof, wie er in dem zuvor erwähnten Interview er-
zählt hatte, der Auslöser gewesen war. Das Boot ist voll. Die
Schweiz und ihre Flüchtlinge, 1933–1945
*
, geschrieben von
dem Zürcher Publizisten Alfred A. Häsler, war 1967 erschie-
nen, und Imhoof hatte den Titel für seinen Film übernom-
men. Das Buch beruht weitgehend auf dem Bericht Lud-
wig. Gründlich und umfassend wird darin die Haltung der
Schweiz in bezug auf das Flüchtlingsproblem es handelte
sich vor allem um Juden von 1933 bis Kriegsende unter-
sucht. Häsler ergreift nicht Partei. Er bemüht sich stets um
Objektivität und scheut nie vor der Wahrheit zurück, und
sei sie noch so schwer zu akzeptieren. Er informiert über die
von der Schweiz ergriffenen Massnahmen zur Aufnahme
der Flüchtlinge, erklärt aber auch, dass bis Juli 1944 nur
zwei Kategorien von illegal in die Schweiz eingewanderten
Ausländern akzeptiert wurden: Deserteure und politische
Flüchtlinge. Jene hingegen, die ihrer Rasse wegen geflohen
waren, wurden nicht den politischen Flüchtlingen gleichge-
* Dr. Eduard von Steiger, Chef des Justiz- und Polizeidepartements,
hatte im August 1942 die Schweiz ein schwerbeladenes Rettungsboot
genannt. Damals befanden sich in unserem Land nur 7500 Flüchtlinge;
bei Kriegsende waren es 115 000.
11
stellt. Häsler zufolge lässt sich aufgrund von Berichten, die
an das Polizeidepartement gelangt waren, ermitteln, dass
es von August 1942 bis Kriegsende 9751 Zurückweisun-
gen gab. Das entspricht der von Markus Imhoof erwähnten
Zahl. Die von Häsler genannten Fakten beweisen, dass die
Behörden vom Schicksal gewusst haben müssen, das die
von der Schweiz zurückgewiesenen Juden erwartete.
Das Buch fand in der Deutschschweiz ein beachtliches
Echo. Es hiess, es entspreche einem echten nationalen Be-
dürfnis. Auch in der Westschweiz war das Buch ein Erfolg
(die französische Ausgabe Titel: La barque est pleine. La
Suisse, terre d’asile? – ist inzwischen vergriffen).
Obwohl ich mich bemühte, nicht mehr daran zu denken
und mich mit anderem zu beschäftigen, liess mir die Ge-
schichte keine Ruhe. Einmal mehr holte er mich ein, die-
ser Krieg, der mir meine Jugend vergällt hatte, und stellte
mir Fragen. Wieder sah ich Jozefas Blick in dem düsteren
Gang von Auschwitz vor mir, sah, wie sich die Schranke
der Grenzbrücke öffnete, sah all das vor mir, was in meiner
unmittelbaren Nähe passiert war, ohne dass ich auch nur
im geringsten daran teilgenommen hätte. In meinem Kopf
formulierten sich immer deutlicher zwei Fragen: Hätte ich
mich, wenn ich es gewollt hätte, über das informieren kön-
nen, was mit den Juden geschah? Hätte ich, wenn ich es
gewollt hätte, mir darüber klarwerden nnen, dass die
Schweiz Zurückweisungen vornahm und damit Menschen
in den Tod schickte?
Es gab nur eine einzige glichkeit, die Antwort auf
diese Fragen zu finden. Ich musste mich in die alten Ausga-
ben der Zeitung vertiefen, die ich damals las. Die Geduld

Yvette Z’Graggen
Die Jahre des Schweigens

Aus dem Französischen von Elfriede Riegler


Lenos Pocket 132
Paperback
ISBN 978-3-85787-732-2
Seiten 220
Erschienen Januar 2010
€ 12.00 / Fr. 18.00

»Wie ist es möglich, dass du von dem, was in deiner unmittelbaren Nähe passierte, nichts gewusst hast? Wie konnten 10’000 Menschen zurückgewiesen werden, ohne dass du es bemerktest? Wie lässt sich dein gutes Gewissen erklären?«

Anlass für Yvette Z’Graggens kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war der Film Das Boot ist voll von Markus Imhoof über die Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Die Schriftstellerin war so erschüttert, dass sie beschloss, sich der schmerzlichen Aufgabe zu stellen. Und sie machte es sich nicht leicht.

In ihrem autobiographischen Text fokussiert sie auf die Jahre 1942 und 1943, als sich das »Flüchtlingsproblem« zuspitzte – »zwei Jahre des Schweigens, verlorengegangen in der Zeit, nicht unterscheidbar von der formlosen Masse, die in meinem Gedächtnis unter dem Kapitel ›Krieg‹ oder dem Kapitel ›Jugend‹ abgelegt war«.

Anhand von Taschenkalendern, Notizbüchern, Briefen und Fotografien erinnert sie sich an die lebens- und liebeshungrige 22-jährige Frau von damals, die als Sekretärin beim Internationalen Roten Kreuz arbeitete und gleichzeitig versuchte, als Schriftstellerin Fuss zu fassen. Entstanden ist ein mutiger, offener, selbstkritischer Bericht, »eine der konsequentesten Erforschungen der politischen Ahnungslosigkeit ihrer Generation« (Gunhild Kübler, Die Weltwoche).

Pressestimmen

Yvette Z’Graggen kratzt die schön gelackte Oberfläche der Erinnerung auf und reisst Risse ins gute Gewissen, nicht nur des helvetischen Kollektivs, sondern auch der Individuen.
— Der kleine Bund
Eine der konsequentesten Erforschungen der politischen Ahnungslosigkeit ihrer Generation.
— Die Weltwoche