LENOS
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Lenos Verlag
Gabrielle Alioth
Die entwendete Handschrift
Roman
Erste Auflage 2016
Copyright © 2016 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich
Umschlagfoto: Keystone / Georgios Kefalas
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 467 3
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Die Autorin dankt der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für die
grosszügige Unterstützung.
Die Schriften sind so notwendig für das Leben
wie das Licht.
Manuel Chrysoloras
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Konstanz, 16. April 2015
Laura steht am Fenster des leeren Speisesaals und schaut auf
den See hinaus. Winzige Wellen kräuseln die Wasserober-
fläche. Waren sie das Letzte, was Richard sah?
Hinter ihr räuspert sich jemand. »Frau Merak?«
Es ist der nicht sehr grosse, grauhaarige Herr, der mit
dem Handy am Ohr in der Eingangshalle des Hotels stand.
Ein Journalist? Der dunkle Anzug spricht dagegen. Wäh-
rend der Unbekannte sich vorstellt, erinnert sich Laura an
Richards blaue Augen. Sie waren blasser geworden mit den
Jahren.
»oder wenn ich Ihnen in irgendeiner anderen Weise
behilflich sein kann?«
Laura verzieht den Mund, um ihr mechanisches Lächeln
zu verbergen. »Danke.«
Der Mann ist Beamter, Schweizerischer Generalkonsul
in Stuttgart: Franz Lindner.
»Im Moment.« Laura hat keine Ahnung, was nun ge-
schieht. Muss sie Richards Leiche identifizieren? »Wir wa-
ren getrennt«, erklärt sie.
Franz Lindner nickt. »Ich weiss.«
»Dreissig Jahre waren wir verheiratet«, sagt Laura mehr
zu sich selbst.
»Der Nachtportier hat den Verstorbenen im Fumoir im
Bischofszimmer gefunden.«
»Richard rauchte schon, als wir uns kennenlernten.«
»Wenn Sie mit dem Portier reden möchten?«
Laura schüttelt den Kopf.
»Oder wenn Sie irgendetwas brauchen?« Franz Lindner
hat braune Augen.
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Laura setzt sich auf den Rand des Hotelbetts; auch von hier
ist der See zu sehen.
»Wenn Sie irgendetwas brauchen …«
Der Hotelmanager hat sie persönlich in das Zimmer ge-
hrt, das man eilig für sie bereitgemacht hat. Die Sonne
glitzert auf den Wellenkämmen.
»dann melden Sie sich bitte.« In seiner Stimme liegt
eine fast drohende Dringlichkeit. Fürchtet er, auch sie mor-
gen tot aufzufinden?
»Ich würde gern etwas schlafen.«
»Selbstverständlich, Frau Merak. Ich werde den Zim-
mermädchen sagen, sie sollen leise sein. Leider müssen sie
ihre Arbeit dennoch tun. Wir sind vollkommen ausgebucht
wegen dieses Kongresses, Sie verstehen.«
Laura nickt. Das sechshundertjährige Jubiläum des Kon-
zils von Konstanz. Sie hatte verstanden, dass das nicht ir-
gendein Kongress war. Richard mied solche Veranstaltun-
gen gewöhnlich. Er schickte seine Doktoranden hin, die
begierig waren, ihr Curriculum Vitae um einen Eintrag zu
verlängern. Hierher nach Konstanz war er selbst gereist.
Sein Name steht fettgedruckt im Programm, das in ihrer
Handtasche steckt. Als sie es herauszieht, rutscht die gol-
dene Pillendose mit dem Saphirverschluss heraus. Laura öff-
net sie und betrachtet die Tabletten darin.
Wer wählt die Augenblicke aus, die uns im Gedächtnis bleiben?
Der Zufall, das Schicksal? So vieles, was uns erinnerungswür-
dig scheint, vergessen wir, und manches, das wir zu vergessen
wünschen, folgt uns ein Leben lang. Die Sonne glitzerte auf dem
Marmarameer an dem Morgen, an dem der Gelehrte seine Hei-
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mat verliess, den Brief in der Tasche, auf den er so lange gewartet
hatte.
»Sie stammen auch aus Basel«, stellt Franz Lindner fest.
Laura hatte nicht erwartet, den Konsul an diesem Abend
in der Hotelbar anzutreffen. Aber er sass im gedämpften
Licht an einem der kleinen Tischchen, und als er sie be-
merkte, erhob er sich und bot ihr einen Sessel an.
»Ja, aber nach der Trennung von meinem Mann bin ich
nach Irland gezogen.«
»Nach Irland?«
»Ich dachte, das sei weit genug weg.« Laura lacht auf.
»Ich war früher schon einmal dort, und ich mag Inseln.«
»Sie sind Wirtschaftswissenschaftlerin von Beruf?«
Laura überlegt, was der Konsul sonst noch über sie wis-
sen könnte. »Ich habe Wirtschaftswissenschaften studiert.
Mein Mann und ich haben uns an der Uni kennengelernt.«
Ihre Stimme schwankt.
»Dann wissen Sie sicher, was Operationsresearch ist«,
sagt der Konsul, ohne das Schwanken zu beachten.
Laura nickt. »Warteschlangentheorien, Simplex-Verfah-
ren, ganzzahlige lineare Optimierung.«
»Ich muss morgen ein Seminar über Operationsresearch
eröffnen, an dem zwei Experten von der Universität St. Gal-
len teilnehmen.«
»Hier in Konstanz?«
»In Stuttgart. Was darf ich Ihnen bestellen?«
Laura überlegt, ob der Konsul in Stuttgart eine Frau hat,
Kinder. »Ein Glas Rotwein bitte.«
»Ich selbst bin nie über Dreisätze hinausgekommen«, ge-
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steht Franz Lindner und schaut sich nach einer Bedienung
um.
»Ich mochte die Entscheidungsbäume, die Möglichkeit,
an jeder Verzweigung wählen zu können.«
»Denken in Alternativen?« Er winkt dem Kellner hinter
der Theke, die wie die Steuerung in einem Raumschiff aus
den achtziger Jahren in der Mitte des Raums in den Boden
eingelassen ist.
»Und wie wird man Konsul?«, erkundigt sich Laura,
nachdem der Kellner ihre Bestellung aufgenommen hat.
»Ich habe nach der Schule bei einer Bank gearbeitet;
Zinsrechnen konnte ich. Aber auf die Dauer war es langwei-
lig, und ich wollte ins Ausland.«
»Ich auch, aber mein Mann –« Laura verstummt.
»Ich sah eine Ausschreibung des
EDA und bewarb mich.
Irgendwie habe ich die Aufnahmeprüfung geschafft, der
Rest war einfach.«
»Und dann sind Sie ins Ausland gegangen?«
»Bulgarien zuerst, furchtbar, werde ich nie vergessen. An-
schliessend Kuba, das war spannend. Mailand, Nairobi, Istan-
bul, nein, umgekehrt: Istanbul, Nairobi, dann Bern r sechs
Jahre, damit unsere beiden Töchter den Schulabschluss in der
Schweiz machen konnten, Marseille und jetzt Stuttgart.«
»Und was kommt nach Stuttgart?«
»Die Rente.«
Laura mustert ihn. »Vorzeitig?«
Der Konsul lacht, und die Falten in seinem Gesicht wer-
den tiefer. »Ich bin älter, als Sie denken. Zudem wechseln
wir die Posten nicht mehr alle drei Jahre, dafür hat Bern
kein Geld mehr.«
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»Und wie ist Stuttgart?«
»Interessant. Es leben immerhin 25 000 Schweizerinnen
und Schweizer in Baden-Württemberg, die Handelsbezie-
hungen sind wichtig, der kulturelle Austausch –«
Der Kellner bringt Lauras Wein und ein Bier. Vorsich-
tig trinkt der Konsul den überlaufenden Schaum ab. »Ent-
schuldigung.« Er zieht ein Papiertaschentuch aus seiner Ho-
sentasche, um den Schaumring auf dem Tisch abzuwischen.
»Seit die Leute nicht mehr rauchen, gibt es keine Aschen-
becher mehr«, sagt er, als er nach einem Ort sucht, wo er
das feuchte Tuch entsorgen kann.
»Manche Leute rauchen immer noch«, rutscht es Laura
heraus. Einen Augenblick herrscht Schweigen, und sie be-
merkt den orchestrierten Sinatra-Song, der leise aus dem
Lautsprecher tönt.
»Ihr Mann war Mittelalterhistoriker?«, erkundigt Franz
Lindner sich.
»Er hat – er hatte einen Lehrstuhl an der Universität Ba-
sel.«
»Sind Sie auch in der Lehre tätig?«
»Ich habe einige Jahre r ein Wirtschaftsforschungs-
institut gearbeitet und dann zu schreiben begonnen.«
»Wirtschaftsjournalismus ist gewiss eine spannende Sa-
che.«
Laura fischt Erdnüsschen aus der Schale, die der Keller
ihnen hingestellt hat. »Ich erfinde Dinge.«
»Dinge?«
»Geschichten.«
»Für Kinder?«
»Für Erwachsene.«

Gabrielle Alioth
Die entwendete Handschrift

Roman

E-Book
ISBN 978-3-85787-948-7
Seiten ca. 224
Erschienen 5. April 2016
€ 15.99

Ein packender Roman um rätselhafte Todesfälle in besten Basler Kreisen.

Im Konstanzer Inselhotel wird der angesehene Mittelalterhistoriker Richard Merak tot aufgefunden. Er hätte den Hauptvortrag am Kongress zum 600-jährigen Jubiläum des Konzils von Konstanz halten sollen. Seine Beerdigung bringt Laura nach fünf Jahren in ihre Heimatstadt Basel zurück und zwingt sie, sich noch einmal mit ihrem früheren Leben als Meraks Ehefrau und dem selbstbezogenen Basler Patriziat auseinanderzusetzen. Dabei stösst sie auf Widersprüche zwischen der wissenschaftlichen Arbeit ihres Mannes und den Erkenntnissen seines erfolglosen Rivalen Hans Peterson, der einige Monate zuvor im Rhein ertrunken ist. Laura beginnt den Gründen für die unterschiedlichen Einschätzungen nachzuspüren und kommt bald zum Schluss, dass zwischen dem Dissens und dem Tod der beiden Historiker eine Verbindung bestehen muss. Sie verfängt sich in einem Netz von Heimlichkeiten und wird selbst zur Verdächtigen.

Pressestimmen

Raffiniert fädelt Alioth eine Geschichte ein, die zum einen in vergangene Zeiten führt, zum anderen ein scharfes Porträt der gehobenen Basler Gesellschaft zeichnet und in einen spannenden Wissenschaftskrimi mündet.
— Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt
Ein flirrend-spannendes Leseabenteuer.
— Verena Stössinger, BZ Basel