LENOS
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Lenos Verlag
Nicolas Verdan
Die Coachin
Roman
Aus dem Französischen
von Hilde Fieguth
Der Autor
Nicolas Verdan, geboren 1971 in Vevey, arbeitete viele Jahre als Jour-
nalist für 24 heures. Er veröffentlichte mehrere Romane, für die er
zahlreiche Auszeichnungen erhielt, u. a. den Publikumspreis von Ra-
dio Télévision Suisse, Le Roman des Romands und den Schillerpreis
der Schweizerischen Schillerstiftung (2012). Nicolas Verdan lebt in
Chardonne VD und in Athen.
Die Übersetzerin
Hilde Fieguth, geboren 1944 in Schwabach, lebt seit 1983 in Frei-
burg i. Ü. Langjährige Beschäftigung mit meist literaturbezogener
Malerei. Seit 2000 freie Literaturübersetzerin; sie hat vor allem Werke
von S. Corinna Bille und, zusammen mit Rolf Fieguth, von Maurice
Chappaz und Nicolas Bouvier ins Deutsche übertragen; für den Lenos
Verlag übersetzte sie zudem Jean-François Haas, Mahi Binebine,
Kaou ther Adimi und AJAR.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Struk-
turbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Titel der französischen Originalausgabe:
La Coach
Copyright © 2018 by Giuseppe Merrone Editeur, Lausanne
Vom Autor für die Übersetzung bearbeitet
Erste Auflage 2020
Copyright © der deutschen Übersetzung
2020 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: csr_ch/Pixabay
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 498 7
Die Coachin
Mein Grossvater war Postverwalter in Vevey.
Er ging 1971, im Jahr meiner Geburt, in den Ruhestand.
Ich frage mich, was er von all dem halten würde.
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Abgesehen davon, wie sehen Sie das? Diese LEDs
überall, also mir kommt es so vor, als habe die Welt
von Gelb auf Weiss geschaltet. Dabei mag ich Gelb
gar nicht besonders. Nur hat uns niemand gefragt,
was wir von dieser Veränderung halten.
Ich bin im Flow, einer Lounge-Bar, versteckt im
ersten Stock der Welle7, eines Einkaufszentrums di-
rekt beim Bahnhof Bern.
Von meinem Platz aus kann ich hinausschauen.
Graue City. Innen, wie schon gesagt: LED.
Eigentlich ist mir nicht nostalgisch zumute. Bin
nicht der Typ, der ständig sagt, früher war alles bes-
ser. Ausser bei Glühbirnen und Graffiti bin ich durch-
aus auf der Höhe der Zeit. Ich gebe zu, dass mir vor
Street-Art graut. Glauben Sie vielleicht, man fragt
uns, ob wir diese Spraydosenschmierereien mögen?
Meine Einzahlungen erledige ich nicht am Schal-
ter. Ich logge mich immer in mein E-Banking ein.
Und wenn ich auch schon seit langem keine Briefe
mehr verschicke, wird Esposito für all die Pöstler, die
er kaputtgemacht hat, bezahlen. So leicht kommt er
nicht davon.
Zunächst einmal finden Sie in der Welle7 wäh-
rend der Bürozeiten und ehe Sie nach Hause fahren –
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alles, was man braucht: Supermarkt, Klubschule Mi-
gros. Ansonsten jede Menge Fast-Food-Marken: Cha
Cha Thai, Beef Burger, Goodie. Es gibt sogar eine
Schnellrestaurantkette, die Currywurst vegan anbie-
tet.
Auf der anderen Strassenseite ist das Gebäude der
Swiss Post zu sehen.
Esposito hat diesen Treffpunkt ausgewählt. Ich
versuche herauszukriegen, warum. Natürlich kannte
ich die Adresse. Er hätte einen Tearoom oder ein klei-
nes italienisches Restaurant unter den Lauben in der
Altstadt wählen können. Wahrscheinlich nicht neu-
tral genug. Das Flow ist anonymer. Hier gibt es zwei,
drei mit scheusslichen Paravents abgeschirmte Sofas.
Nicht schlecht für ein Geschäftstreffen zwischen zwei
Zügen. Diese Alkoven stammen von den Brüdern So-
undso, weiss nicht mehr, welchen: zwei international
angesehenen französischen Designern. Ich erinnere
mich nicht an ihre Namen. Ist ja auch egal.
Noch einmal: Esposito wird teuer bezahlen.
Zu bestimmten Zeiten stösst man im Flow auf
Parlamentarierpärchen, die sich schlüpfrige Sachen
ins Ohr flüstern und dann den Zug heim zu ihrer
Familie nehmen. Ich sage das, weil ich hier einmal
einen Freund aus Kindertagen in Sierre zu erkennen
glaubte, einen Politiker, der unablässig die tradi-
tionelle Familie als Säule beschwört. Er machte ein
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verlegenes Gesicht, als ich ihm freundschaftlich zu-
winkte. Schnell hatte er die Hand der jungen Frau
ihm gegenüber losgelassen.
Vielleicht hätte ich Esposito gleich am Anfang
vorstellen sollen. Ihn kennenzulernen ist nicht schwer.
Man braucht nur seine Fotos auf dem Smartphone
durchzuscrollen: gross, angenehmes Gesicht. Er hat
noch alle Haare, und die sind kaum ergraut. Acht-
undvierzig Jahre alt. Er hat mehr als tausend Leute
unter sich. Völlig klar, Alain Esposito beherrscht das.
Auf dem Foto vom vergangenen 15. November
sieht er älter aus. Seine Frau ist mit darauf. Beide
elegant. Sie nehmen an der Fond’Action 2015 gegen
Burn-out teil.
Auf Facebook kennen die Leute keinerlei Scheu.
Esposito findest du dort auf einer Wohltätigkeitsgala
im Lausanne Palace, und am nächsten Tag siehst du
ausgewählte Momente von seinem Wochenende mit
Gattin in London. Eine Woche später ist er in Zer-
matt in seiner Wohnung. Zugegebenermassen sind
da nur wenige Bilder, die ihn mit seinen Kindern
zeigen. Nur einmal, wo er seine zwei Töchter in eine
Reithalle begleitet. Da sieht er glücklich aus. Die-
ses Foto hat er vor zehn Tagen gepostet. Ohne jeden
Kommentar. Seither nichts mehr.
Esposito dürfte bald eintreffen. In genau fünf Mi-
nuten sind wir verabredet. Wird sich zeigen, ob der
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Leiter PostNetz der Swiss Post pünktlich ist. Auf der
Website des Konzerns hat sein Werdegang Modell-
charakter. Alle Stufen hat er erklommen. In deren
Jargon liest sich sein CV wie folgt. PostMail: Leiter
Zustellung, Leiter Logistik, Leiter Business Develop-
ment ExpressPost; Informatik: Projektleiter Bau und
Liegenschaften, Chef Qualitätssicherung, Program-
mierer/Analytiker.
Esposito ist immer noch nicht da. Nicht schlimm.
Wir haben es nicht eilig. Es wird eben so lange dau-
ern, wie es dauert. Am Ende wird alles so kommen,
wie es soll. Und alles wird nach meinen Plänen ablau-
fen. Ja, denn auf meinem Gebiet bin ich sehr über-
zeugend. Die Leute, die meine Dienste in Anspruch
nehmen, treffen am Schluss immer die richtige Ent-
scheidung. Bereits nach einer oder zwei Business-
Coaching-Sitzungen finden sie ihr Selbstvertrauen
wieder. Ich spüre es, wenn sie reif sind. Dann mache
ich nicht weiter. Ich sage ihnen, es ist gut, Sie sind
bereit, all das anzupacken, was Ihnen Angst gemacht
hat, Sie sehen jetzt, dass das kein Berg war. Und da-
mit hört meine Rolle dann auf.
Nicht so bei Esposito. Bei dem werde ich nicht
aufhören, und er wird so mit Tatendrang vollgepumpt
sein, dass er am Ende ganz von selbst explodiert.
Ich stecke mein Smartphone in die Handtasche.
Wenn ich mit Klienten zusammen bin, lasse ich es
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immer verschwinden. Sie dürfen nie den Eindruck
haben, dass ich nicht vollkommen bei ihnen bin. Ich
habe schnell begriffen, dass ein Blick auf mein Tele-
fon genügt, und ihre Aufmerksamkeit ist weg.
Wo war ich? Ja, genau, Esposito wird für alle
Pöstler bezahlen.
Er wird sich umbringen.
Und ich werde ihn so weit kriegen, dass er sich
umbringt.
Neue Nachricht. Er!
Verspäte mich, tut mir leid! Personenschaden zwischen
WankdorfCity und Bahnhof Bern. Unbestimmte Verspä-
tung, wir sitzen im RE fest.
Was ist das, ein Personenschaden? Ich antworte ihm nur,
damit er dieses Wort verwendet.
Selbstmord. Fahren Sie nie mit dem Zug? Keine Ahnung,
wie lange es dauert. Sie melden eine unbestimmte Verspä-
tung.
O ja, Esposito, die Zeit, bis die Polizei kommt für das
Protokoll und bis die Gleisreinigungstruppen ihren
schmutzigen Job machen.
Verschieben wir?
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Nein, nein, Herr Leiter PostNetz, so kommst du mir
nicht davon.
Keine Sorge, ich warte auf Sie. Normalerweise dauert das
eine Dreiviertelstunde. Kommt auf die Stelle an, in der
Nähe einer Stadt dauert’s etwas länger.
Deprimierend! Sie scheinen sich ja auszukennen mit Selbst-
morden auf Bahngleisen. Gerade hiess es, dass wir in etwa
zwanzig Minuten weiterfahren.
Er ahnt nicht, wie recht er hat. Ich weiss sehr genau,
was von einem Körper zusammengeklaubt werden
kann, wenn ein Triebwagen ihn mit hundert Stun-
denkilometern überrollt hat. Danach, als es darum
ging, die Reste meines Bruders zu identifizieren, war
ich diejenige, die hingegangen ist. Meine Mutter
konnte nicht. Ständig denke ich an den Tag, an dem
sich David vor den Zug geworfen hat.
Dass sich Esposito verspätet, ist mir egal. Aber
wenn der »Personenschaden« schreibt, dann wird mir
übel. Ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht wird mir
guttun.
Ich gehe auf die Toilette. Ziehe mit Mascara den
Lidstrich nach. Atme tief ein. Erst einmal werde ich
mir einen zweiten Koffeinfreien bestellen. Der Lei-
ter PostNetz der Swiss Post darf auf keinen Fall mein
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Unwohlsein ahnen. Ich lächle mich im Spiegel an
und verlasse das WC. Komme an zwei Hostessen vor-
bei, die am Eingang zum Flow auf Posten sind.
Ich setze mich wieder an meinen Platz am Fens-
ter. Die Sonne ist hinter den strengen Bürogebäuden
ringsum verschwunden. Auf einen Schlag gehen die
Deckenleuchten an wie in einer Kaserne. Ich kann
kaum glauben, dass bald Frühling sein soll.
Manchmal habe ich den Eindruck, die Strassen se-
hen aus wie die Riesenkühlräume bei Micarna. Ich
weiss Bescheid, denn ich habe den Supply Food Ma-
nager in Courtepin gecoacht. Ein toller Metzger, der
sich nicht traute, ins Fett des Personals zu schneiden.
Ich weiss, Sie sagen jetzt, das ist ein billiges Wort-
spiel. Aber es ist einfach die Wahrheit. Drei Sitzun-
gen haben genügt, um ihm sein Selbstvertrauen wie-
derzugeben. Der Metzger von Micarna hat seinen Job
getan.
Da kommt Esposito. Mit hochgeschlagenem
Jackenkragen. Er trägt keinen Mantel. In seinem
schlechtgeschnittenen Anzug sieht er aus wie ein
Bundesbeamter. Zeichen seines Rangs bei der Swiss
Post, wo Eleganz nicht angesagt ist, selbst in der
Konzernleitung nicht. Bei diesen Gehältern müssen
sie sich nicht einmal in Schale werfen.
Er hat mich sofort hinter meinem Designparavent
entdeckt.
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»Coraline Salamin? Alain Esposito, angenehm!
Guten Abend, und entschuldigen Sie meine Verspä-
tung«, fängt er an und gibt mir die Hand.
»Ist schon gut.«
»Es ist doch unglaublich …«
Er will wieder mit diesem »Personenschaden« an-
fangen. Ich lasse ihm keine Zeit dazu.
»So was kommt vor, sprechen wir nicht mehr
darüber«, sage ich und schneide ihm das Wort ab.
»Sagen Sie, Sie sind wohl nicht besonders verfro-
ren.«
»Heute Morgen glaubte ich einen Moment, es sei
Frühling«, sagt er und schnäuzt sich. »Heute Abend
ist Winter. Was trinken Sie?«
»Grüntee«, sage ich und winke der Bedienung.
»Und was nehmen Sie?«
»Einen Espresso.«
Ich sehe, dass er mich beobachtet, er hat lebhafte
Äuglein, die wie zwei Radarantennen rotieren. Ich
spüre, er wartet darauf, dass ich ohne Übergang auf
das Thema unseres Treffens zu sprechen komme.
»Sie haben sich also entschieden. Ich danke Ihnen
für Ihr Vertrauen«, sage ich in kühlem, professionel-
lem Ton.
Esposito schaut mich an, als hätte ich gerade et-
was vollkommen Obskures gesagt.
»Ich gestehe, dass Andreas mich erst überzeugen
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musste. Zuvor hatte ich keine Notwendigkeit gese-
hen, mich an einen Coach zu wenden.«
»Ich verstehe, und wenn Sie heute Abend auf dem
Heimweg immer noch zweifeln, so wäre das nicht er-
staunlich. Erst wenn unsere Zusammenarbeit läuft,
werden Sie merken, wie recht Sie daran taten, sich
von mir helfen zu lassen.«
Esposito scheint die Gefahr zu wittern. Ich muss
ihn beruhigen.
»Es handelt sich eigentlich nicht um Hilfe
Wir werden hauptsächlich an Ihrer Leadership arbei-
ten. Ich denke mir, dass Andreas Ihnen meine Coa-
chingmethoden geschildert hat.«
»Er sagt, Sie seien die Beste.«
»Er ist ein Schmeichler. Um Sie geht es, Sie müs-
sen davon überzeugt sein.«
Er taut auf. Sein Gesicht entspannt sich. Er lächelt.
»Ich fasse zusammen: Mein Ziel ist es, Ihre Lea-
dership-Fähigkeit zu stärken. Sie haben Ressourcen,
deren Potential Sie sich nicht einmal vorstellen.«
»Das ist vage. Solange Sie jedenfalls meine genaue
Funktion in der Konzernleitung der Swiss Post nicht
verstanden haben …«
»Ich habe mich bereits informiert und Ihren CV
unter die Lupe genommen.«
»Dann wissen Sie, dass ich mich im Moment in
einer höchst exponierten Lage befinde.«
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»Sie meinen die angekündigte Restrukturierung
im Postnetz.«
»Sagen wir so, ich muss unpopuläre Entscheidun-
gen treffen.«
Ich lasse ihn reden. Mein Grüntee schmeckt nach
nichts. Nicht lange genug gezogen. Fünf Stutz die
Tasse, und die genieren sich nicht. Ohne mich dabei
noch anzuschauen, erläutert Esposito mir im Einzel-
nen die Mission der Swiss Post, die rückläufige Ent-
wicklung der Briefpost. Ich bekomme die Geschichte
vom unabwendbaren Niedergang des Briefes und der
Notwendigkeit von Automatisierung zu hören.
»Wissen Sie, um wie viel das Volumen der Briefe
seit 2000 zurückgegangen ist?«
»Nein.«
»Nun, sagen Sie eine Zahl.«
»Ich weiss nicht. Zwanzig Prozent?«
»Machen Sie Witze? Dreiundsechzig Prozent!
Bei den Paketen sind es zweiundvierzig und bei den
Einzahlungen siebenunddreissig Prozent. Da sehen
Sie …«
Abrupt unterbreche ich ihn. »Alain? Gestatten
Sie, dass ich Sie Alain nenne?«
Er stimmt zu, aber sichtlich ungern.
»In dem, was Sie mir gesagt haben, Alain, taucht
ein Wort auf, auf das wir in unserer ersten Sitzung
zurückkommen werden, heute handelt es sich ja bloss

Prix du Polar romand

Nicolas Verdan
Die Coachin

Roman

Aus dem Französischen von Hilde Fieguth


Softcover
ISBN 978-3-85787-498-7
Seiten 188
Erschienen 29. Januar 2020
€ 21.00 / Fr. 26.00

Ein bitterböser Roman noir, ein zynischer Wirtschaftsthriller.

Coraline coacht einflussreiche Führungskräfte und verdient eine Menge Geld damit. Als sich ihr Bruder, ein Angestellter der Post, nach umfangreichen Restrukturierungen des Unternehmens das Leben nimmt, fasst sie einen perfiden Plan: Sie gewinnt einen Topmanager der Post als Klienten, um ihn zu manipulieren und beruflich wie psychisch zu zerstören. Doch beim Showdown in der dreiunddreissigsten Etage des Zürcher Prime Tower wird ihre Rache überraschend zum Bumerang.

Vor dem Hintergrund einer entmenschlichten Wirtschaftswelt beschreibt Nicolas Verdan den Feldzug einer ehrgeizigen Frau. Ein zynischer Roman noir und eine Anklage an die Gewalt des Neoliberalismus.

Pressestimmen

Ein Noir-Roman, der wie seine Protagonistin ist: hart und kompromisslos.
— Hanspeter Eggenberger, Tages-Anzeiger
Nicolas Verdan klagt in seinem zynischen Wirtschaftsthriller die Gewalt des Neoliberalismus an. Was, wenn ein Mensch einfach »wegrationalisiert« wird?
— Martin Schöne, 3sat
Ein klug konstruierter Krimi, raffiniert wie seine Heldin.
— Christian Schröder, Der Tagesspiegel
Von Anfang an hat die Story Tempo, Spannung und Raffinesse – und das, obwohl hier niemand wirklich sympathisch ist.
— Jonny Rieder, Stadtmagazin In München