LENOS
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LP 207
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Lenos Verlag
Sam Jaun
Die Brandnacht
Roman
Der Autor
Sam Jaun, geboren 1935 in Wyssachen im Emmental. Er schrieb Ro-
mane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke. Sein Roman Die
Brandnacht (1986) wurde mit dem »Glauser« ausgezeichnet und mit
Bruno Ganz in der Rolle Kellers verfilmt, für den Roman Fliegender
Sommer (2000) erhielt Sam Jaun den Deutschen Krimipreis. Der Autor
starb 2018 in Bern.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Struk-
turbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Erstmals erschienen 1986
LP 207
Erste Auflage 2019
Copyright © Antoinette Jaun-Kopp
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfotos: Marco Grob / snakefilm (vorn);
Johannes Plenio / Pixabay (hinten)
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 807 7
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Er trat aus dem Wald, und plötzlich lag das Land vor
ihm, sich wölbend, Hügel um Hügel, abfallend zum
Talgrund, wieder aufsteigend zum Horizont. Die
Wiesen, grün mit bunten Sprenkeln, wo das Gras der
zweiten Mahd entgegenwuchs, hell- oder sattgrün,
wo es jeden Morgen Streifen um Streifen geschnit
-
ten wurde, und die Getreidefelder, ergilbend die
Farben bald leuchtend im Licht, bald stumpf unter
dem Wind. Die Häuser mit den roten oder grauen
Walmdächern und den hölzernen Rundbogen unter
den Giebeln, an die Hänge geduckt, in den Obstgär
-
ten lauernd. Die grauweissen Bänder der Fahrwege,
die sich von Hof zu Hof wanden. Die Sträucher und
Bäume an den Runsen entlang, deren Rinnsale zu
Tal rieselten, und die Hecken. Die hundertjährigen
Linden, einzeln auf den Kuppen. Im Tal, einer tie
-
fen Mulde zwischen den Hügeln, deren Abhänge aus
der Ferne täuschend sanft wirkten, nur der hölzerne
Turm der Kapelle sichtbar, die neben dem Dorf auf
einer Erhöhung stand. Darüber das ausgewaschene
Blau des Julihimmels. Ringsum rauschte, raschelte,
summte, zirpte und zwitscherte es. Tausend Gerü
-
che. Er ergriff den Koffer, setzte die Sonnenbrille auf,
und der Himmel wurde postkartenblau. Die Sohlen
knirschten auf der Schotterstrasse, die Schuhe über
-
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zogen sich mit weisslichem Staub, als Keller talwärts
schritt, auf Schwant zu, einen Ort, den er noch nie
gesehen hatte, aus dem aber seines Vaters Vorfahren
stammten und den deshalb das schweizerische Amts
-
deutsch als seinen Heimatort bezeichnete.
Angefangen hatte es eine Woche zuvor. Im Odéon.
Keller lümmelte in einem der Korbsessel unter der
Markise auf dem Trottoir vor seiner Stammkneipe,
die Arme auf der Brust verschränkt, die Beine, am
kleinen Marmortisch vorbei, von sich gestreckt, die
Füsse auf dem Hocker gegenüber, eine Löwe BC im
Mund. Die Fassaden der Häuser auf der andern Seite
der Bahnhofstrasse im Schatten, aber der Asphalt
fast weiss in der Sonne. Sichtbar im Gegenlicht der
Flaum auf den Waden der nackten, ausschreitenden
Mädchenbeine. Der Strassenlärm träg. Lasch die
Münder der jungen Männer, zusammengekniffen ihre
Ärsche in den weissen Jeans. Am Trottoirrand eine
tote Taube auf dem Gullydeckel. Dienstagvormittag
in Biel, der zweisprachigen Stadt am Jurasüdfuss.
Die süsse Lust, nichts zu tun, nur dazusitzen und die
Sonne an den Beinen hochwandern zu lassen. Einer
dieser Tage, an denen er die Stadt neu entdeckte: die
Fledermausgaupe auf dem Dach gegenüber, der
-
anderfries über der Fensterreihe, die rotgesprayte In-
schrift LEGALIZE HIMBEEREIS am Bordstein. Die-
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ses verdammte Provinzkaff. Achtunddreissig Jahre
seines Lebens hatte es gefressen. Er sehnte sich nach
einer andern Stadt, und doch konnte er sich keine
vorstellen, in der er es ausgehalten hätte. Die Sonne
hatte die Knie erreicht. Er blies den Rauch der Zi
-
garre auf die schwarzen Kordjeansbeine, um die Flie-
gen zu vertreiben, warf einen Blick ins Halbdunkel
der Kneipe und sagte zum Schatten des Kellners hin
-
ter ihm: »Noch einen Kaffee, Piccolo.«
»Un moyen liquide«, rief Piccolo zur Theke,
und in diesem Augenblick fiel Keller der Brief des
Amtsgerichts ein, der im Briefkasten gelegen hatte
und jetzt in der Tasche seiner schwarzen Lederjacke
steckte. Er zog den Umschlag heraus und riss ihn auf.
Zwei Briefe. Der eine maschinengeschrieben, amt
-
lich.
Sehr geehrter Herr Keller,
im Auftrag des zuständigen Untersuchungsrichters,
Herrn Gerichtspräsident L. Meier, übermittle ich Ih
-
nen den beiliegenden Brief des Untersuchungsgefangenen
O. Balsiger. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich in
dieser Angelegenheit mit uns in Verbindung setzen wür
-
den.
Mit vorzüglicher Hochachtung
der Gerichtsschreiber:
Pius Imhof
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Der andere handgeschrieben: ungelenk hingemalte
Buchstaben auf liniertem weissem Papier. Geehrter
Herr Oberleutnant! Kellers Finger krallten sich ins
Papier. Oberleutnant. Damit war er gemeint. Nein,
ein anderer, ein Keller, den es nicht mehr gab, ein
Fremder mit glatter Stirn, Vollbart und lachberei
-
tem Mund: Milizoffizier der Grenadiere, Spezialist
des waffenlosen Kampfes und Teilzeitinstruktor an
der Berner Polizeirekrutenschule; Kunstmaler und
linker Sozialdemokrat Widersprüche, die ihn
nicht gekümmert hatten, damals. Das Leben rei
-
ten wie ein wildes Pferd, wie oft war diese gross-
sprecherische Wortblase an den Kneipentischen aus
seinem Mund gequollen. Piccolo brachte den Kaf
-
fee. Keller liess sich vom ersten Schluck die Zunge
verbrennen.
Geehrter Herr Oberleutnant!
Herr Meier Gerichtspräsident sagt er wird mir ein Für
-
sprech geben wenn ich Keine weiss. Aber zuerst will ich
Euch fragen. Im Rüti-WK habt Ihr mir auch gehol
-
fen. Wisst Ihr noch? Leider ist das mein Letzter gewe-
sen weil dann diese Sache passiert ist. Und jetzt wider.
Damals hat mir der Fürsprech gesagt ich soll sagen ich
bin es gewesen. Aber dann haben sie mich eingesperrt.
Jetzt soll ich wider sagen ich bin es gewesen und ich will
nicht. Ich bin wider nicht nüchtern gewesen das stimmt.
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Aber der Evi habe ich nichts getan. In Erwartung Eurer
geschätzten Antwort zeichnet
Hochachtungsvoll
Otto Balsiger
Grenadier Balsiger, die Dienstmütze im Genick, den
Flammenwerfer auf den Rücken schwingend, als sei
er ein Picknickrucksack, ein untersetzter Emmenta
-
ler, der Sündenbock für alles, was schieflief. Keiner
der Zugführer hatte ihn in seinem Zug haben wollen,
ausser Keller, und Balsiger hatte ihm das gelohnt,
mit hündischer Anhänglichkeit. Keine Ahnung, wo
-
mit er ihm damals geholfen hatte, aber an den Wie-
derholungskurs vor sieben Jahren in Rüti erinnerte er
sich. Es war der letzte gewesen, den er beendet hatte.
In dem im Jahr darauf war er in die Psychiatrische
Klinik Wallner in Seebach eingeliefert worden. Ir
-
gendwann war er wieder herausgekommen, ausge-
mustert aus der Armee, ohne Lehrauftrag an der Po-
lizeirekrutenschule, unfähig zu malen. Irgendwann
hatte er entdeckt, dass er noch am Leben war, ein an
-
derer Peter Keller, der seinem neuen, schäbigen Beruf
nachging. Er steckte die Briefe in die Jackentasche
zurück und schrie: »Piccolo! Piccolo!«
»Qu’est-ce qu’il y a, Pierre?«, fragte dieser er
-
staunt hinter ihm.
»Eine Flasche Aigle. In der Ecke hinten.« Keller
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setzte sich auf die mit Stoff bezogene Bank in der
Nische neben dem Hintereingang, der dunkelsten
im Odéon. Piccolo brachte den Eiskübel mit dem
Weisswein, öffnete die Flasche, liess Keller kosten,
schenkte das Glas voll, die Gesten präzis, das schmale
Gesicht in der Maske des Berufs, und doch schim
-
merte etwas durch: Mitleid oder Verachtung. Keller
setzte die Sonnenbrille vor die Augen und horchte
in sich hinein. In den nächsten Stunden würde er
bei den Gespenstern seiner Vergangenheit hausen.
Er trank ihnen zu. »Wie der Mann ohne Schatten«,
sagte er zum Ebenbild, das ihn im grossen Wandspie
-
gel nachäffte.
Doktor Jonathan Schwartz betrachtete verliebt die
zitternde bernsteinfarbene Flüssigkeit im Glas, das
er zwischen Daumen und Zeigefinger in Augenhöhe
hielt, netzte die Oberlippe im Schnaps, leckte, kos
-
tete, schluckte, schmatzte und sagte: »Armagnac!«
»Ich ziehe Wein vorKeller goss Yvorne nach, hob
die Dreideziliterkaraffe beim Einschenken in einer
fliessenden Bewegung hoch, damit auf der Oberfläche
im Glas der knisternde Weissweinstern entstand, und
kam sich albern vor, als ihm bewusst wurde, dass er
Schwartz’ geniesserisches Gehabe nachahmte. Dieser
sass ihm im Restaurant du Théâtre gegenüber, den
Gottfried-Keller-Bart gesträubt, die gelbe Lederjacke
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über die Rückenlehne des Jugendstilsessels gehängt,
die in Bluejeans steckenden Beine von sich gestreckt.
Mittwochnachmittag. »Dass du noch immer Stamm
-
gast bist in dieser …« Keller fiel keine Metapher ein.
»… in diesem Mausoleum patrizischer berni
-
scher Grösse?«, vollendete Schwartz den Satz. »Die
Schwartz sind Bernburger. Seit zwei Jahrhunderten.
Ich sehe keinen Grund, das Du Théâtre aufzuge
-
ben. Zudem ärgert es meine ehemaligen Freunde.«
Er warf Keller über den Rand der Nickelbrille einen
misstrauischen Blick zu. »Was willst du?«
»Einen Anwalt.«
»Was hast du denn ausgefressen?«
»Nicht ich. Hier. Lies.« Keller zog den Umschlag
des Amtsgerichts aus der Jackentasche.
»Noch einen Armagnac, Georg«, rief Schwartz
so laut, dass die Köpfe der vier weisshaarigen, Ku
-
chen kauenden Bernburgerinnen am Nachbartisch
herumfuhren. Die zerknitterte Haut an ihren Hälsen
schien zu rascheln. Keller zündete eine Löwe BC an
und blies den Rauch zu ihnen hinüber; er leuchtete
im Sonnenstrahl, der auf das weisse, mit Krümeln
übersäte Tischtuch fiel. Das Gefühl, bittersüss, leben
zu wollen. Schwartz legte die Briefe ab, schnüffelte
und nippte am zweiten Armagnac, den der Kellner
gebracht hatte. »Du hast mit dem Untersuchungs
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richter gesprochen?«
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»Ich habe mit dem Gerichtsschreiber telefoniert.
Man wird Balsiger unter Anklage stellen. Er soll eine
Frau umgebracht haben. Als der Untersuchungs
-
richter ihm mitgeteilt habe, er solle einen Anwalt
nehmen, sonst werde ihm einer zugewiesen, habe er
gesagt, das wolle er mit mir besprechen, und diesen
Brief geschrieben.«
»Und deshalb willst du ihm zu einem Anwalt
verhelfen?«
»Nein. Weil ich fünfzehntausend Franken habe,
die mir nicht gehören.«
Schwartz spitzte die Lippen und sog den letzten
Tropfen Armagnac aus dem Glas. »Wie bist du zu
dem Geld gekommen?«
»Als ich im Februar aus Portugal zurückkehrte,
wurde ich in etwas hineingezogen. Erpressung,
Raub, Mord. Eine seltsame Geschichte, an deren
Ende ich mich mit fünfzehn Tausendfrankenschei
-
nen wiederfand, die niemandem gehören und die ich
nicht will.«
»Gib sie dem Roten Kreuz.«
»Nein. Sie sollen dazu dienen, jemanden zu ver
-
teidigen, der des Mordes angeklagt ist. Jemanden wie
Balsiger. Das ist die angemessene Verwendung für
dieses Geld.«
Schwartz, die Ellbogen auf den Tisch gestützt,
das Kinn auf den Daumen der verschränkten Hände,
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musterte Keller. »Es ist dir gelungen. Ich bin inter-
essiert. Nicht an Balsiger. An deiner Geschichte.«
»Nein.«
»Also gut.« Schwartz grinste. »Ich übernehme
Balsigers Verteidigung, vorausgesetzt, er ist damit
einverstanden. Erzähl jetzt.«
Keller seufzte erleichtert, bestellte einen weiteren
Armagnac für Schwartz, eine zweite Karaffe Yvorne
für sich und erzählte von Pfarrer Gottfried Balmer,
der sich mit der Mörderin Barbara verlobt hatte.
Keller stand, mit dem Rücken an die Wand gelehnt,
und fragte sich, wie das Licht beschaffen war. Stumpf,
verendet, bevor es durch die vergitterten Fenster fiel.
Er zündete eine Löwe BC an, rauchte einige Züge,
liess den Stumpen zwischen den Lippen hängen
und ausgehen. Der Geruch der erloschenen Zigarre
gesellte sich zu dem des Raums, und der roch nach
Krankenhaus. Allmählich schwand der Drang, die
Tür aufzureissen und wegzurennen; er verfiel der At
-
mosphäre des Gebäudes. Am Metalltisch, auf einem
der vier gelblackierten Holzstühle, hüstelte Schwartz
und blätterte in irgendwelchen Papieren. Draussen
das dumpfe Dröhnen des Verkehrs. Donnerstagvor
-
mittag.
Schwartz zog ein gelb-schwarz kariertes Taschen
-
tuch hervor, nahm die Brille ab, putzte sie, setzte
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sie wieder auf, schloss den Aktenkoffer auf seinem
Schoss, legte die Hände gefaltet auf den Deckel
und inspizierte die Nagelränder der aufgerichteten
Daumen. Keller drehte den Stumpen zwischen den
Fingern hin und her, gab vor, in den Anblick der
erloschenen Zigarre versunken zu sein, und suchte
nach den Worten, die das Schweigen zwischen ihnen
brechen würden. Sie fielen ihm nicht ein. Endlich
ging die Tür auf. Eine schwarze Uniform. Der Kan
-
tonspolizist, das Gesicht so steif wie das Dienstkäppi,
schob Balsiger ins Zimmer. Der blieb stehen, schaute
unsicher vom Mann auf dem Stuhl zu dem an der
Wand, erkannte Keller und richtete sich mit einem
Ruck auf. »Herr Oberleutnant! Ich hab’s gewusst. Sie
lassen mich nicht im Stich.«
Dieser Klotz von einem Kopf, die Strähnen des
kurzen braunen Haars in der Stirn, die zwei Schweiss-
tropfen über der Nasenwurzel, die helle Narbe über
der linken Braue, der ganze ungeschlachte Mann vor
ihm ein Bild aus der Vergangenheit: Es roch nach
Gewehrfett, Lederzeug und Schweiss, nach dem Blü
-
tenstaub im Wind, der die Wolken zerfetzte, die
scheckigen Uniformen krochen wie Riesenmaden
über die Sumpfwiese, die Sturmgewehre schepperten,
die Bereitmeldungen rumpelten in emmentalisch ge
-
färbtem Schriftdeutsch, eine nach der andern, in den
Frühlingsmorgen, während Keller auf dem Hügel

Sam Jaun
Die Brandnacht

Roman

E-Book
ISBN 978-3-85787-975-3
Seiten ca. 284
Erschienen 5. September 2019
€ 13.99

Wiederentdeckt: ein Klassiker der Schweizer Kriminalliteratur in der Tradition von Glauser und Dürrenmatt

Der Privatdetektiv Peter Keller kehrt nach vielen Jahren in sein Heimatdorf Schwant im ländlichen Emmental zurück. Er ermittelt im Mordfall einer jungen Frau. Beschuldigt wird Otto Balsiger, ein treuergebener Soldat aus Kellers Dienstzeit als Oberleutnant. Keller ist von dessen Unschuld überzeugt und will den wahren Täter finden. Je tiefer er in das Netz von Klüngel und Intrigen eindringt, desto deutlicher zeigen sich Risse in der vermeintlichen Dorfidylle. Keller merkt bald, dass er in einem stinkenden Misthaufen herumstochert, und während er die Wege des Geldes und der Macht im Dorf aufdeckt, kommt er der einflussreichen Sekte der Amositer in die Quere und gerät zunehmend selbst in Gefahr.

Pressestimmen

Sam Jauns Kriminalromane bestechen durch den virtuosen Gebrauch der Sprache und die literarisch beziehungsreich gestalteten Plots, die zugleich auch stets ein facettenreiches Bild der Schweiz entwerfen.
— Lexikon der deutschen Krimi-Autoren